Artikel aus der WOZ Nr. 21/05 (26.5.2005)
Die Hilfsgelder machen den Menschen mehr zu schaffen als der Tsunami: Nach der Flut die grosse Katastrophe
Indien · Fünf Monate nach der gewaltigen Welle, die auch indische Küstengebiete erreicht hatte, leiden noch immer viele Menschen - nicht so sehr an den Zerstörungen, sondern an einem Boom von NGO und an einem Überfluss an Geld.
«25 Jahre habe ich gearbeitet, und nun muss ich von vorn beginnen», sagt Victor Rosario. Der 45-jährige Fischer sitzt in einer Notunterkunft am Strand von Alappad im Bezirk Kollam (Bundesstaat Kerala) und kann sich noch an jede Minute des 26. Dezember 2004 erinnern. Als er um 8.30 Uhr das Haus verliess, um seine zwölfjährige Tochter in die nächstgelegene Stadt zu begleiten, wo sie Tanzunterricht nehmen wollte, habe ein ungewöhnlich starker Wind von der See her geblasen, darüber türmten sich dunkle Wolken. «Irgendetwas stimmt da nicht», warnte er seine Frau Lizy.
Um 9.30 Uhr hatte er die Tochter wohlbehalten abgeliefert, doch der Bus zurück wollte nicht kommen. «Dein Dorf und die gesamte Gegend stehen unter Wasser, es gibt kein Durchkommen», wurde ihm gesagt. Also rannte Rosario los, zuerst über Land, dann durch knietiefes Wasser, die Beine schmerzten, das Herz tat ihm weh. Um 15.30 Uhr hatte er die Stelle erreicht, an der am Morgen noch sein Haus gestanden war. Aber das gab es nicht mehr und auch sonst nichts vom Dorf, nur geknickte Baumstämme, ein paar Mauerreste und das Getöse der Wellen. Also rannte er weiter, zum nächsten Weiler, wo er Lizy, die jüngste Tochter und viele andere DorfbewohnerInnen auf dem Dach eines zweistöckigen Gebäudes entdeckte. Später erzählte ihm seine Frau, dass sie mit dem Kind im Arm gerade noch rechtzeitig aus dem Haus flüchten und sich auf eine acht Meter hohe Kokospalme hatte retten können.
Nicht alle hatten so viel Glück wie Victor und Lizy Rosario. Allein in ihrem Bezirk kamen mehrere hundert Menschen in den Fluten und durch herabstürzende Mauern und Bäume um. Im benachbarten Bundesstaat Tamil Nadu tötete der Tsunami über 8000 KüstenbewohnerInnen. Die Flut setzte die grösste Hilfs- und Umsiedlungsoperation in der Geschichte Indiens in Gang: Innert 36 Stunden konnten über eine halbe Million Menschen in Behelfsbehausungen untergebracht werden. Inzwischen hat die Zahl der Tsunami-Flüchtlinge eine Million weit überschritten.
Die Rosarios sind in erster Linie froh, dass sie der Welle entkommen konnten. So langsam schwindet bei ihnen auch die Trauer über den Verlust ihrer Habseligkeiten, an ihre Stelle traten die Sorgen um die Zukunft: Das Fischerboot und das Netz, mit dem Victor bisher das Überleben der Familie sichern konnte, sind zerstört; ob er je Ersatz dafür bekommt und wieder selbständig arbeiten kann, weiss er nicht. Er hat einen Antrag auf Entschädigung eingereicht, doch der wurde bisher nicht beantwortet. Hungern aber muss die Familie nicht. Dafür sorgen schon die unzähligen nichtstaatlichen Organisationen (NGO), die nach der Flut über die indischen Küstenregionen hereinbrachen. Denn Geld ist genug da, viel zu viel sogar. Und das könnte den Menschen langfristig mehr Schwierigkeiten bereiten als die Tsunami-Welle.
Der grosse Wettstreit
In einer Reihe solcher Schwierigkeiten steckt beispielsweise die Tsunami-Hilfskoordination des Evangelischen Social Action Forums (Esaf), die nach Kolachel im Bundesstaat Tamil Nadu an der Südspitze Indiens gekommen war. Rund 800 Menschen wurden im Bezirk Kanniyakumari getötet, und wie viele andere NGO konnte sich Esaf angesichts der grossen Hilfsbereitschaft in Indien und im Ausland dem Druck der Gönner und der staatlichen Agenturen nicht entziehen - die Katastrophe war eine Herausforderung, der sich alle NGO und Hilfswerke stellen mussten, wenn sie glaubhaft und im Geschäft bleiben wollten.
Und so richtete das kirchliche Hilfswerk in Kolachel Büros ein, rekrutierte Angestellte, versorgte über vier Monate hinweg rund 4000 Menschen mit Lebensmitteln, Gasöfen, Stühlen, Wassercontainern und Notunterkünften - und das obwohl es vorher in der Region nie aktiv gewesen war. Esaf gehört zu den wenigen Organisationen, die stets darauf achten, dass die lokale Bevölkerung einbezogen wird und über die Projekte mit entscheiden kann; ausserdem hat Esaf-Projektleiter Johnson Thekkadayil Erfahrung in Katastrophenhilfe. «Der Wirbelsturm in Orissa 1999 und das Erdbeben in Gujarat 2001 haben eine arme Bevölkerung getroffen, die aber durch die Hilfe einen Schritt nach vorne tun konnte», sagt Thekkadayil. Hier in Kolachel jedoch seien die Menschen wohlhabender, sie verlangten viel. Ausserdem lassen sie sich kaum für körperliche Arbeit begeistern. Warum das so ist? «Der Tsunami hat zu viele Geberorganisationen und NGO angezogen und zu viele Ressourcen mobilisiert», sagt Thekkadayil. «Die Leute wissen, dass sie zwischen den Organisationen und deren Dienstleistungen wählen können.»
Dass die Leute wählen können, ist einerseits keine schlechte Sache. In Kolachel habe ich eine von der Regierung von Tamil Nadu errichtete Notsiedlung besucht: über hundert Wellblechhütten, in denen sich aufgrund der glühenden Sommerhitze niemand aufhielt. Nur in einer Hütte klebten ein paar Leute an einem Fernseher, der gerade einen Kricketmatch zwischen Indien und Pakistan zeigte. Sie erzählten mir, dass mehrere Menschen, vor allem Alte und Kinder, in diesen Backöfen ohnmächtig geworden waren. Die von Esaf finanzierten Notunterkünfte wurden hingegen aus lokal verfügbaren Materialien wie Baumstämmen und Kokosmatten gebaut - sie sind billiger, kühler und beruhen auf der herkömmlichen Bauweise.
Andererseits stehen allein in diesem kleinen Gebiet 47 indische und 14 internationale NGO und Hilfswerke im Wettbewerb. Die meisten haben zwar monatliche Treffen vereinbart, aber an der Aprilsitzung, die ich besuchen konnte, wurden nur Informationen über Rechtsfragen in Bezug auf neue Bauvorhaben ausgetauscht. Die Konkurrenz untereinander stand genauso wenig zur Debatte wie die unterschiedlichen Ansätze bei der Wiederaufbauhilfe. Erst nach Ende der Sitzung erzählten mir TeilnehmerInnen, wie erbittert die Konkurrenz tatsächlich ist. Sie berichteten, dass kurz nach der grossen Welle etliche NGO MitarbeiterInnen vor allem mit einem Ziel in das Gebiet entsandt hatten: Sie sollten Partnerschaften mit der Bevölkerung des einen oder anderen zerstörten Dorfes schliessen. Partnerschaften machen sich im Hinblick auf künftige Spenden immer gut, und vom Spendenfluss hängt ja auch das Überleben der jeweiligen NGO ab.
TV-Geräte, Nähmaschinen, Bargeld
Voraussetzung für eine Partnerschaft ist jedoch, dass die NGO von den Behörden und den Betroffenen akzeptiert wird. Und so kam es zum grossen Wettstreit: Während die eine NGO 150 Quadratfuss grosse Behelfsunterkünfte offerierte (rund vierzehn Quadratmeter), bot die nächste 200 Quadratfuss grosse Quartiere und die übernächste 200 Quadratfuss plus Toilette. Manche versprachen auch Fernsehgeräte, Nähmaschinen, Ventilatoren, Stühle, Tische und sogar Bargeld.
Die Konkurrenz ist augenfällig. Es gibt keine Baustelle, keine Unterkunft, kein Camp, an denen nicht der Name der Geberorganisationen prangt. Alle haben Tafeln aufgestellt, Transparente aufgehängt, den Namen an Türen gemalt und selbst Stühle und Wassercontainer mit dem Logo der GeberInnen verziert. In Kolachel ist Oxfam (das renommierte britische Hilfswerk) ebenso allgegenwärtig wie Eficor (eine indische Hilfsorganisation) und noch viele weitere. In anderen Gebieten kleben andere Namenszettel an jeder Rupie Unterstützung. Keine Hilfe ohne Public Relations, keine Solidarität ohne Werbung für die eigene Organisation. Aber hilft dies den Menschen wirklich?
Ich habe die Bilder in Orissa nach dem Wirbelsturm gesehen, in Gujarat nach dem Erdbeben und jetzt hier in Tamil Nadu und Kerala: Kinder, die mit den Kekspaketen Fussball spielen; alte Männer, die die unnötigerweise gelieferten Mineralwasserflaschen zum Pinkeln verwenden; Freiwillige, die Breitbandantibiotika wie Bonbons verteilen; Politiker und Beamte, die Siesta halten, während HelferInnen von aussen die Arbeit tun, die eigentlich sie erledigen müssten. Alle Beteiligten wollen gesehen und gehört werden. Die Menschen in den betroffenen Gebieten haben sich schnell angepasst und versuchen, das meiste herauszuholen. Sie reden den GeldgeberInnen nach dem Munde, sie sprechen, wenn man das von ihnen erwartet, und schweigen, wenn es die Situation erfordert. Sie lernen schnell die Fachbegriffe, übernehmen sogar die Akzente und machen die «richtigen» Zusagen. Sie sind auch jederzeit bereit, sich fotografieren zu lassen, am besten mit den Frauen im Vordergrund, am liebsten vor dem am meisten zerstörten Haus im Dorf. Man kann sie nicht tadeln dafür - sie haben schneller gelernt, auf was es ankommt, als die NGO, die Spenderorganisationen und die Philanthropen von nebenan.
In Kolachel habe ich einen alten Bettler getroffen. Er sass vor der katholischen Kirche und umklammerte eine Fünfliterbüchse, die zuvor Speiseöl enthalten hatte, und auf der noch immer stand: «Donated by the people of America», spendiert vom amerikanischen Volk. Überhaupt waren die BettlerInnen die Ersten, die reagierten. «Nach dem Erdbeben in Gujarat 2001 versammelten sich Bettler aus ganz Indien in Kutch (dem Erdbebenzentrum), um von den Hilfslieferungen etwas abzubekommen», schrieb die Tageszeitung «Times of India» am 7. Januar 2005. «Praktisch über Nacht aber sind alle Bettler aus Gujarat verschwunden. Sie stehen nicht mehr an den Strassenkreuzungen von Achmedabad, nicht mehr vor den Tempeln von Bhuj. Wahrscheinlich haben sich die meisten zur Südostküste des Landes aufgemacht, wo derzeit die Tsunami-Opfer mit Lebensmitteln und Kleidern überschüttet werden.» Fünf Tage später berichtete dieselbe Zeitung, dass in der südindischen Metropole Bangalore die für Obdachlose zuständige Verwaltungskommission «erleichtert aufatmen» konnte - viele hätten sich, so die Zeitung, «nun in den Tsunami-Regionen niedergelassen».
In Kolachel arbeiten nur wenige. Ein paar Familien versuchen, ihre zerstörten Häuser zu reparieren. Andere sind mit ihren kleinen Booten hinausgefahren, bringen zehn bis fünfzehn Kilo Fisch zurück, den sie an Händlerinnen verkaufen. Hunderte von grossen und kleinen Booten aber liegen einfach nur am Strand, obwohl viele davon intakt sind. «Nur etwa zehn Prozent der Fischer fahren noch aus», sagt einer. Und die anderen? «Ich warte noch immer darauf, dass ich ein neues Netz und endlich mal einen Motor bekomme», antwortet der nächste und wendet sich wieder dem Kartenspiel zu. Und in seiner Nähe sitzen, verteilt auf einen Küstenstreifen von vielleicht 500 Metern, mindestens fünfzig Fischer, die zu viert oder fünft Karten spielen. Manche von ihnen haben nach der grossen Welle vielleicht Angst, wieder hinauszufahren, aber alle warten auf bessere Zeiten. Dass sie nur warten, ist das Problem.
Religion und Geld
Im benachbarten Bundesstaat Kerala ist die Stimmung ähnlich. «God's own country beckons you», das von Gott ausgewählte Land ruft dich, heisst es an vielen Strassenkreuzungen. Diese Botschaft stimmt, wenn man die schöne Landschaft und die sozialen Errungenschaften (niedrige Arbeitslosigkeit und eine Analphabetenquote von fast null Prozent) bedenkt. Sie stimmt auch im Hinblick auf die Sekten, die hier angesiedelt sind. Mata Amritanandamayi ist Chefin einer solchen Sekte, der weltweit rund drei Millionen Gläubige (viele davon in den USA und Europa) angehören sollen, und die in ihrem Geburtsort Parayakaduva, einem Fischerdorf im Bezirk Alappad, ihr Hauptquartier unterhält.
Als der Tsunami am zweiten Weihnachtsfeiertag ihr Aschram erreichte, soll sie, so berichten die Leute, ihre 15 000 Gäste auf höher gelegene Ebenen ihres Palastes geführt und so gerettet haben. Die ärmeren BewohnerInnen des Dorfes hatten weniger Glück; 140 kamen um. Auch Mata nutzte die Chance, die ihr das Desaster bot: Innerhalb von wenigen Tagen verkündete sie, dass sie an die Bevölkerung Waren im Wert von 24 Millionen US-Dollar verteilen werde; offenbar hatte sie aus dem Ausland grosszügige Spenden erhalten. Ab dem dritten Tag liess sie dreimal am Tag gekochtes Essen ausgeben, und das tut sie heute, fünf Monate später, immer noch. Viele sind dankbar dafür: «Sie wird uns bis zu ihrem Tod speisen», glaubt beispielsweise Janika Amma, eine Anhängerin von Mata.
Andere sind skeptischer: «Sie erhält ihr Geld aus dem christlichen Amerika und dem christlichen Europa, aber hier diskriminiert sie die Christen und arbeitet mit den Hindufundamentalisten zusammen», kritisiert Suresh, ein Journalist in Alappad. Er ist nicht der Einzige, der so spricht. Welch grosse Rolle die Religion selbst in Kerala, dem wohl fortschrittlichsten indischen Bundesstaat, spielt, zeigt ein Besuch im lokalen Büro von Seva Bharati, einer Unterorganisation des fanatischen Welt-Hindu-Rats (VHP). «Die christlichen Organisationen wollen unter dem Vorwand der Hilfe die Inder zum Christentum bekehren», sagt der 35-jährige Girish, der das Büro bei meinem Besuch hütete.
Ein paar antichristliche Aktionen gab es schon. So gelang es AktivistInnen der hinduistischen Volkspartei BJP und des besonders radikalen hinduistischen Selbsthilfebundes RSS, den Besuch eines Kardinals zu verhindern, der ein Neubauprojekt für fünfzig Tsunami-Flüchtlinge einweihen wollte. Dieser Erfolg ermunterte Seva Bharati zu weiteren Aktionen gegen die vermeintlich missionarisch-christliche Hilfe (die es aber, so das Ergebnis meiner Recherche, nicht gibt) und gegen die in der Region starke Kommunistische Partei CPM, die seit langem eine Kampagne gegen die HinduistInnen führt.
Schleichende Privatisierung
Katastrophen bieten den Regierungen der Bundesstaaten nicht nur die Gelegenheit, Budgetprobleme zu bewältigen, indem sie einen Teil des Geldes in die Staatskassen leiten - sie erlauben es auch, Privatisierungsvorhaben voranzutreiben wie in Tamil Nadu, wo die Regierung seit langem schon das Gesetz zum Schutz der Küstenzone aushebeln will. Dieses Gesetz von 1991 untersagt Baumassnahmen in einem 200 bis 500 Meter breiten Küstenstreifen, die «gegen die angestammten Rechte der Fischergemeinschaften verstossen.» Schon seit langem aber fordern Tourismusunternehmen hier eine Baugenehmigung für Hotels und Unterhaltungspaläste. Bisher hatten die traditionellen FischerInnen diese Pläne und andere Vorhaben (wie die Einrichtung von industriellen Fischfarmen) verhindern können, wenn auch nicht immer. Sollten sie im Zuge der Rehabilitierungsmassnahmen aber ins Hinterland abgedrängt werden (und vieles spricht dafür), hätten die Investoren freie Bahn.
Gegen solche Entwicklungen können selbst die progressivsten NGO mittlerweile wenig ausrichten. In Tamil Nadu zum Beispiel mussten alle NGO eine Erklärung unterschreiben, derzufolge sie «unter allen Bedingungen auf jedwede Klage gegen die Regierung verzichten». Weil jede Hilfsorganisation zuerst vor Ort sein wollte, haben alle dieses Verzichtsabkommen unterschrieben - und damit ihr Recht auf Opposition und ihre Verantwortung für die Flutopfer preisgegeben.
Bearbeitung und Übersetzung: pw
Peanuts und Kriegsschiffe
Nur wenige Stunden nach der Flut hatte Indiens Premierminister Manmohan Singh den australischen Regierungschef John Howard am Apparat. Howard wollte wissen, ob er ein paar Kriegsschiffe und Helikopter in die indischen Gewässer schicken solle. Singh lehnte dankend ab. Zu diesem Zeitpunkt waren Indiens Streitkräfte bereits in die betroffenen Regionen unterwegs, zudem hatten zwei indische Kriegsschiffe Kurs auf die schwer getroffenen Küstengebiete von Sri Lanka genommen, um dort unterstützend einzugreifen. Kaum hatte Singh den Telefonhörer aufgelegt, folgte das nächste grosszügige Angebot: Washington offerierte der Regierung in Delhi Hilfe im Wert von 15 Millionen US-Dollar - dabei hatte Indien zu diesem Zeitpunkt Sri Lanka schon 23 Millionen angeboten. Singh quittierte dieses Anerbieten, das Uno-Beamte als «Peanuts» bezeichneten, mit Schweigen; die USA geben für die Besetzung des Irak derzeit rund 100 Millionen US-Dollar aus - pro Tag.
Auch als die USA ihre Hilfszusage auf 35 Millionen erhöhten, um sich an die Spitze der Gebernationen zu setzen, reagierte die indische Regierung nicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte die EU bereits angekündigt, der Uno die Koordination der Hilfsmassnahmen zu überlassen. US-Präsident George Bush bot daraufhin noch mehr Geld, sofern sich Indien einer von den USA angeführten Koalition der Tsunami-Helfer anschliesse - und scheiterte erneut. Die Mitte-links-Regierung in Delhi wollte verhindern, dass ihr das Gleiche passiert wie Bangladesch: Dort hatte in den neunziger Jahren Washington eine Katastrophenhilfe von der Bedingung abhängig gemacht, dass sich die US-Truppen im Land frei bewegen können. Auch in Sri Lanka sind derzeit mehrere US-Bataillone unterwegs.
Die Skepsis der indischen Regierung gegenüber den stets an Bedingungen geknüpften Angeboten aus den USA ist nicht nur auf die - aus Delhis Sicht - viel zu grosse Einmischung Washingtons in die internen Konflikte von Nepal und Sri Lanka zurückzuführen. Sie beruht auch auf einer in Indien weit verbreiteten Wahrnehmung geostrategischer Machtverhältnisse: einerseits der USA mit ihren Interessen, andererseits einer Völkergemeinschaft, der an Ausgleich und gegenseitigem Respekt gelegen ist. Indiens Hilfe für Sri Lanka war jedoch ebenfalls nicht ganz uneigennützig: Die staatliche Indian Oil Corporation investiert seit einigen Jahren im Nachbarland und bohrt vor der sri-lankischen Küste nach Öl. jk
Fünf Erkenntnisse
Viele Hilfswerke wollen folgende Lektionen partout nicht beherzigen:
1. Erwartet stets das Unerwartete. Da immer mehr Regierungen, Unternehmen und Gesellschaften nicht im Einklang mit der Natur leben wollen, wird es auch immer mehr Katastrophen, mehr Fluten, Wirbelstürme, Erdrutsche, Unwetter und Dürreperioden geben. Den Aussagen von ExpertInnen sollte man dabei nicht trauen. Hier ein Beispiel: «Für Uferstandorte können von Zyklonen hervorgerufene Fluten oder Tsunamis gefährlich werden», schrieb 1986 eine für Reaktorsicherheit zuständige Gruppe im indischen Atomenergieministerium. «In Indien aber gibt es keine Tsunamis. Folglich müssen wir nur Zyklone genau studieren.»
2. In jeder Katastrophe steckt eine Chance. Ein Desaster bietet die Gelegenheit, den Menschen zu vermitteln, dass es auf sie ankommt (und sonst auf niemanden) und dass nur sie auf die Einhaltung der Gesetze und Regeln pochen können. Wenn Behörden, NGO und Betroffene zusammenarbeiten, können sie ein System entwickeln, das Katastrophen entweder verhindert (durch Frühwarnung) oder zumindest deren Auswirkungen minimiert, und einen Prozess in Gang setzen, der künftig allen ein besseres Leben ermöglicht.
3. Die grösste Tragödie ist der Verlust des Selbstrespekts. Die Einbeziehung der Betroffenen in alle Hilfsaktionen, deren Umsetzung und Überprüfung ist die beste Voraussetzung dafür, dass die Menschen ihren Lebensgeist wiedergewinnen. Andernfalls werden sie ärmer, hilfloser und abhängiger sein als zuvor. Dass sie an allen Entscheidungen beteiligt werden, ist ihr gutes Recht und kein Geschenk. Örtliche gewählte Gremien dürfen nicht übergangen werden.
4. Die am meisten Benachteiligten brauchen am meisten Unterstützung. Nach dem Wirbelsturm über Orissa (1999) haben sich Beamte und Grossgrundbesitzer einen guten Teil der Hilfslieferungen angeeignet. Nach dem Erdbeben in Gujarat (2001) verweigerten Hilfswerke und NGO den Ärmsten Hilfe für den Wiederaufbau ihrer Behausungen, weil «sie kein Land für den Hausbau besitzen». Auch in den Tsunami-Gebieten tendieren die Behörden und so manche NGO zu einer Politik, die Eigentümer bevorzugt: Wer Häuser, Vieh oder Maschinen verloren hat, bekommt eine Entschädigung; wer nicht mehr besass als seine Arbeitskraft, konnte - so eine weit verbreitete Haltung - nichts verlieren und geht deshalb leer aus.
5. Zwei Wochen Soforthilfe genügen. Unterstützung von aussen wird vor allem in den ersten Tagen benötigt; die Soforthilfe sollte jedoch zwei Wochen nicht überdauern. Wer Opfer monatelang durchfüttert, verhindert, dass sie wieder auf die Beine kommen. Merke: Es gibt fast nichts, was eine Gemeinschaft nicht lernen kann - vorausgesetzt, den Menschen werden Geduld und Respekt entgegengebracht. Joseph Keve