Tsunami-Bilder: Der Tourismus des Blicks

Nr. 2 –

In der Berichterstattung über die Katastrophe in Südostasien haben die Feuilletons jede medienkritische Analyse suspendiert. Warum?

Am 29. Dezember 2004 rückte die britische Tageszeitung «The Guardian» ein besonders drastisches Foto auf seine Titelseite. Es zeigt den Hof des Militärkrankenhauses von Banda Aceh im Norden Sumatras, wo unmittelbar nach der Tsunami-Katastrophe hunderte von aufgedunsenen Leichen ausgebreitet in der tropischen Sonne lagen. Notdürftig bedeckt mit bunten Tüchern, Laken, Decken, Kleidungsstücken, warteten die Kadaver darauf, identifiziert und beerdigt oder unidentifiziert verscharrt zu werden.

Es war ein Gräuelbild, wie es sich die meisten Zeitungen, zumal liberale Intelligenzblätter, eigentlich nicht zu drucken trauen. Immerhin, die Drastik verfolgte ein aufklärerisches Ziel. «The true horror emerges», lautete die dazugehörige Schlagzeile, das wahre Grauen taucht auf. Das Schockfoto hatte demnach die Funktion, die apokalyptische Dimension der Katastrophe zu beglaubigen - den Bildern von Überschwemmung und Verwüstung das Bild der Toten hinzuzufügen.

Durch eine Koinzidenz der Ereignisse ergab es sich, dass auf der gleichen Seite des «Guardian» in der Dachzeile das Foto der am 28. Dezember 2004 verstorbenen Susan Sontag zu sehen war (vergleiche den Nachruf auf Susan Sontag von Lotta Suter in der WOZ vom 6. Januar 2005), und es schien, als würde die Kritikerin auch posthum über den Bildgebrauch der Zeitung wachen. Denn Sontags letztes Buch, «Das Leiden anderer betrachten», von 2003 handelte eben von den Funktionen und Effekten solcher Bilder, die zu zeigen immer wieder Fragen von Mittel und Zweck, Pietät und Pornografie aufwerfen. Hatte sie lange Zeit abgestritten, dass Fotos wie dieses zu etwas anderem führen könnten als zu Passivität und Abstumpfung, forderte Sontag nun dazu auf, sich von den Bildern, auf denen Grausamkeiten und Verbrechen festgehalten sind, «heimsuchen» zu lassen. Nur diese Bereitschaft, sich den Bildern auszusetzen, statt sich ihnen zu verweigern, ermögliche letztlich, die «Rationalisierungen für massenhaftes Leiden, die von den etablierten Mächten angeboten werden, kritisch zu prüfen».

Sontags Buch handelt in erster Linie von Kriegsfotografien, die immer auch dokumentieren, was Menschen anderen Menschen anzutun in der Lage sind. Die Kritik, die sich an diesen Bildern und an dem auf ihnen Gezeigten üben lässt, beschäftigt sich mit Politik und Ökonomie, mit Verantwortung und Psychologie, mit Ursachenforschung und Rechtsverfolgung. Also im weitesten Sinn mit dem, was innerhalb der Grenzen der von Menschen ausgeübten Gewalt geschehen und geahndet werden kann.

Angesichts der Tsunami-Katastrophe wird jetzt vielerorts die Natur als das schlechthin von Menschen Unkontrollierbare beschworen. Alles, was sich im Indischen Ozean an Grausamem und Grauenhaftem ereignet habe und ereignet, entziehe sich den üblichen Parametern von Kritik und Interpretation. Jürgen Kaube spricht in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vom «Gefühl, sich in einer Lage elementarer Ratlosigkeit ohne Diskursbedarf und zuhandenen Sündenbock zu befinden». Überall hört und liest man, man habe gerade mal genug von den geschmäcklerischen Beschwerden über die triefenden Spendengalas und über die schleimigen Beckmann-Kerner-Flutopferrunden. Auch die politischen und sonstigen Interessen in der Hilfekonkurrenz der Industrienationen seien jetzt fürs Erste irrelevant. Stattdessen würden die Natur und ihre einzigartige planetarische Gewalt auf kollektives Mundhalten und Spenden verpflichten. Höchstens der Weg des Geldes zu den Opfern dürfe thematisiert werden. Oder Fragen der Art, ob es am Ende nicht überhaupt zu viel und ausserdem die Hilfeleistungen schlecht koordiniert seien.

Allenthalben verspürt man also den Überdruss an der üblichen Feuilleton-Behandlung der Katastrophe. Das ist in gewisser Weise verständlich, denn die Mechanismen des Bilderexperten- und Medienkritikertums erscheinen inzwischen abgedroschen und vorhersehbar. Selbst auf Trash-Sendern wie «SAT 1» wird in nächtlichen Magazinformaten über die Produktionsbedingungen von Amateurvideos und die Konstruktion von Authentizität räsoniert, als befände man sich im medientheoretischen Proseminar.

Hatten die Kriege und Terroranschläge der letzten Jahre zu einer steten Steigerung der historischen Einordnungen, kulturellen Kontextualisierungen und medienanalytischen Exegesen insbesondere auf den Kulturseiten der Zeitungen und Magazine geführt, so schweigt man sich augenblicklich auffällig aus. Wenig wird veröffentlicht, was bei der Einordnung der «Bilderflut» infolge der Flutwelle behilflich sein soll. Zwar wird etwa auf die gestiegene Bedeutung von Weblogs für die Berichterstattung hingewiesen; die Tatsache, dass wegen der Verbreitung von digitalen Aufzeichnungs- und Kommunikationsmedien wie Mobiltelefonen und Digitalkameras jeder Tourist «zum potentiellen Katastrophenreporter» («Der Spiegel») werden konnte, findet Erwähnung; ebenso der Nexus von Bildermacht und Spendenbereitschaft, den die «Deutsche Welle», und nicht nur die, bemerkt hat.

Aber die grossen interpretatorischen Bögen verkneift man sich. Die Flutwelle wurde gar zur Gelegenheit, das bisherige «Klugschreibertum» (FAZ) im Kriegs- oder Katastrophenfall zu geisseln. Analyse und Kritik wurden suspendiert, weil die Natur sich als Übel gezeigt habe, das ausschliesslich pragmatisches Krisenmanagement erforderlich mache, nicht aber die zu «unsachgemässen Nebengesichtspunkten» abgesunkene «Politik und Wirtschaft, Kultur- und Zivilisationskritik», wie erwähnter Kaube in der FAZ schreibt.

An dieser Argumentation ist einiges merkwürdig. «Kulturkritik» hat zu weichen, weil der Tsunami nichts weniger als eine «gemeinsame Sache» der Menschheit sei? Ausgerechnet im Feuilleton, also dort, wo in den letzten Jahren neben reichlich wohlgefeilter Bildungskost und abstauberhafter Denkroutine auch eine durchaus vorwärts weisende Praxis der Bildkritik entwickelt worden ist, soll jetzt Schluss sein mit dem «Diskurs»? Aus Mangel an «Bedarf»? Weil an der Katastrophe zwischen Indonesien und Somalia so viel Natur, aber so wenig Mensch schuld sei?

Der hier zugrunde liegende substanzialisierende Begriff von Natur, der sich auch im momentanen Revival des Bildes des «blauen Planeten» niederschlägt, wird aufgeboten, um eine postkritische, postdiskursive Ära einzuläuten. Was aber macht man mit den Kommunikationen in und über die Krise? Soll man sie ebenso als Natur, falls nötig als zweite, betrachten? Oder stehen die Bilder in einem anderen Zusammenhang zum zerstörerischen Wirken der Natur?

Am Ende ihres Buches «Über Fotografie» forderte Susan Sontag 1977 eine «Ökologie der Bilder». Sie meinte damit einen bewussten Gebrauch und Verbrauch der Bilder, die «realer sind, als irgendjemand hätte ahnen können» - weshalb man sie schützen müsse wie die äussere Realität.

Der Kulturwissenschaftler Andrew Ross war unzufrieden mit Sontags idealistischem Kulturpessimismus in «Über Fotografie», der in der massenhaften Produktion und Konsumtion der Bilder eine «Abnutzung» der Realität befürchtet. Aber Ross interessierte die Vorstellung einer Ökologie der Bilder, also der Zusammenhang zwischen den materiellen Folgen der Bilderindustrie und den Bildern einer zerstörten oder zerstörerischen Natur. Kurz nach dem Golfkrieg von 1991 verwies er dabei unter anderem auf die entmaterialisierenden Effekte technischer Bilder. Wie der militärische Einsatz optischer Medien zeige, könne die bildgestützte Derealisierung sehr konkret zur Zerstörung der Realität, der Natur beitragen.

Sontag hat den modernen Bilderkonsum auch als «touristisches» Verhältnis zur Wirklichkeit kritisiert. In diesem Tourismus des Blicks artikuliere sich die eigentliche Wirklichkeit der Bilder. Ross warf dieser Kritik am touristischen Bilderkonsum und der sprichwörtlichen Bilderflut ihren Mangel an Selbstreflexivität vor. Denn sie würde nicht erkennen, wie privilegiert die Position ist, von der aus eine solche Kritik erst formuliert werden kann. Sontag hat diesen Einwand in ihrem letzten Essay selbst berücksichtigt. Nicht die Quantität der Bilder ist das Problem, sondern das Erhalten der Fähigkeit, die Bilder weiterhin zu kritisieren.

Man muss dem Argument der neuen Feuilletonisierungsgegner in den Feuilletons entgegenhalten: Gerade die Bilder der Flut machen eine gewissenhafte Beschreibung und Kritik der Flut der Bilder zwingend. Es ist blanker Hochmut, in den Redaktionen der westlichen Medien herauszudekretieren, das reale Leiden und Mitleiden mache die Beschäftigung mit jener kulturellen Realität der globalen Bilderindustrie überflüssig, die durch das Leid hervorgebracht wird, in der es sich aber auch ereignet.

Es ist beispielsweise keineswegs nebensächlich, dass die Farbaufnahme des «Guardian» aus dem aktuellen Angebot des Agenturenpools «STR/AFP/ Getty Images» auf den Monitor der Bildredaktion der britischen Tageszeitung geladen und dann ins Layout eingefügt wurde. An dieser Information hängt, wenn nicht das Wissen, so doch die Ahnung von der Vernetztheit der Welt mit der Bilderwelt, von globalen Kommunikations- und Copyrightverhältnissen, von Kontrollen über Zugänge und Anschlüsse. Auch dass der Fotograf darauf geachtet hat, dass kein Gesicht zu erkennen ist, bevor er den Sendebefehl des E-Mail-Programms in seinem Laptop betätigte, ist durchaus relevant. So fehlt den verwesenden Körpern auf diesem fotoförmigen digitalen Datensatz jede personale Identität. Nach Tagen der kontinuierlichen Berichterstattung hatte die globale Öffentlichkeit nicht nur viel über die Verschiebung von Kontinentalplatten und die Entstehung von Flutwellen erfahren, sondern war auch mit Informationen aus den Bereichen der Pathologie und Forensik grundversorgt worden. Zu diesem Zeitpunkt, am dritten Tag nach der Flutwelle, handelte das Bild der anonymen Leichen von Banda Aceh nicht von Schicksalen, sondern von Leichengift und Seuchengefahr. Zumal auf dem Hof des dortigen Hospitals ganz offensichtlich keine jener Kühlbehälter zur Verfügung standen, die in leichter zugänglichen Regionen des Seebebengebiets insbesondere die Leichen westlicher Touristen vor dem schnellen Zerfall schützen sollten.

So wird die Klassenarchitektur der Weltverhältnisse sichtbar, die in der Katastrophe stabil bleibt. Und diese Klassenarchitektur, wie sie sich auch und gerade im touristischen Verhältnis der Fernreisenden zu den dienstbaren Menschen und paradiesischen Landschaften der Tsunami-Region zeigt, ist keinesfalls Natur. Genauso wenig wie die globale klassenlose Gemeinschaft, die viele sich in der Katastrophe abzeichnen sehen, nicht das Werk der Natur, sondern eines komplexen Zusammenspiels von ökologischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Prozessen wäre.