Wirtschaftswachstum: Staatliche Kuchenkontrolle

Nr. 41 –

Die KonjunkturforscherInnen revidieren die Prognosen laufend nach unten. Wie kann die Schweizer Wirtschaft wieder wachsen, wer soll davon profitieren?

Während das Thema Wachstumsschwäche längst zum Dauerbrenner wurde, kaut die ÖkonomInnenzunft die ewig gleichen Wachstumsrezepte wieder. Gefragt sind jedoch neue Konzepte, die den Weg aus der Sackgasse weisen.

Aymo Brunetti ist Chefökonom beim Staatssekretariat für Wirtschaft. Seiner Meinung nach entsteht Wachstum durch Steigerung des Angebotes an Waren und Dienstleistungen. Um dies zu erreichen, soll der Staat Anreize für die Unternehmen zu vermehrten Investitionen und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze schaffen. Dies soll durch massive Steuersenkungen geschehen. Dadurch steigen die verfügbaren Einkommen, mit denen die KonsumentInnen das produzierte Mehrangebot kaufen können. Kurz: Steuersenkungen für Unternehmen sind für die Wirtschaft, was der Kickstarter für den Töff. Diese Theorie wurde in den siebziger Jahren in den USA entwickelt und machte dann unter dem Namen «Reagonomics» Furore.

Serge Gaillard ist Ökonom beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) und vertritt die Gegentheorie. Er betrachtet nicht die Angebotssteigerung durch Steuersenkung als wichtigsten Impuls für den Aufschwung, sondern vielmehr die Nachfragesteigerung durch Lohnerhöhung. Nach Gaillard sind höhere Löhne der entscheidende erste Wachstumskick. Diese Kaufkrafttheorie liefert dem Gewerkschaftsbund das theoretische Fundament für die laufenden Lohnverhandlungen, mit Forderungen je nach Branche zwischen 1,5 und 3 Prozent. Die Kaufkrafttheorie entwickelten Gewerkschaftsökonomen im Zuge der Weltwirtschaftskrise von 1931.

Silvio Borner ist Wirtschaftsprofessor in Basel. Sein Rezept für Wirtschaftswachstum unterscheidet sich sowohl von Gaillards als auch von Brunettis Vorschlägen. Laut Borner hilft blosse Ankurbelungspolitik heute nicht mehr, weder die im Interesse der ArbeitnehmerInnen noch jene im Interesse der UnternehmerInnen. Laut Borner ist die Wachstumsschwäche strukturell bedingt und muss mit einer Vollprivatisierung, kombiniert mit Totalderegulierung, bekämpft werden. Der Staat, insbesondere die seiner Meinung nach wirtschaftsschädigenden Mechanismen der direkten Demokratie, soll die Wirtschaft nicht mehr behindern. Diese Forderung stellt Borner seit etwa zwanzig Jahren.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: In der Wachstumspolitik dreht sich alles seit langem nur noch im Kreise.

Irlands Aufstieg

Als Vorbild für die wachstumsschwache Schweiz wird oft das boomende Irland angeführt, ein Land mit gut halb so vielen EinwohnerInnen und einer etwa um ein Viertel grösseren Fläche.

Im Vergleich mit Irland macht die Schweiz eine schlechte Figur. Während das inflationsbereinigte jährliche Schweizer Bruttoinlandsprodukt von 1970 bis 2004 im Schnitt nur etwa ein Prozent wuchs, verzeichnete Irland im gleichen Zeitraum etwa fünf Prozent Jahreswachstum.

Der kometenhafte Aufstieg Irlands erklärt sich auf dem Hintergrund von dessen Geschichte. Ihre Autonomie von Britannien erkämpften sich die IrInnen, das heisst der Südteil der Insel, nach jahrhundertelangem bewaffnetem Kampf gegen die britischen Besatzer erst im Befreiungskrieg 1921. Die volle Unabhängigkeit kam mit dem Austritt aus dem Commonwealth 1949. Bis in die siebziger Jahre blieben die IrInnen dann noch mausarme Melancholiker, wenn man dem deutschen Schriftsteller und Irland-Fan Heinrich Böll glauben darf. Doch hinter Whiskeyflasche und Akkordeon versteckte sich der jahrhundertealte Drang einer noch stark agrarischen Bevölkerung, es den einstigen Ausbeutern in London endlich einmal zu zeigen. An die Regierungsspitze wählten sie 1979 mit allen Wassern gewaschene Politiker wie den aus alter IRA-Familie stammenden Charles J. Haughey, der wegen Waffenschmuggels und Korruption bestraft worden war.

Haughey und andere entschlossene irische PolitikerInnen fanden in den folgenden Jahren den Dreh, ihr Land in privilegierter Position in die internationale Arbeitsteilung einzuklinken. Nach Meinung der ExpertInnen ist das irische Wachstumswunder die Frucht des konsequenten Nachvollzuges einer neoliberalen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik.

Als kleines, Englisch sprechendes Land, geopolitisch zwischen seinen Vorbildern USA und Britannien positioniert, lag Irland vor 25 Jahren ideal, um von der Dynamik der damals neuen Wirtschaftspolitik Margaret Thatchers und Ronald Reagans zu profitieren. Gemeinsam mit seinen einstigen Peinigern in London baute Irland einen Offshore-Finanzplatz auf. So verschob beispielsweise der italienische Financier Sergio Cragnotti zu Beginn der neunziger Jahre einen grossen Teil seiner ausgedehnten Offshorestrukturen von Lugano nach Dublin. Auch im Airline-Business punktete Irland gegen die Schweiz: Seine Ryanair erkannte, ganz im Gegensatz zur Swissair, schon früh, dass die Zukunft dieser Branche im Billigsegment liegt.

Parallel zum Aufbau des Offshorezentrums entstand in Irland ein vorgeschobener Stützpunkt der US-Wirtschaft. Unternehmen wie Citigroup, Dell, HP und viele andere überzogen die grüne Insel mit Montagewerken und Callcentern.

Kann das irische Wachstumsrezept von gestern das Wachstumsrezept der Schweiz von morgen sein? Wohl kaum. Denn der Fall Irland ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Der Staat gehört geopolitisch zum angloamerikanischen Kulturkreis und konnte sich deshalb vor 35 Jahren privilegiert in die neoliberale Wirtschaftsdynamik einklinken.

Doch wie 25 Jahre weltweiter neoliberaler Wirtschaftspolitik belegen, funktionierte das längst nicht für alle Länder. Langfristig bevorzugt die Doktrin vom freien Markt für freie BürgerInnen die grossen und reichen Akteure und benachteiligt die kleinen und armen.

Umstrittenes Wachstumsmass

Wenn sich alles im Kreise dreht, schlägt die Stunde der Grundsatzfragen. Was heisst überhaupt Wachstum? Die gesamtwirtschaftliche Leistung eines Landes wird mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen, das den Geldwert der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen misst. Daran lässt sich das Wachstum einer Volkswirtschaft ablesen.

Allerdings ist das Wachstumsmass BIP unter Fachleuten umstritten. Denn realwirtschaftlich betrachtet ist die Schaffung neuer Arbeitsplätze der zentrale Bereich der Wachstumspolitik. Das BIP ist bloss eine statistische Masszahl, der Besitz oder Nichtbesitz eines Arbeitsplatzes ist die Realität von Menschen.

An dieser Stelle kommt die staatliche Industriepolitik ins Spiel, also die staatliche Förderung der Rahmenbedingungen für warenproduzierende Wirtschaftssektoren. Seitdem die Abwanderung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer in zahlreichen Ländern dramatische Ausmasse angenommen hat, nimmt die Bedeutung dieses Themas ständig zu. Gleich wie staatliche Industriepolitik kann auch staatliche Bankenpolitik, verstanden als Regulation der Binnenfinanz, sowie Finanzplatzpolitik, verstanden als Regulation grenzüberschreitender Finanzdienstleistungen, die Rahmenbedingungen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze verbessern.

Staatliche Industrie-, Banken- und Finanzplatzpolitik ist für neoliberale MainstreamökonomInnen bekanntlich ein Tabu. Seitdem der Realitätsbezug des Dogmas «Mehr Markt, weniger Staat» im Zuge eines weltweit wachsenden Protektionismus zunehmend schwindet, ist hier ein Tabubruch angesagt. Wirtschaftswachstum heisst neue Arbeitsplätze schaffen, und das können die Binnenmärkte heute in der Schweiz ohne Staatsintervention nicht.