Musikjournalismus im Netz: Krass ist online, zart ist Print

Nr. 48 –

Das Schreiben über Musik im Internet bietet für AutorInnen, LeserInnen und Verlage neue Perspektiven und Hörvergnügen, mindestens wenn das Problem mit dem Geld gelöst ist.

Das Internet taugt für Wunderdinge und ihr Gegenteil. Wenn die Frage lautet: Web 2.0 - die neue Bühne für den Jazz? Dann heisst die Antwort: Ja und Nein. Es geht um Musikjournalismus. Ist er anders, besser als der auf Papier gedruckte?

Das Gute zuerst: Das Netz ist schnell, überall; die Informationen sausen um den Erdball, sie zu gestalten und zu verteilen kostet - verglichen mit Druck und Porto - fast nichts. Zudem lassen sich nicht nur Texte einspeisen; auch Töne. Über Musik lesen, dabei diese Musik hören, wie schön ist das!

Und wenn vom Jazz die Rede ist: eine notorisch unterfinanzierte Musik; selbst seine Stars waren mal arm, manche sind es noch. Für jede Platte des Genres, und sei sie noch so verschroben, gibt es ein Publikum; es ist klein, weltweit und nun im Nullkommanichts zu erreichen. Was will man mehr? Jazzfans, bestellt die Zeitungen ab, guckt in eure Computer! Ganz so einfach ist es leider nicht. Oder zum Glück (das muss sich noch herausstellen).

Die CD als Lohn

Also jetzt das Schlechte: Im Netzjournalismus wird zum krassen Mangel, was im Print noch zarter Nachteil ist. Kritiker ist kein einträglicher Beruf. Manch einem Schreiber, mancher Schreiberin bleibt als Lohn nur die besprochene CD. Entsprechend dürftig ist das Niveau vieler gedruckter Texte über Musik. Wenn sich jemand Zeit nimmt, recherchiert, nachdenkt, formuliert, dann in vielen Fällen nicht, weil er dafür bezahlt würde, sondern aus Leidenschaft oder Sendungsbewusstsein. Die Lesenden müssen das schätzen oder ertragen.

Leidenschaft heisst: Hier schreiben Fans. Die Musik ist so toll, sie muss unter die Leute, wir besorgen das und dürfen dafür unseren Idolen nahe sein. Differenzierte Auseinandersetzung mit dem Werk gibt es kaum, es herrscht Heldenverehrung. Die Fans leben aus der Gemeinschaft, für die Gemeinschaft der Hörigen.

Sendungsbewusstsein heisst: Ich bin Kritikerpapst. Ich weiss, was der Untergrund hört, denn ich bin der Untergrund. Und wäre ich nicht Musikjournalist, wäre ich Revolutionär (denn das Gesellschaftssystem ist so verkommen wie der Popbetrieb). Oder wenigstens hätte ich einen Plattenladen mit amtlichen Scheiben, die ich aber nur Leuten verkaufe, die Soziologie studiert haben. Keine Perlen vor die Säue!

Nichts findet der Kritikerpapst so peinlich wie den Publikumserfolg. Hat er mal eine Sache hochgeschrieben, muss er sie wieder runterschreiben oder erwähnt sie am besten gar nicht mehr. Sein liebster Seinszustand ist das Verkanntwerden. Nur einsam ist er stark.

Das war beides schon immer so, Fantum wie Papsttum, im Pop und Rock gewiss mehr als im Jazz. Aber online ist die Schwelle niedriger, sich zu äussern. Online kann jeder. Man muss nicht mal bei einer Zeitung sein, um seinen Senf dazuzugeben; man kann ja auch bloggen. Harry Rowohlt hat einst von Meinungen, Deinungen, Seinungen gesprochen; sie alle gedeihen im Netz.

Online ohne Grenzen

Das Teure an der Herstellung und Distribution einer Zeitung hat im Rahmen einer traditionellen Mischkalkulation im Laufe der Jahrhunderte auf den Journalismus abgefärbt. Da Gedrucktes (meistens) verkauft und nicht verschenkt wird, haben die Texte ihren Preis. Und weil sie das Blatt etwas kosten, darf die Redaktion von Autor und Autorin auch etwas verlangen. Gar kein so übles System.

Man kennt es aus der Plattenbranche: Alle wollen die neuen heissen Alben hören, Demotapes will niemand. Der völlig undemokratisch zustande gekommene Plattenvertrag erhöht für die Kaufenden die Chance auf Qualität. Die Energie, die es braucht, Hürden zu überwinden, wird hörbar.

Zeitungen haben überdies begrenzten Platz: Auch der Zwang zur Auswahl hebt das Niveau. Das Beste am Blatt ist, dass vieles ungedruckt bleibt. Online kennt keine Beschränkungen. Länge ist kein Problem, Menge ist kein Problem. Ganz so einfach ist es zum Glück nicht. Oder leider (das muss sich noch herausstellen). Denn wenn der gedruckte Musikjournalismus dem im Internet überlegen ist, weil er einen Preis hat, professioneller ist und so weiter, warum sind dann viele Printfeuilletons so schlecht in Musik?

Aus zwei Gründen, vermute ich. Zum einen sind Feuilletonredaktionen, die eigentlich die innovativsten, aufgewecktesten Abteilungen der Zeitungshäuser sein sollten, oft in Selbstvergewisserung erstarrt. In einer Schwadronier- und Von-allem-zu-viel-Gesellschaft ziehen sie die Zugbrücke hoch, damit wenigstens bei ihnen im Elfenbeinturm alles beim Alten bleibt. Es wird im Jazz seit Jahrzehnten jeder Pups von Keith Jarrett besprochen, aber wer William Parker ist, weiss jahrzehntelang niemand. Ruhet sanft!

Der zweite Grund liegt im Zwang zur Optimierung. Weil Zeitung (meistens) kostet, soll sie sich möglichst gut verkaufen. Also muss sie Themen bringen, die allen gefallen. Das Gedruckte folgt mehr und mehr dem Gesendeten. Von der Einschaltquote zur Einfaltquote. Das redaktionelle Programm wird eher an Bestsellerlisten und Leserumfragen ausgerichtet als an den persönlichen Einfällen kenntnisreicher Redaktoren und Redaktorinnen. So kommt es, dass viele Blätter zur selben Zeit die gleichen Themen beackern. Treibt man die Einfalt auf die Spitze, verliert man jedes journalistische Profil. Ob man aber Lesende gewinnt? Wer sehnt sich nach dem hundertsten Bericht über die zugedröhnte Amy Winehouse, die verwaiste Britney Spears oder die Pianistin, die mit den Wölfen spielt?

Journalistische PR-Agenturen

Längst werden Massenthemen von PR-Agenturen artikelgerecht inszeniert; wer da als Journalist mitmacht, hat seinen Job eigentlich verfehlt. Aber, man sehe sich um: Die Wirklichkeit ist ernüchternd.

Und hier kommt nun online wieder ins Spiel. Neues Medium, neues Glück. Hier steht nichts fest, hier ist alles im Fluss. Online kann neugieriger und offener sein als jedes gedruckte Feuilleton. Jazz, Rock, Pop sind heute so vielgestaltig wie nie; bald gibt es mehr Musik als Hörende, weil die Leute kaum noch durchblicken. Was aber sollen sie sich auf ihre iPods laden? Die 300 Hits aus der Rotation mag man doch schon im Radio nicht mehr hören.

Apropos Radio: Es hat seine angestammte Rolle, über neue Musik zu informieren, längst aufgegeben. Netzjournalismus kann auch - über das Klangbeispiel - klassische Radioaufgaben übernehmen.

Vielfalt statt Einfalt, Offenheit statt Abschottung, Fotoreportage und Erzählung statt immer bloss Rezension, Hören statt nur Lesen - das wäre im Kern die Idee von www.zeit.de/musik, dem täglich ergänzten musikjournalistischen Angebot der Hamburger Wochenzeitung «Die Zeit», um an dieser Stelle mal etwas Eigenwerbung zu betreiben.

Am Anfang gab es bei uns im Hause Skepsis, weil wir nicht das reproduzierten, was alle Grossen im Netz machen, von «Spiegel Online» bis «sueddeutsche.de». Sie ist gewichen. Die monatlichen Seitenaufrufe kletterten von gut 5000 auf über eine Million.

Ein Wunderding! - wie eingangs gesagt. Deshalb noch das Gegenteil hinterhergeschoben. Der limitierende Faktor im Netz ist das Geld. Man kann die tollsten Sachen machen, aber nicht umsonst. Sollten journalistische Portale, die mit bezahltem Personal arbeiten, nicht irgendwann Gewinne erzeugen, zum Beispiel durch geschaltete Werbung oder ein Nutzungsentgelt, dann haben sie keine Zukunft. Diese Basis zu schaffen, ist allerdings keine journalistische Aufgabe, sondern eine der Verlage.

Das Geld, das Geld, das Geld! Aber ich will Sie nicht langweilen.


Ulrich Stock, 49, entwickelt seit zwei Jahren für «Die Zeit» das musikjournalistische Portal www.zeit.de/musik. Sein Text ist ein Remix des Vortrags, den er im Mai 2007 in Schaffhausen im Rahmen der Jazzgespräche hielt.