Sozialhilfe: «Noch neunzig Rappen»

Nr. 10 –

Caritas-Märkte verkaufen Lebensmittel und Hygieneartikel zu Billigstpreisen an Bedürftige. Auf solchen Märkten müssten demnach die «Sozialschmarotzer» zu finden sein, deren Nichtstun der dumme Staat belohnt. Ein Augenschein.

Der Caritas-Markt im Berner Länggassquartier öffnet Punkt 14 Uhr. Sofort füllen sich die beiden kleinen Verkaufsräume, die mit einer Tür verbunden sind, mit Kundschaft: Wie stets am Donnerstag ist auch heute eine neue Lieferung Jogurts eingetroffen. Die Langzeitarbeitslose, die hier einen Job gefunden hat, und der Zivildienstleistende müssen laufend Gestelle nachfüllen. Am schnellsten leeren sich die beiden grossen Körbe bei der Kasse, in denen das Brot, das gestern noch in den Regalen verschiedener städtischer Bäckereien lag, für einen Franken pro Kilo angeboten wird.

Drei gut dreissigjährige Männer treten ein, zwei gehen entlang den Regalen weiter, einer bleibt stehen, weist auf das Notizheft: «Schriftsteller?» - «Journalist.» Ob man an einer wirklich ungerechten Geschichte interessiert sei? Er beginnt zu erzählen: Ein Bekannter, ursprünglich kein Schweizer, verheiratet, zwei Kinder, müsse ins Gefängnis, fünfeinhalb Jahre, etwas Politisches. In dieser Zeit tauche seine Frau, eine Schweizerin, mit den Kindern unter. Als der Bekannte aus dem Gefängnis komme, finde er seine Familie nicht mehr. Seither prozessiere er darum, seine Kinder besuchen zu dürfen, erfolglos, alles werde Jahr um Jahr verschleppt. Jetzt kommen die Kollegen des Erzählenden mit gefüllten Taschen zurück, und einer sagt leichthin: «Seine Geschichte ist traurig, finden Sie nicht?»

Die drei Quadrate

Das Hinterzimmer ist eng und voll gestellt mit Kartonschachteln auf breiten Regalen. Noch während Herbert Ammann, der Leiter des Caritas-Markts, zuhört, beginnt er, auf ein Blatt Papier drei Quadrate zu zeichnen. Die These, die er kommentieren soll, stammt vom Publizisten Markus Schneider und lautet: Wer heute Sozialhilfe erhält, gilt in der Öffentlichkeit als «Sozialschmarotzer». Würden diese Leute arbeiten, wäre das Vorurteil weg. Sie arbeiten aber nicht, weil falsche Anreize das Arbeiten unattraktiv machen: Nicht selten verdienen Working Poor weniger als jene, die zur Sozialhilfe gehen. Deshalb soll der Staat nicht mehr das Nichtstun belohnen, sondern mit einer negativen Einkommenssteuer Löhne subventionieren. Und zwar so: Wer nichts verdient, kriegt nichts. Wer aber mindestens 1200 Franken verdient, erhält noch einmal so viel vom Staat. 2000 Franken werden mit 800 Franken vermehrt, 3000 noch mit 200 Franken. Erst ab 4000 Franken soll man Steuern bezahlen müssen.

Herbert Ammann lächelt, tippt aufs erste der drei Quadrate und sagt, was die Kundschaft dieses Caritas-Markts betreffe, möge es einen kleinen Teil geben, der überhaupt ins Raster einer solchen Überlegung passe. Der überwiegende Rest der rund tausend Leute, die regelmässig oder ab und zu einkaufen, seien - Quadrat 2 - Leute mit physischen oder psychischen Handicaps und - Quadrat 3 - Leute ohne Ausbildung und mit grossen Sprachproblemen. Sie alle seien auf dem heutigen Arbeitsmarkt absolut chancenlos.

Am Bistrotisch vorn im Laden hat man eine gute Übersicht, wenn man sich auf die Suche nach dem Homo oeconomicus begibt, den Schneider mit richtigen Anreizen wieder auf den tugendhaften Pfad der Billigstlohnarbeit zurückführen will. Am Tisch sitzt gerade eine bosnische Mutter mit ihrer Tochter, schneidet Brotschnitten und türmt Schnitze aus einer Fleischkonserve darauf. Plötzlich sagt sie zum Mann drüben an der Kasse: «Das Leben geht schnell vorbei.» Dieser, ein pensionierter Teppicheinkäufer, der zwischen Afghanistan und Marokko unterwegs gewesen ist, antwortet: «Geniessen Sie jede Stunde.» Die Frau sagt: «Wie geniessen, wenn man krank ist?», und kaut an ihrem Brot, grüsst den alten Mann mit grauem Mantel, blauem, zerschlissenem Rucksack und sehr dicken Brillengläsern, der sich dazusetzt und der Tochter charmant ein eben erstandenes Säckchen mit Billigbiskuits schenkt.

Bröckelnder Zement

Die 56-jährige Pia D. hinkt stark und erzählt Folgendes: Sie habe seinerzeit auf der Generaldirektion der PTT gearbeitet, mit 27 sei sie aus medizinischen Gründen zu fünfzig Prozent teilpensioniert worden. Danach verschiedene Jobs in der Privatwirtschaft, bei Vorstellungsgesprächen habe sie damals mehr als einen Chef getroffen, der, kaum habe er von ihrer halben IV-Rente gehört, diese vom Lohnangebot, das er habe machen wollen, wegrechnete. Als sie vierzig wurde, machten die Gelenke endgültig nicht mehr mit. Letzthin ist sie zum 29sten Mal operiert worden: wieder beide Hüftgelenke, weil innert dreier Jahre der Zement zu bröckeln begonnen habe.

«Wenn ich etwas finden würde, würde ich sofort wieder arbeiten. Drei Stunden pro Tag würde ich mir noch zutrauen. Aber Leute wie ich kriegen nicht einmal die Chance, Working Poor zu werden», sagt sie. So macht sie Freiwilligenarbeit; immer zuhause zu sitzen und für niemanden etwas tun zu können, sei unerträglich. Sie hat Eltern, die beide berufstätig sind, bei der Betreuung ihres leukämiekranken Sohns unterstützt: «Ich musste ihn aufnehmen, Frühstück und Medikamente richten und ihn danach in die Schule bringen.» Das sei eine schöne Beziehung geworden, sagt sie, aber vor einiger Zeit sei ihr der Bub «weggestorben». So ist sie wieder vermehrt mit ihrem Hund unterwegs, einem Appenzeller Rüden, den sie zum Therapiehund ausgebildet hat. Mit ihm macht sie in Heimen Betagtenbesuche, und «in einer Kleinklasse mit grossem Ausländeranteil» versucht sie, einzelnen Kindern die Angst vor Hunden zu nehmen.

Damit sie trotz der zunehmenden Beschwerden noch selbständig wohnen kann, braucht sie für den eigenen Haushalt und ihre Grundpflege Unterstützung von der Spitex. Zurzeit bleiben ihr für das Essen für sich, den Hund und die Katze nach Abzug aller Fixkosten pro Tag zehn Franken. Sie kaufe im Caritas-Markt ein, seit es ihn gebe. Ob sie hier je jemandem begegnet sei, der Sozialhilfe bezogen habe, weil der Verdienst bei der Arbeit zu klein war? «Nein, nie», sagt Pia D.

Altruismus oder so

Die schwarze Frau geht zum Mehl, das Kilo für 1 Franken 10, stellt zwei Pakete vor die Kasse. Der pensionierte Teppichhändler tippt und sagt, wie viel noch bleibt bis 20 Franken. Der schwarze Mann neben ihm kontrolliert. Die Frau holt Reis, das Kilo für 1 Franken 30. Der Mann an der Kasse tippt und sagt: «Noch neunzig Rappen.» Zielstrebig holt die Frau ein Säckchen Süssigkeiten. «Exakt!», sagt der Mann an der Kasse. Das schwarze Paar packt schweigend die Einkaufstaschen und verlässt mit gemurmeltem Gruss das Geschäft.

Ungefähr gleich viele schweizerische und ausländische Menschen kauften hier ein, schätzt Ammann, der später einige Zeit selber an der Kasse steht, damit der pensionierte Teppichhändler eine Zvieripause machen kann: «Ich denke, es sind ähnlich viele Männer wie Frauen, natürlich auch Leute im AHV-Alter und Ausgesteuerte. Aber im Durchschnitt wird die Kundschaft immer jünger.» Später, als wieder der ehemalige Teppichverkäufer an der Kasse steht, will ein grosser fahriger Mann Eistee und Brot bezahlen. Dass es heute besonders schönes Brot gebe, wie der Mann an der Kasse sagt, will er nicht gelten lassen: «Wenn ich das Brot erst morgen esse, ist es schon ziemlich hart», murrt er. Der Mann an der Kasse nickt verständnisvoll und empfiehlt, es doch gleich heute Abend zu essen.

«Sozialschmarotzer?», fragt kurz darauf die Frau, die einmal die Tochter eines reichen Bauern gewesen ist, später Studentin an der Uni, später Journalistin, dann Gattin eines Anwalts, Kinder bekommen hat, das jüngste behindert, ein «Volltimejob», geschieden; dann keine Arbeit mehr gefunden, ausgesteuert, Fürsorgeempfängerin, im Kampf um die Kinder gegen den Ex unterlegen, der mit dem zuständigen Regierungsstatthalter unter einer Decke stecke, später wieder verheiratet, heute getrennt. «Ich habe kein schlechtes Gewissen, wenn ich hier einkaufe. Aber», fragt sie, und ihr Blick wird hell und scharf, «glauben Sie, dass ein Berner Fürsprecher Kinder kidnappt? Unglaublich, nicht wahr?» Die Frau erzählt und erzählt und diktiert schliesslich die Koordinaten ihrer Website, wo alles nachzulesen sei. Zum Beispiel der Satz: «Mein erster Ehemann hat mich geheiratet, weil ich dank meiner Mitgift rentierte, mein zweiter Ehemann hat mich verlassen, weil ich nicht rentierte …»

«Feierabend», ruft der Mann an der Kasse, die Frau, die sich eben noch ins Feuer geredet hat, verschwindet grusslos. Es ist kurz nach sechs. Der Mann an der Kasse schliesst die Ladentür, plaudert, einmal habe ihn hier einer zum Glauben bekehren wollen, aber für das Christentum sei er verloren. - Warum er dann ehrenamtlich für die Caritas arbeite? Er grinst: «Wie sagt man dem? Altruismus oder so ähnlich?» Durch einen Seitenausgang treten wir in die Abenddämmerung hinaus. Der Mann reicht die Hand, sagt «Gabathuler» und geht durch die Gesellschaftsstrasse davon.

Überlebensmittel-Läden

Unter dem Namen Carisatt eröffnete 1992 die Caritas Basel den ersten Caritas-Markt. Zurzeit gibt es solche Märkte in Basel, Bern, Luzern, St. Gallen, Weinfelden, Winterthur, Clarens, Genf und Lausanne. Im Jahr 2004 haben sie ihre Umsätze um durchschnittlich rund 40 Prozent gesteigert (von insgesamt 1,8 auf 2,5 Millionen Franken). Der grösste Caritas-Markt ist jener von Luzern (Umsatz: 570 000 Franken). Zwei weitere Läden - in Solothurn und Olten - mussten trotz markanter Wachstumsraten 2004 wegen Zahlungsunfähigkeit der Caritas Solothurn geschlossen werden. In diesen Tagen eröffnen andererseits Caritas-Märkte in Thun und Morges.

Seit diesem Jahr sind die einzelnen Geschäfte in einer Genossenschaft Caritas-Märkte zusammengeschlossen. Sie verkaufen vor allem Lebensmittel und Hygieneartikel. Beliefert werden sie zu etwa achtzig Prozent von der zentralen Warenakquisitionsstelle in Littau LU. Dorthin liefern Produzenten und Grossverteiler gratis oder zu günstigen Bedingungen Überproduktionen, schadhafte Serien, Falschlieferungen und Liquidationen. Den Rest des Warenangebots, zum Beispiel das Brot, organisieren die Märkte in ihrer Region.

Einkaufsberechtigt in Caritas-Märkten sind Personen, die am Existenzminimum leben, in einer Schuldensanierung stecken oder Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen der AHV respektive eine IV-Rente beziehen. Wer hier einkaufen will, benötigt deshalb eine «Einkaufskarte», die von den regionalen Caritas-Stellen und von Sozialämtern abgegeben wird. Diese exakte Auswahl der Bedürftigen fordern die Warenlieferanten, die zwar eine Geste für die Bedürftigen machen, nicht aber ihr eigenes Geschäft mit Dumpingware konkurrenzieren wollen.

Die Caritas-Märkte verfolgen mehrere Ziele:

• Sie wollen das Budget ihrer KundInnen entlasten, damit ein bisschen Geld bleibt, um der sozialen Isolation zu entkommen, die die Armut auch bedeutet.

• Sie tragen dazu bei, dass die Produkte - nicht selten knapp vor dem Verfalldatum - noch eine Kundschaft finden, statt vernichtet zu werden.

• Sie bieten Arbeitsstellen für Langzeitarbeitslose, anerkannte Flüchtlinge und Zivildienstleistende.