Israel/Palästina: Der Abzug als Drama und Farce

Nr. 32 –

Am Mittwoch soll der israelische Rückzug aus dem Gasastreifen beginnen. Bringt er Israel und Palästina dem Frieden näher?

Die Welt blickt auf den Gasastreifen, genauer: auf den so genannten einseitigen israelischen Rückzug aus Gasa. Viele JournalistInnen und DiplomatInnen scheinen überzeugt, dass der Abzug Teil des Friedensprozesses im Nahen Osten ist. Einige ziehen auch historische Parallelen und sehen den israelischen Premierminister Ariel Scharon als eine Art modernen de Gaulle (im Algerienkonflikt).

Die israelische und die internationale Presse vertiefen sich dabei in die Konfrontation zwischen den israelischen GegnerInnen des Abzugs und der Regierung. Zehntausenden SiedlerInnen und ihren UnterstützerInnen gelang es in den letzten Wochen den Eindruck zu erwecken, dass es starke Opposition gegen Scharons Politik gibt, obwohl eine grosse Mehrheit für den Abzug ist. Man spricht sogar von der Gefahr eines Bürgerkriegs. SoldatInnen und PolizistInnen verweigern ihren Dienst in der Operation Rückzug, Strassen werden blockiert. Die Polizei konzentriert ihre Kräfte im Süden, viele Israelis in den anderen Teilen des Landes fühlen sich deswegen schutzlos - das verstärkt den Eindruck einer Krise. Letzte Woche tötete ein desertierter Soldat, Mitglied einer Gruppe von AnhängerInnen des verstorbenen extremistischen Rabbis Meir Kahane, vier arabische Israelis. Er wurde daraufhin gelyncht. Weitere extremistische Angriffe drohen, obwohl die SiedlerInnen fürchten, dass solche Morde ihr Image beflecken.

Diese Woche kam auch noch der Rücktritt von Finanzminister Benjamin Netanjahu dazu. Er protestiert damit gegen den Abzug. Netanjahu will aber auch Scharon als Kandidat der Likud-Partei bei den nächsten Wahlen ablösen. Dabei scheut er die Nähe zu den Rechtsextremen nicht. Doch den Rückzug verhindern kann Netanjahu nur, wenn er andere MinisterInnen davon überzeugt, die Regierung zu stürzen. Danach sieht es im Moment nicht aus. Netanjahu als Finanzminister - das war eine Erfolgsgeschichte. Die Wirtschaft erholte sich teilweise; nicht zuletzt, weil die Zahl der Terroranschläge in Israel kleiner wurde. Und als die Regierung den Abzugsplan aus Gasa guthiess - gegen die Stimme Netanjahus -, sprachen die USA Kreditbürgschaften in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar, was die Wirtschaftslage weiter verbesserte. Netanjahu verfolgte eine Wirtschaftspolitik à la Margaret Thatcher, die die Reichen reicher machte und die Lage der Armen dramatisch verschlechterte. Im letzten Jahr lebten zwanzig Prozent der Israelis in Armut. Finanzminister Netanjahu trat zurück, gerade bevor die neuesten Zahlen zur Armut veröffentlicht wurden.

Die vergessenen Partner

Friedensprozess? Bei den Ereignissen der letzten Wochen war von den PalästinenserInnen nie die Rede. Im 1967 besetzten Gasastreifen leben beinahe anderthalb Millionen PalästinenserInnen auf nur gerade 363 Quadratkilometern. Die meisten sind Flüchtlinge, die in Armut leben. Die Arbeitslosigkeit ist riesig. Der Gasastreifen ist komplett abgeriegelt und unter Kontrolle der israelischen Armee. Fanden früher viele PalästinenserInnen in Israel Arbeit, können die meisten seit den frühen neunziger Jahren und erst recht seit dem Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000 Gasa nicht mehr verlassen.

Israel kontrolliert alles: die Ein- und Ausreise von Menschen und den Warenverkehr zwischen Gasa und der Aussenwelt. Stromversorgung, Telefonleitungen, Wasser, jede Art von Import und Export sind unter absoluter israelischer Kontrolle, der Flughafen von Gasa ist geschlossen, und der - von Israel kontrollierte - Hochseehafen ist erst ein Versprechen. Die palästinensische Wirtschaft ist ein Anhängsel der israelischen Wirtschaft. Doch die israelische Regierung will nach dem Rückzug keinerlei Verantwortung mehr für die Bevölkerung von Gasa übernehmen. Der Abzug verändert die Wahrnehmung durch die Weltöffentlichkeit. Bisher war Gasa besetzt. Dass das riesige Gefängnis namens Gasa nun einfach von aussen kontrolliert wird, wird vergessen gehen.

Anfänglich wollte die israelische

Regierung den Abzug alleine durchziehen. Doch schnell wurde klar, dass sie dafür internationale Unterstützung braucht. Selbst der beinharte Verteidigungsminister Schaul Mofas sieht heute ein, dass ein vollständiger Rückzug aus Gasa auch bedeutet, sich aus dem Philadelphi-Korridor entlang der Grenze zu Ägypten zurückzuziehen. Deshalb musste Ägypten einbezogen werden, um Waffenschmuggel nach Gasa zu verhindern. Tatsächlich werden über den Philadelphi-Korridor nicht nur, wie immer behauptet, Waffen hineingebracht, sondern einige Leute verdienen viel Geld mit dem Schmuggel von Waren aller Art. Neben Ägypten muss die US-Regierung einbezogen werden, aber auch die Weltbank, etwa wenn es darum geht, was mit den israelischen Siedlungen geschehen soll, ob die Häuser abgerissen werden sollen, wer den Schutt entsorgen soll, ob die Felder und Treibhäuser noch benützt werden können. Doch die israelische Regierung braucht noch andere Unterstützung: Dafür muss sie sogar mit ihren verleugneten Partnern sprechen - den PalästinenserInnen.

Die Gespräche der letzten Monate zwischen Vertretern der israelischen Regierung und der Palästinensischen Autonomiebehörde waren jedoch keine Friedensverhandlungen. Es ging einzig darum, den Rückzug zu koordinieren. Beide Seiten wollen verhindern, dass sich die Israelis «unter Feuer» zurückziehen, dass die israelische Armee beweisen «muss», dass sie immer noch in der Lage ist, die islamistische Hamas-Bewegung und die Gruppe Islamischer Dschihad zu bekämpfen. Die Israelis und die Autonomiebehörde (alles Leute aus der Fatah-Bewegung von Präsident Mahmud Abbas) wollen keinesfalls, dass Hamas behaupten kann, der Rückzug sei ein Resultat ihrer militärischen Aktionen. Doch über einen möglichen Friedensprozess nach dem Abzug wurde nicht gesprochen.

Die zentralen Fragen bleiben offen: Wie kann die besetzte Westbank mit Gasa verbunden werden? Und wie und wo können Menschen und Güter nach Gasa gelangen? Israel will Gasa endgültig von der Westbank abschneiden und damit selbst einen kleinen, aber verbundenen palästinensischen Staat verhindern, in dem die Menschen untereinander normale Kontakte pflegen könnten. Diese - in den letzten Jahren schon praktisch völlig unterbundenen - Verbindungen sind für die PalästinenserInnen von entscheidender Bedeutung. Immerhin scheinen auch einige der internationalen AkteurInnen zu wissen, dass zentrale Fragen unbeantwortet sind. Der ehemalige Präsident der Weltbank, James Wolfensohn, beispielsweise, der heute Gesandter des «Nahost-Quartetts» (USA, EU, Russland und Uno) für den Gasa-Abzug ist, schrieb noch in seiner Weltbank-Zeit, dass die Wirtschaft in Gasa in einer schweren Krise sei und der vorgesehene Abzug daran nichts ändere.

Scharon und die Fundamentalisten

Der Konflikt in Israel dreht sich nicht nur um den Rückzug aus dem Gasastreifen. Einige der Gruppen, die sich dagegen wehren, kämpfen nicht einfach für ihr heiliges Land, sondern für einen fundamentalistischen jüdischen Staat. Moderne Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten sind ihnen fremd, auch wenn sie den Bruch demokratischer Regeln durch die Regierung beklagen. Für sie sind Rechte bestenfalls Rechte für Juden und Jüdinnen. Für manche von ihnen gibt es keinen Platz für Nichtjuden in den «biblischen Grenzen» des Landes Israel. Die Ideologie der Gruppen von Kahane-AnhängerInnen oder auch SchülerInnen von Rabbi Itzhak Ginsburg ähnelt rassistischen, gar nazistischen Ideologien. Diese Leute - wie schon jener desertierte Soldat - werden nicht zögern, AraberInnen und sogar Jüdinnen zu töten, wenn diese sie an der Verwirklichung ihrer messianischen Träume hindern.

Ariel Scharon führt den pragmatischeren Flügel der Rechten an. Er hat auch ein persönliches Interesse an der intensiven Diskussion über seinen Gasa-Plan: Sie überdeckt ernst zu nehmende Korruptionsvorwürfe gegen ihn und seinen Sohn. Politisch soll der Abzug aus Gasa zeigen, dass Israel keine weiteren Schritte in Richtung Frieden machen kann, ohne einen Bürgerkrieg zu riskieren, der die Existenz des Staates Israel selbst gefährden würde. Scharon und seine GegnerInnen verfolgen letztlich das gleiche Ziel. Sie wollen demonstrieren, wie traumatisch der Rückzug aus Gasa ist. Und diese Farce geht weiter, selbst wenn die grosse Mehrheit der Israelis für den Rückzug ist. Der Mord an den vier israelischen Arabern ist eine Szene in diesem Stück, aber nicht unbedingt die letzte. In einem Land, in dem tausende aus ihren Häusern geschmissen werden, weil sie ihre Hypotheken nicht abzahlen können, und sich keiner darum schert, sind die Medien und die PolitikerInnen besessen vom Trauma der armen JüdInnen, die aus ihren Häusern in Gasa vertrieben werden (und dafür goldene Entschädigungen erhalten). Man scheint vergessen zu haben, dass der Bau der Siedlungen in den besetzten Gebieten nach internationalem Recht illegal war.

Was in den nächsten Wochen wirklich passiert, ist schwer vorherzusehen. Obwohl der Rückzug wirkliche Friedensverhandlungen verunmöglichen soll, sind manche PolitikerInnen optimistisch. Mahmud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, etwa. Und in den USA nimmt die Unterstützung für den Abzugsplan zu. Der Abzug könnte eine Dynamik entwickeln, die Scharon nicht stoppen kann. Plötzlich können die Israelis sehen, dass ein Rückzug möglich ist, ohne dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt - auch wenn die SiedlerInnen eine grosse Kampagne dagegen führen. Wie bei vielen sozialen und politischen Prozessen können die nichtbeabsichtigten Ergebnisse über die ursprünglichen Absichten der PolitikerInnen siegen. Dafür müssen die internationalen AkteurInnen ihre Verantwortung für die Situation im Nahen Osten wieder übernehmen.

Während des ganzen Rückzugtheaters geht vergessen, dass sich die Situation in der besetzten Westbank nicht im Geringsten verbessert. Die Besetzung geht weiter, und im israelischen Parlament werden drakonische Gesetze gegen die PalästinenserInnen erlassen, ohne dass dies irgendwo Proteste auslöst (beispielsweise ist es PalästinenserInnen nicht mehr erlaubt, Schadenersatz für von den Besatzungstruppen angerichtete Zerstörungen zu fordern). Die Mauer wird weiter gebaut - eine eigentliche Mauer des Hasses. Selbst für die palästinensische Bevölkerung Jerusalems verschlimmert sich die Lage. Und Abbas ist weit davon entfernt, eine Autorität in einer wirklichen Autonomie zu sein. Ariel Scharon ist durch den Rückzug aus Gasa noch längst nicht zu einem Mann des Friedens geworden.

Selbstverwaltung im grossen Knast

In Gasa wird die Freude gross sein, wenn die israelischen SoldatInnen endlich weg sind, wenn die Siedlungen, die so viel Land und Wasser rauben, endlich geräumt sind. Wenn die Menschen nicht mehr den täglichen Schikanen ausgesetzt sind, wenn nicht mehr ganze Gebiete plötzlich und willkürlich vom Rest des Gasastreifens abgeschnitten werden. Wenn die Strasse von Nord nach Süd nicht mehr dauernd gesperrt ist, die israelischen Checkpoints an dieser Strasse, die den Gasastreifen in drei Teile trennen, verschwinden, die Fahrt für die paar Kilometer nur noch wegen des chaotischen Verkehrs länger dauert als geplant. Doch bald wird Gasa wieder in Dreck und Müll versinken, Armut und fehlende Erwerbsmöglichkeiten werden die Freude über den Abzug vergessen lassen. Gasa bleibt ein Gefängnis: Noch ist nicht klar, wer überhaupt und wo aus Gasa ausreisen darf - doch sicher ist, dass die allermeisten Menschen im Gasastreifen eingesperrt bleiben.

Der politische Konflikt zwischen der islamistischen Hamas-Bewegung und den Autonomiebehörden ist nahe der Eskalation, nachdem Präsident Mahmud Abbas die für Juli vorgesehene Parlamentswahl verschoben hat. Im Juli kam es zu den schwersten Schiessereien seit Jahren. In ihrem jahrelangen Konflikt zeigen die politischen Anführer auf beiden Seiten Veranwortungsbewusstsein: Alle wollen einen bewaffneten Konflikt unbedingt vermeiden. Das ist wohl nicht zuletzt eine Lehre aus den verheerenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen exilierten Fraktionen der Palästinensischen Befreiungsorganisation in den achtziger Jahren. Doch ob sich die PolitikerInnen im Chaos der zahlreichen Flügel der Sicherheitsdienste und der bewaffneten, zum Teil kriminellen Banden langfristig durchzusetzen vermögen, ist fraglich. Handgreiflichkeiten, Schiessereien, persönliche Abrechnungen und kurzzeitige Entführungen sind schon heute beinahe alltäglich. Auch in der Westbank.

Armin Köhli