Entwicklungszusammenarbeit: Der Tsunami des Mitleids
Nach der Flutkatastrophe von 2004 wurden Rekordsummen gespendet. Doch das hat nicht geholfen, die Distanz zwischen SpenderInnen und Opfern zu überwinden – im Gegenteil.
Die globale Hilfsbereitschaft, die den Betroffenen nach der Flutkatastrophe in Südostasien im Dezember 2004 zuteilwurde, war in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Nie zuvor war auch nur annähernd so viel für Notleidende gespendet worden. Doch obwohl beinahe unbeschränkte Mittel zur Verfügung standen, konnte den Menschen in den verwüsteten Gebieten nicht auf befriedigende Weise geholfen werden. Diese beiden Tatsachen hängen zusammen, sie haben ihren Grund in einem fragwürdigen System der Hilfe, das einer «Mitleidsökonomie» folgt.
Wenige Tage nach dem Tsunami schrieb der Theologe Eugen Biser im «Rheinischen Merkur»: «Die erstaunliche Sensibilisierung für die Not in den Katastrophengebieten geht (...) mit einer befremdlichen Indifferenz gegenüber den Vorgängen im Nahen Osten und in den Hungergebieten Afrikas einher.» Warum haben die Menschen in den wohlhabenden Gesellschaften so viel für die Opfer der Flut in Südostasien gespendet, gaben aber viel weniger Geld, um Flüchtlinge im Sudan vor dem Hungertod zu retten? Warum spendeten so wenige für die Opfer des Erdbebens in Pakistan, das im Oktober 2005 mehrere Hunderttausend Menschen obdachlos machte? Allgemein gefragt: Wie verteilt die westliche Gesellschaft ihr Mitleid – und damit auch ihre Spendengelder?
In den Nachwehen der Flutkatastrophe wurden verschiedene Gründe für die grosse Spendenfreudigkeit diskutiert: Erstens wurde der Tsunami als «reine» Naturgewalt wahrgenommen, für die niemand verantwortlich gemacht werden konnte (ausser Gott oder eine aus dem Gleichgewicht geratene Natur). Menschengemachte Katastrophen, zum Beispiel der Bürgerkrieg im Sudan, der zeitgleich stattfand, scheinen die Menschen dagegen weniger zum Spenden anzuregen.
Zweitens wurde auf den Zusammenhang zwischen medial erzeugter Nähe und Spendenaufkommen hingewiesen; die permanente Berichterstattung mit Livebildern und Berichten der Betroffenen hätten den FernsehzuschauerInnen im Westen das Leid der anderen, der Fernen, näher gebracht.
Drittens wurde vermutet, die hohe Opferzahl von westlichen Touristen im Katastrophengebiet habe die eigene Betroffenheit erhöht. Nähe werde also weniger zum Leiden der fernen anderen, sondern zu den «eigenen» Leuten in der Ferne hergestellt. Auch seien die fernen Orte als Touristenparadies bekannt und erschienen so als weniger fern gelegen.
Nicht zuletzt fand die Flutkatastrophe zu einem Zeitpunkt statt, der unser Mitleiden intensivierte und in ein angemessenes Ritual – Spenden und Gaben – münden liess: Das Weihnachtsfest ist ja gerade das Fest der Liebe und der Geschenke. Viele Menschen erlebten die Katastrophe gemeinsam mit ihrer Familie vor dem Fernseher. Die Sentimentalität der Weihnachtsfeiertage habe, so wurde behauptet, das Herz (und damit die Spendenbereitschaft) geweitet. Doch überzeugt dieses Argument nur teilweise: Das Erdbeben in Bam im Iran fand an Weihnachten 2003 statt, nur ein Jahr vor dem Tsunami – doch die Spendenbereitschaft war vergleichsweise klein.
Asymmetrische Beziehung
Sehr oft ging es in diesen Diskussionen um Distanzen und ihre (mediale und emotionale) Überwindung. In der NZZ rief der deutsche Soziologe Ulrich Beck nach der Katastrophe kurzerhand das Ende der Distanz aus. Räumliche Entfernung habe in Zeiten globaler Mobilität ihre Starrheit verloren. Diese These vom Ende des Raumes in Zeiten der Globalisierung (auch des Mitgefühls) ist immer wieder aufgegriffen worden. Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk zum Beispiel sah jüngst in der «Zeit» eine neue Form von Friedrich Nietzsches Fernstenliebe heraufziehen, eine Fernnachbarschaft, die einen moralischen Klimawandel andeutet: «Man muss nicht mehr zusammenleben, um verbunden zu sein.»
Doch hier irren Beck wie Sloterdijk. Diese – rein metaphorische – Überwindung der räumlichen Distanz ist für unser moralisches Handeln gänzlich irrelevant. Zwar wissen wir heute mehr über das Leiden entfernter anderer, weil die Medien uns dies vor Augen führen. Für die konkrete Fürsorge, die Praktizierung von Hilfe an Notleidende, bleibt räumliche Distanz jedoch ein (logistisches und mentales) Problem. Mitleid überwindet räumliche (und soziale) Distanz nicht, im Gegenteil, sie schafft oft sogar neue Ungleichheiten und soziale Distanz. Zwar bringen uns die Medien das Leiden räumlich entfernt lebender Menschen näher, lassen «uns» vordergründig Anteil nehmen an «ihrem» Leiden. Doch wird dabei stets klar zwischen uns und ihnen differenziert, zum Beispiel wenn die Medien «westliche» und «einheimische» Todesopfer separat erwähnen.
Die FAZ schrieb in der Folge der Katastrophe im Januar 2005: «Geben ist schön, Nehmen nicht immer angenehm. Auch von uneigennützig gemeinten Gaben geht ein Zwang auf den Empfänger aus, der sich eingeengt fühlt, weil er die Gabe nicht erwidern kann.» Mitleid ist eine asymmetrische Beziehung, stellte der «Freitag» fest: «Mitgefühl gründet auf der Erkenntnis, dass es einem selbst besser geht als einem zu bemitleidenden Anderen (...). Es ist diese (...) ‹Überlegenheit›, die das Gefühl des Mitleids so verdächtig macht.» Durch reine Mitleidsethik wird den Objekten des Mitleids die Handlungsfähigkeit abgesprochen, sie werden zur Passivität gezwungen.
Die Gaben der europäischen SpenderInnen haben die Asymmetrien zwischen Europäerinnen (als Spenderinnen) und Asiaten (als Empfängern) reproduziert – und damit wieder Distanz geschaffen, die doch durch das solidarisierende Mitleid gerade überwunden schien. Die Fernsehzuschauer kamen den Notleidenden durch das Mitleidsgefühl zwar emotional näher. Doch ging es in den Notgebieten nicht ohne professionelle Vermittlerinnen, die die Spendengelder, das monetarisierte Mitleid sozusagen, in konkrete Handlungen übersetzten. Hilfsorganisationen übernehmen diese Mittlerrolle und überwinden so die räumliche Distanz zwischen den beiden AkteurInnen. Doch nach dem Tsunami und der grossen weltweiten Anteilnahme standen die Mittler unter besonderem Druck. Sie mussten Ergebnisse vorweisen, die sich medial darstellen liessen und den Erwartungen der SpenderInnen entsprachen. Um Letztere zufriedenzustellen, mussten sie die Hilfsleistungen gewissermassen als direkte Fernwirkungen der Mitleidenden im Westen inszenieren. Und sie mussten die eigenen Projekte besonders hervorheben und damit die Eigenleistung der Notleidenden herunterspielen.
Dies wird deutlich in den Beobachtungen der Tsunami Evaluation Coalition (TEC), einem internationalen Konsortium zur Beurteilung der Tsunamihilfe. Dieses hält fest, dass lokale Initiativen und Selbsthilfe sprichwörtlich in der Flut der internationalen Hilfsgelderwelle ertränkt wurden: «Die internationale Hilfsgemeinschaft hat den sehr wichtigen Beitrag lokaler Gemeinden zu ihrem eigenen Überleben und ihrer Erholung unterbewertet. (...) Ebenso haben die internationalen Medien lokale Akteure übersehen und ihr Augenmerk auf die internationalen Akteure gerichtet.» Der Bericht macht deutlich, dass die Hilfsgelder nicht nach der Bedürftigkeit der Notleidenden verteilt wurden, sondern nach der medialen Vermarktbarkeit ihres Einsatzes. Konkurrenz zwischen den verschiedenen Hilfsorganisationen entstand nicht primär um die Einwerbung zusätzlicher Mittel – im Allgemeinen hatten die Hilfsorganisationen reichlich Mittel zur Verfügung. Konkurrenz gab es vielmehr beim Zugang zu vermarktbaren Projekten und HilfsempfängerInnen. Durch medial attraktive Projekte versuchten viele Hilfsorganisationen, ihren Markennamen entsprechend zu profilieren. Nach dieser Logik mussten sich sämtliche unterstützten Projekte ausrichten.
In Sri Lanka führte dies zum Beispiel dazu, dass sich verschiedene Hilfsorganisationen um Projekte zum Schulaufbau, zur Verteilung von Fischerbooten oder zum Häuserbau stritten, da sich diese medial leicht inszenieren liessen. Besonders beliebt war der Wiederaufbau von Waisenhäusern. Diese Projekte entsprachen dem Bild, das sich SpenderInnen vom Wiederaufbau machten, auch liess sich dabei der Projektfortschritt visuell anschaulich belegen.
Zelebriertes Gutsein
Gleichzeitig entwickelte sich eine medial inszenierte Dankbarkeitsliturgie: Weisse, westliche Repräsentantinnen der Spender überreichten die guten Gaben aus Europa den dankbaren, unterwürfigen Empfängerinnen – passive, hilflose Objekte, die ohne die Hilfe aus dem Westen nicht überleben konnten. Die Beschenkten zeigten willfährig ihre Dankbarkeit, vollführten Höflichkeitsrituale, verbeugten sich, gaben Tänze und Gesänge zum Besten. All diese Praktiken waren die Währung in der Produktionskette der globalen Mitleidsökonomie, mit der die europäischen SpenderInnen «vergütet» wurden. Denn diese hatten ihr Mitleid nicht bedingungslos zur Verfügung gestellt – sie erwarteten eine Belohnung oder Vergütung in Form von Dankbarkeit der Notleidenden.
All diese Praktiken, ökonomischen Logiken und medialen Inszenierungen spiegelten die globalen Asymmetrien zwischen Südostasien und dem Westen wider. Die Bürgerinnen der westlichen Länder konnten ihr Gutsein zelebrieren (ohne an strukturellen Aspekten globaler Ungerechtigkeit etwas ändern zu müssen); die Empfänger hatten nur unterwürfige Dankbarkeit zu bieten. Als Indien nach dem Tsunami erklärte, es könne den Notleidenden aus eigener Kraft helfen, regte sich Unmut in der westlichen Öffentlichkeit – Indien masste sich an, die Logik der Wertschöpfungskette globaler Mitleidsökonomie durcheinanderzubringen.
Mitleid, das durch Bilder spontane Handlungsimpulse auslöst, ein «Setz dem ein Ende!», wie die US-amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag schrieb, ist kein verlässlicher Partner in der Begründung globaler Solidarität. Unser Mitleid ist subjektiv und unzuverlässig, insbesondere wenn es von medial inszenierten Bildern ausgelöst wird: Mal weinen wir, mal helfen wir, mal sehen wir nur angewidert, peinlich berührt weg. Mitleid nutzt sich ab, es kann zu einer «Mitleidsermüdung» kommen, wie der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie ob der geringen Spendengelder nach dem Erdbeben in Pakistan im Oktober 2005 frustriert feststellte. Die Frage ist: Wie viel ist unser Mitleid eigentlich wert, wenn es von aussen erzeugt werden kann – durch Sirenenklänge, Bilder, Spendengalas? Mag Mitleid auch durchaus positive Handlungsimpulse auslösen, es steht stets im Verdacht, eine herablassende Geste zu sein oder eine Art Ablasszahlung – wir halfen so grosszügig nach dem Tsunami, nun lasst uns doch bitte mit dem anderen Leid in Ruhe. Mitleid ist primär ein ästhetisches Gefühl – es geht um die Zelebrierung der eigenen (guten) Taten.
Globaler Katastrophenfonds
Die Strukturen der Mitleidsökonomie, die in der Tsunamihilfe deutlich geworden sind, zeigen: Ein rein auf Mitleid bauendes globales Spendensystem ist letztlich unbefriedigend. Es reproduziert nur die globalen Ungleichheiten, die es überwinden möchte. Wir sollten uns entwicklungsethisch daher weniger an den individuellen moralischen Gefühlen und Affekthandlungen der Spenderinnen orientieren. Stattdessen sollten wir uns überlegen, wie die konkrete Hilfe an Notleidende sichergestellt werden kann. Nicht wir, die wohlhabenden Spender, nicht das Mitleiden sollten im Mittelpunkt stehen, sondern das Leid und die Leidenden.
Was ist zu tun? Die Hilfspraxis muss von der medial inszenierten Mitleidsökonomie abgekoppelt werden. Ein globaler Katastrophenfonds, in den alle Hilfsgelder eingezahlt werden und dessen Mittel nur von professionellen Organisationen nach klar festgelegten Kriterien eingesetzt werden, könnte zwei Probleme der Mitleidsökonomie überwinden: Die Höhe der zur Verfügung stehenden Mittel wäre nicht mehr von den Affekten westlicher Spenderinnen abhängig. Und die Praxis des Helfens wäre unabhängig von den Ansprüchen der Spender auf emotionale Vergütung. Dies mag uns von den Notleidenden gefühlsmässig etwas entfernen, denn unser Mitleid wäre nicht mehr an konkrete Hilfe gekoppelt – wir könnten nicht mehr direkt am Fernsehbildschirm verfolgen, wie unsere Spendengelder Gutes tun. Doch könnte diese neue Ferne die Notleidenden womöglich vor der demütigenden Nähe der Mitleidenden bewahren.
Benedikt Korf ist Assistenzprofessor für Humangeografie an der Universität Zürich. Eine ausführlichere Fassung dieses Artikels erschien in der Zeitschrift «Asiatische Studien».