Israel: Opas Abgang

Nr. 2 –

Das Erbe von Ariel Scharon wird die israelische Politik bestimmen. Doch worin es eigentlich besteht, weiss niemand genau.

Wie krank das israelische politische System ist, zeigt die Aufregung um Ariel Scharons Krankheit. Premierminister Scharon hatte den Likud verlassen und eine neue Partei gegründet, die Kadima («Fortschritt»). Diese Partei ist Scharon, Scharon ist die Partei. Caudillo Scharon entschied, wer dazugehört und wer nicht; wer für Kadima kandidieren darf und auf welchem Listenplatz. Die neue Partei holte sich ihre neuen Stars. Ein typisches Beispiel dafür ist die vormalige Generalsekretärin des Erziehungsministeriums, Ronit Tirosch: «Ich erinnere mich nicht mehr, wen ich das letzte Mal wählte. Sicherheits- und Friedensfragen interessierten mich kaum. Aber ich will nicht die Nummer zwei sein.» Das Traurige daran ist, dass es wirklich keine Rolle spielt, was sie denkt. Scharon wird für alle denken. So sah es zumindest bis vor einer Woche aus.

Ein anderer, Altstar Schimon Peres, verlor das Rennen innerhalb der Arbeitspartei - und entdeckte das Licht: Scharon wird Frieden bringen. Peres schloss sich Kadima an. Verteidigungsminister Schaul Mofas kämpfte darum, als erster Kandidat des Likud anzutreten, und er beschuldigte dabei Scharon, Sicherheitsfragen hinter Parteiinteressen zu stellen. Doch als Mofas merkte, dass er den Kampf im Likud verlieren würde, entdeckte auch er das Licht.

Kadima steht für ein korruptes System; für ein demokratisches System, das zerfällt. Die israelische Demokratie herrscht über drei Millionen PalästinenserInnen und beraubt sie der elemen-tarsten Rechte. Scharons «Friedenspläne» waren in Israel und international attraktiv - obwohl sie sein Geheimnis blieben. Vielleicht wird das Geheimnis nie gelüftet werden. Scharon sprach von einem palästinensischen Staat. Applaus! Er billigte diesen Staat nur als Sammlung von Bantustans, daneben sollten israelische Siedlungen einen grossen Teil des palästinensischen Gebietes besetzen, und Jerusalem sollte in israelischen Händen bleiben. Er sprach von Frieden und setzte immer mehr Gewalt ein.

Wunschdenken ist nicht ein israelisches Monopol. Nach dem von Ariel Scharon angeordneten einseitigen israelischen Rückzug aus dem Gasastreifen wurde die Weltöffentlichkeit dominiert von Menschen, die mit Bewunderung über diesen obskuren Prozess sprachen. Sie schlossen ihre Augen. Der Gasastreifen, vorher besetzt von der israelischen Armee und rund 8000 SiedlerInnen, die dreissig Prozent der 363 Quadratkilometer beanspruchten, hiess nun «frei». Dabei blieb Gasa ein grosses Gefängnis, vollständig umgeben von israelischen (und ägyptischen) Truppen. Und Premierminister Ariel Scharon nützte die Gelegenheit, um jede ernsthafte Verhandlung mit den PalästinenserInnen zu unterbinden.

Der autoritäre Charakter von Kadima bildet die Achse der sich abzeichnenden politischen Krise. Die Kadima-Führer scharen sich derweil hinter den provisorischen Premierminister Ehud Olmert, denn das scheint die beste Überlebensstrategie. Vor drei Jahren, als Terror und Angst zunahmen, glaubten die Menschen: Scharon ist der Mann. Was war zu tun, wohin führte der Weg? Was sind die Mittel, was die Ziele? Die meisten Israelis glaubten an den starken Grossvater. Und jetzt herrscht wieder Angst. Das ganze System fühlt einen grossen Verlust. Er war fähig, uns aus Gasa zu holen. Er war der Mann für eine bessere Zukunft. Er wusste es. Und plötzlich ist der allmächtige Grossvater weg. Nachrichten sind heute Nachrichten aus dem Spital. Das Spital wurde zum Zentrum des israelischen politischen Universums, und für einige Tage waren PolitikerInnen fast aller Parteien Teil einer einzigen Gemeinschaft. In allgemeiner Trauer, emotionaler Stille und ohne Politik. Denn Verantwortungsbewusstsein bedeutet für sie Schweigen. Jedes einzelne Wort könnte von den Massen falsch interpretiert werden, die anscheinend ja sowieso nur auf Neuigkeiten über Scharons Zustand warten. Niemand wagt, etwas Sinnvolles zu sagen.

Die Hinterbliebenen bei Kadima beginnen im Namen von Scharons Erbe zu sprechen. Das Problem dabei ist, dass niemand so genau sagen kann, worin denn Scharons Erbe besteht. So könnten die vierzig verbleibenden Kadima-Überlebenden um den schweigenden König im Rollstuhl sitzen und versuchen, die Laute, die er vielleicht noch von sich geben kann, in «Botschaften» des Orakels zu übersetzen. Und Übergangspremier Olmert, heute pragmatischer als früher, kann gemeinsam mit dem Nobelpreisträger Peres - einem der besten Werbetexter für Frieden - über die geheimen Träume des allmächtigen Grossvaters fantasieren. Laut jüngsten medizinischen Berichten wird Scharon nicht dementieren können.

Während die Kadima-Führer das Maximum holen wollen, indem sie sich als die wahren Erben Scharons darstellen, müssen Benjamin Netanjahu vom Likud und Amir Peretz von der Arbeitspartei über eine neue Strategie nachdenken. Noch vor einer Woche schien der Ausgang der Parlamentswahl vom 28. März klar: Scharon würde eine neue Koalition bilden und bestimmen. Der Likud würde die Wahl verlieren. Nun ist alles wieder offen. Wenn sich das System vom Schock erholt hat, wird die zentrale Frage lauten: Wie stark ist Scharons Partei ohne einen aktiven Scharon? Selbst wenn Scharon überlebt, könnte er nur noch als Symbol dienen, das seinen AnhängerInnen beim Stimmensammeln hilft. Doch wie mächtig wird das Symbol später sein? Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas gab bekannt, dass die PalästinenserInnen mit jedem sprechen werden, den die Israelis wählen. Die Frage ist, ob die Israelis jemanden wählen, der wirklich über Frieden reden will.

Zvi Schuldiner ist Dekan des Fachbereiches Politik und Öffentliche Verwaltung am Sapir College der Jüdischen Universität in Ashkelon.

Ariel Scharon : Unversöhnlich


Noch kämpft der israelische Premierminister ums Überleben - dem Mythos Ariel Scharon ist dies nur dienlich. Der einseitige israelische Rückzug aus dem Gasastreifen verhalf ihm zum Bild eines neuen Scharon. Der alte Scharon hatte schon in den fünfziger Jahren Zwischenfälle an der Grenze zu Jordanien provoziert. Denn er forderte eine aggressivere Politik gegenüber den arabischen Staaten. In den siebziger Jahren war Scharon als General verantwortlich für das Kommando Süd der Armee, und als Folge seiner Repression in Gasa starben 120 PalästinenserInnen. General Scharon weibelte dafür, den Streifen unbedingt in israelischen Händen zu behalten. Er wollte die Zahl der BewohnerInnen der illegalen israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten drastisch steigern. Damals war er der König der extremen Rechten.

1981 liess Verteidigungsminister Scharon die Siedlungen im ägyptischen Sinai räumen, obwohl ihm das israelisch-ägyptische Friedensabkommen nicht passte. Doch schon im Jahr darauf bewies er, dass sich die rechtsextremen Israelis trotzdem auf ihn verlassen konnten. Damals hielt ein Waffenstillstand zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) an der israelisch-libanesischen Grenze elf Monate lang. Dann wurde der israelische Botschafter in London durch ein Attentat verwundet. Vermutlich war dafür die terroristische Gang von Abu Nidal verantwortlich. Ariel Scharon nutzte dies als Vorwand, die Armee in den Libanon einmarschieren zu lassen. Die Aktion sollte angeblich nur ein paar Tage dauern - es resultierte ein achtzehnjähriger Krieg. Nach dem Massaker christlicher Milizen in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila in Beirut im Jahr 1982, das unter den Augen israelischer SoldatInnen stattfand, zwang eine israelische Untersuchung Scharon zum Rücktritt.

1984 kehrte Scharon in eine Koalitionsregierung zurück - sein alter Freund Schimon Peres von der Arbeitspartei gab ihm das Industrieministerium. Scharon wandte sich konsequent gegen jede Friedens- und Versöhnungsinitiative. Er war 1985 gegen den Teilrückzug aus dem Libanon. Um die Madrider Nahostkonferenz von 1991 zu torpedieren, liess er in den besetzten Gebieten neue Siedlungen gründen. Er stellte sich 1993 gegen die palästinensisch- israelischen Oslo-Abkommen und 1997 gegen das Hebron-Abkommen, kritisierte den Rückzug aus dem Südlibanon im Jahr 2000 heftig und «besuchte» den von JüdInnen so genannten Tempelberg - jenen Ort, an dem sich die Aksa- und die Omar-Moschee befinden. Diese Provokation löste die zweite palästinensische Intifada aus.

Seit 2001 ist Scharon Premierminister. Die Repression der israelischen Armee wurde seither brutaler. Praktisch immer, wenn die «Gefahr» eines diplomatischen Lösungsansatzes real wurde, entschied die israelische Armee, einen «gesuchten Terroristen» zu töten. Die dadurch ausgelösten palästinensischen Vergeltungsaktionen nährten die Gewalt.

Um internationalem Druck auszuweichen, veranlasste Scharon den einseitigen Abzug aus Gasa. Dadurch änderte sich sein Image drastisch. Denn die Menschen wollen Hoffnung. In dieser fiebrigen Hoffnung übersahen sie, dass die israelische Regierung unter Scharon schon kurz nach dem Abzug eine Repressionskampagne in den besetzten Gebieten begann. Und dass Gasa ein grosses Gefängnis geblieben ist. Die Siedlungen in den besetzten Gebieten werden ausgebaut. Das Ziel von Scharons Politik ist es, den PalästinenserInnen ein Abkommen aufzuzwingen, das von Frieden weit entfernt ist. Der «Mann des Friedens», wie ihn US-Präsident George Bush nannte, war ein konsequenter Krieger, weit entfernt von jeder versöhnlichen und friedlichen Politik.

Zvi Schuldiner