Informatik und Entwicklungspolitik: Ein kleines Netz gegen die grosse Armut

Nr. 4 –

In südindischen Dörfern sollen die Menschen ihre Lebensbedingungen mit neuen Wissenszentren verbessern.

Im Fischerdorf Veerampattinam, das in der südindischen Region Tamil Nadu liegt, erzählen im Hindutempel Frauen und Männer, dass sich das Dorf verändert hat, seit es hier ein Wissenszentrum gibt. Es biete ihnen wichtige Dienst­leistungen an, Informationen über landwirtschaftliche Unterstützungsprogramme, das Gesundheitswesen in der Region, eine Liste der Maurer im weiteren Umkreis, Adressen von Begräbnis­trommlern, Anmeldeformulare für öffentliche Schulen, die aktuellen Reispreise auf den umliegenden Märkten und Computerkurse. Das Wissenszentrum, das Internet, Lernprogramme, eine Bibliothek und Telefone zur Verfügung stellt, ist auch ein Treffpunkt, ein Ort des Gesprächs, wo man beraten wird und Hilfe suchen kann.

Im ländlichen Tamil Nadu gibt es inzwischen in zehn Dörfern Wissenszentren, die von über 50000 Menschen unbesehen ihrer Religion, Kaste, ihres Geschlechts, Einkommens und ihrer Schulbildung benützt werden können.

Die Wissenszentren, die gemeinschaftlich ausgerichtet sind und daher weit über die kommerziell betriebenen Internetcafés hinausgehen, sind immer in einem öffentlichen Gebäude wie zum Beispiel dem Tempel oder in einer Schule untergebracht. Ihr Betrieb erfolgt durch Freiwillige aus dem Dorf, welche ihre Freizeit dafür investieren. Statt Lohn winken Weiterbildung und Anerkennung. Die Mitarbeit ist anspruchsvoll. Die tamilische Sprache hat 247 Buchstaben; um den Computer mit der auf 26 Buchstaben ausgelegten Standardtastatur benützen zu können, muss man für jeden tamilischen Buchstaben drei unserer Schriftzeichen tippen.

Initiiert hat die Wissenszentren die Swaminathan-Stiftung, die der heute achtzigjährige Pflanzengenetiker Monkombu S. Swaminathan ins Leben gerufen hat, der Vater der «grünen Revolution»: Vor dreissig Jahren führte er neue Reissorten ein, die höhere Erträge abwarfen, was zur Umwälzung der Landwirtschaft führte. Nun hat er eine neue Vision: Er will die Armut in den indischen Dörfern mit der Informationsrevolution bekämpfen.

Initiative Frauen

«Wissen ist Macht. Den Frauen Zugang zu Information zu verschaffen, stärkt deren Ansehen und Respekt», sagt eine Mitarbeiterin der Stiftung. Frauen sind die treibenden Kräfte in den meisten südindischen Dörfern. Die Programme der Zentren sind darauf ausgerichtet, den Frauen gleiche Rechte einzuräumen. Sie organisieren sich nun in Selbsthilfegruppen, gewinnen dadurch an Selbstvertrauen und reden über Themen, die eigentlich tabu sind; im traditionellen Indien wäre es undenkbar, dass Frauen in Gegenwart von Männern über Schwangerschaft und Geburt sprechen. Dass die Männer den Zentren ebenfalls positiv gegenüberstehen, dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass sich das Familieneinkommen oft verbessert: Manche Frauen gründen Kleinbetriebe, erweitern ihre bisherigen Geschäftsfelder oder finden eine Anstellung. Wissenszentren werden so zu Katalysatoren gesellschaftlicher Dynamik.

In der Siedlung Koonichampet leben Unberührbare, Dalit genannt. Rund um das Schulgebäude, in dem das Zentrum untergebracht ist, hat sich ein regelrechter Volksauflauf gebildet. Es besteht eine Warteliste für freiwillige HelferInnen, weil das Interesse an einer Mitarbeit so gross ist. Zwar haben die indischen Gesetze das Kastenwesen verboten, doch diskriminierende Traditionen halten sich hartnäckig. Für das Dalit-Dorf steht das Wissenszentrum für einen sozialen Aufbruch. Die Dalit haben nämlich nun bei Angehörigen anderer Kasten an Respekt gewonnen. Zuerst baten Nachbardörfer die Swaminathan-Stiftung, auch bei ihnen Wissenszentren einzurichten. Doch die Stiftung lehnte mit der Begründung ab, eine Mitbenützung des Zentrums in Koonichampet sei ohne weiteres möglich. Die Attraktivität der Dienstleistungen des dortigen Zentrums, das vom Jugendverein getragen wird, lässt nun Angehörige anderer Kas­ten die gesellschaftlichen Gräben überspringen – sie benützen die Einrichtungen im Dorf der Unberührbaren mit.
Die von der Swaminathan-Stiftung geförderten Projekte wollen den armen und entrechteten Schichten Indiens eine Stimme und Gestaltungsmöglichkeiten geben.

Die Überwindung der Armut bedingt auch, dass die Menschen ihre Rechte wahrnehmen und dadurch Respekt gewinnen. «Die Befähigung der Menschen hat Vorrang und kann später auch zu wirtschaftlichem Erfolg führen», sagt Subbiah Arunchalam, ein Stiftungsleiter. «Die Geschichte der Technik zeigt, dass neue Technologien unweigerlich den Graben zwischen Arm und Reich vertiefen, ausser wenn gezielte Massnahmen zugunsten der Armen getroffen werden. Die Zentren stellen Wissen in den Dienst der ländlichen Bevölkung.»

Die bestehenden Wissenszentren sind erfolgreich, weil sich die Dorfbevölkerungen mit dem Projekt identifizieren, weil die InitiantInnen, meist Frauen, eine aktive Rolle spielen und weil man aufseiten der Regierung positiv reagiert. Polizei- und Fischereidepartemente sehen das Projekt als Chance, wichtige Informationen direkt in der Region zu verbreiten, und das Erziehungsdepartement will Weiterbildungsprogramme für Erwachsene unter die Leute bringen.

Auf die Initiative von Monkombu S. Swaminathan hin haben sich viele indische Organisationen – gewinnorientierte Unternehmen wie auch gemein­nützige Werke – zur Koalition «Mission 2007» zusammengeschlossen. Bis zum Jahr 2007, wenn sich die Unabhängigkeit Indiens zum fünfzigsten Mal jährt, sollen Wissenszentren nicht nur in anderen Regionen stehen, sondern in jedem der 625 000 Dörfer Indiens – ein ehr­geiziges Unterfangen, das wohl ein Wunschtraum bleiben wird.

Eigene Kulturen

Die Swaminathan-Stiftung organisiert jedes Jahr eine fahrende Werkstatt. Rund zwanzig Teilnehmende aus Entwicklungsländern bereisen jeweils während einer Woche südindische Dörfer und besuchen die Wissenszentren. Die indischen Erfahrungen stossen auf grosses Interesse der Teilnehmenden aus anderen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. So dürfte die Pionierarbeit der Stiftung auch an anderen Orten Früchte tragen. «Die Welt ist der Westen. Alles, was wir lernen, stammt aus westlichen Schulbüchern. Das möchten wir ändern. Nichts gegen den Westen, aber wir haben in Asien, Afrika und Lateinamerika unsere eigenen Anbau- und Heilmethoden, unsere eigenen Kulturen, von welchen sich ebenfalls lernen lässt», sagt eine Mitarbeiterin der Stiftung.

Richard Gerster ist Ökonom und im Auftrag des Bundes entwicklungspolitisch tätig.