Gentech-Initiative: Erst die Hausaufgaben
Wären Lebewesen so simpel, wie die Gentech-Industrie behauptet, dann wären gentechnisch veränderte Pflanzen kein Problem.
Die Gentechfrei-Initiative, die am 27. November [2005] zur Abstimmung gelangt, verlangt ein fünfjähriges Moratorium für den kommerziellen Anbau von gentechnisch manipulierten Pflanzen. Das Moratorium könnte der Forschung, die bei Annahme der Initiative erlaubt bliebe, Zeit geben, die dringend notwendigen Hausaufgaben zu machen.
In den letzten Jahren hat sich immer deutlicher gezeigt, dass das simple Verständnis des Erbguts als Baukastensystem – das Dogma, einzelne Gene könnten über die Artengrenze hinweg verschoben werden und behielten dabei ihre Funktion unverändert bei – revidiert werden muss. Gene sind keine Legobausteine: Sie sind ambivalent und dynamisch, kommunizieren und interagieren mit andern Genen und Molekülen und unterliegen komplexen Regulationsmechanismen. Dabei spielt auch die so genannte Epigenetik eine weitaus grössere Rolle als lange Zeit angenommen.
«Epi» heisst «darüber»; die Epigenetik ist ein «übergeordnetes» Informationssystem. Mithilfe dieses Systems kann die Zelle die Aktivität der Gene regulieren; sie kann Gene an- oder abschalten oder sie gar verändern. Dazu stehen verschiedene Moleküle (Proteine oder kleine DNA-Sequenzen) zur Verfügung. Es entsteht ein neues Bild des Lebens – wobei vieles noch im Dunkeln liegt.
Das alte Dogma liess Gentechnik bei Pflanzen als sicher erscheinen. Obwohl inzwischen widerlegt, liegt es heute noch der offiziellen Sicherheitsphilosophie zugrunde, auch wenn kleine Anpassungen vorgenommen wurden. Zentrale Erkenntnisse der Epigenetik haben kaum Eingang in die Risikobewertung gefunden. Es braucht noch viel Forschung, um epigenetische Auswirkungen auf Mensch und Umwelt zu erforschen, bevor gentechnisch veränderte Organismen (GVO) grossflächig in die Natur freigesetzt werden.
Dinosauriertechnologie
Greenpeace Deutschland organisiert 2005 zusammen mit dem Öko-Institut Deutschland einen Kongress, an dem solche Fragen diskutiert werden. Im Vorfeld habe ich mit den eingeladenen ForscherInnen Interviews durchgeführt.
Der Molekularbiologe Cesare Gessler von der ETH Zürich unterstützt die Gentechfrei-Initiative: «Gentechnik ist nicht ausgereift. Die heutigen Produkte der Gentechnik sind auf dem Niveau einer Dinosauriertechnologie. Wir benutzen artfremde Gene; wir wissen nicht, wo im Genom diese eingebaut sind oder was sonst in der ganzen Kette vom Gen bis zum Protein verändert wird. Wir wissen nicht, in welche Regulationszusammenhänge wir eingreifen. Ein weiterer Punkt ist: Wir kennen heute viele Gene, die momentan keine Funktion haben. Wir kennen zum Beispiel ganze Clusters von Resistenzgenen. Die haben vorderhand keine Funktion; sie sind stillgelegt. Doch wenn ein Krankheitserreger seine Erkennungsproteine verändert, kann es sein, dass die Pflanze dank einem bis anhin nicht funktionellen Resistenzgen den Krankheitserreger trotzdem erkennt. Also hat dieses Gen eine Funktion, auch wenn es lange Zeit nicht aktiv war.»
Weil noch so viele offene Fragen bestehen, hält es Gessler für falsch, die heutigen transgenen Pflanzen freizusetzen. Das sei auch noch nicht nötig, denn vorgängig brauche es noch sehr viel Forschung im Gewächshaus: «Erst wenn alles funktioniert und wir alles getestet haben, können wir etwas aufs Feld bringen. So weit sind wir noch lange nicht. Solange wir zum Beispiel den 35S-Promotor (‹Genschalter›, der von einem Virus stammt, Anm. der Redaktion) brauchen, um fremde Gene in ein Genom einzubringen, sehe ich überhaupt nicht ein, wieso wir aufs Feld hinausgehen sollten.»
Gessler plädiert dafür, das grosse genetische Wissen für das so genannte Marker Assisted Breeding zu verwenden, also zur Verwendung von Genmarkern bei der konventionellen Züchtung. So könne schneller und präziser gezüchtet werden. Er selbst verwendet diese Technik zur Apfelzüchtung. Die gentechnische Übertragung arteigener Gene hält sich Gessler als Zukunftsvision offen.
Reiches Variantenreservoir
Auch der Molekulargenetiker Marcello Buiatti von der Universität Florenz betont, dass die Wissenschaft bei der Erforschung epigenetischer Mechanismen am Anfang stehe. Epigenetische Veränderungen spielten bei Pflanzen eine noch viel grössere Rolle als bei Tieren oder Menschen: «Verschiedene Zellen einer Pflanze haben beispielsweise nicht notwendigerweise – so wie es normalerweise bei den Tieren der Fall ist – denselben Genotyp, das heisst dieselben Gene. Gewebe in ein und derselben Pflanze haben unterschiedlich viele Chromosomen, tragen unterschiedlich mutierte Gene und weisen häufig auch noch verschiedene Varianten derselben Gene auf. So können Pflanzen zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens und unter verschiedenen Umweltbedingungen die gerade vorteilhafte Variante auswählen; ihr Reservoir an Varianten ist viel grösser als das von Tieren.» Das mache gentechnische Veränderungen bei Pflanzen noch unberechenbarer.
Fast alle befragten ForscherInnen haben ähnliche Einwände gegen die Herstellung von GVO, auch wenn es bisher kaum Studien zu unerwünschten Auswirkungen epigenetischer Veränderungen gibt. Das erstaunt den Molekularbiologen Gilles-Eric Seralini von der Universität Caen nicht. Seralini gehört unter anderem zwei französischen Regierungskommissionen zur Risikobewertung gentechnisch veränderter Pflanzen an. Er sagt, dass zur Herstellung von gentechnisch veränderten Pflanzen viele Versuche unternommen werden müssten und nur bei ganz wenigen die Genübertragung auch funktioniere. Etwa 98 Prozent aller transgenen Pflanzen funktionierten nicht, aus vielerlei Gründen. Diese würden einfach weggeworfen und nicht weiter untersucht. «Man findet also sehr wenige Studien zum Thema. Deshalb sollten wir uns bewusst sein, dass die Untersuchungen zur Zusammensetzung gentechnisch veränderter Organismen bei weitem nicht ausreichen, um die Toxizität oder irgendwelche unerwarteten Effekte solcher Pflanzen vorhersagen zu können.»
Seralini weist auf ein weiteres Problem hin: Fast hundert Prozent aller gentechnisch veränderten Pflanzen tolerieren Herbizide oder produzieren Pestizide. Und es ist ein einziges Herbizid – Roundup Ready von Monsanto – gegen das 75 bis 80 Prozent all dieser Pflanzen resistent gemacht wurden. Das Herbizid sei nicht harmlos: «Wir konnten in unserm Labor zeigen, dass menschliche Plazentazellen sehr empfindlich auf Roundup Ready reagieren, selbst bei niedrigerer Konzentration als in der landwirtschaftlichen Anwendung. Dies könnte Fehl- und Frühgeburten bei nordamerikanischen Bäuerinnen erklären. Wir haben auch andere Auswirkungen festgestellt.»
Schrumpelkerne
Seralini schlägt vor, dass GVO ebenso wie Pestizide auf ihre Toxizität hin geprüft werden sollen: «Die EU-Pestizidrichtlinie CEE/91/414 fordert eine viel umfassendere Beurteilung. Wenn Sie ein neues Pestizid bewerten wollen, müssen Sie das neue Pestizid drei Monate an drei verschiedene Tierarten verfüttern – meist sind das Ratten, Mäuse und Hunde. Ausserdem ist vorgeschrieben, dass das neue Pestizid einer Art – zumeist Hunde – für die Dauer von einem Jahr und einer anderen – in der Regel Ratten – zwei Jahre lang verfüttert werden muss. Es gibt absolut keinen wissenschaftlichen Grund, diese Experimente nicht auch auf gentechnisch veränderte Pflanzen zu übertragen.» Heute seien bei GVO keine obligatorischen Toxizitätstests vorgeschrieben. «Ich meine, es ist idiotisch, den Menschen während des ganzen Lebens GVO zu geben, während nicht einmal Toxizitätstests für drei Monate vorgeschrieben sind.» Er sei auch sicher, sagt Seralini, dass die heutige Risikobewertung von gentechnisch veränderten Pflanzen nicht ausreichend sei – unter anderem wegen neuer Erkenntnisse in der Epigenetik.
Die Molekularbiologin Manuela Malatesta von der Universität Urbino untersuchte Mäuse, die mit gentechnisch verändertem Roundup-Soja gefüttert wurden, und verglich sie mit solchen, die normales Futter bekamen. «Wir untersuchten die Zellkerne von Leberzellen. Bei Mäusen, die gentechnisch manipuliertes Futter bekamen, fanden wir signifikante Veränderungen», erzählt Malatesta. «Die Leberzellen wiesen unregelmässig geformte Zellkerne auf – diese sahen aus, als wären sie gerunzelt – wohingegen die Zellkerne der Kontrolltiere eine glatte rundliche Form hatten. Eine unregelmässige Form deutet im Allgemeinen auf eine hohe Stoffwechselrate hin, und zusammen mit einer grossen Anzahl von Poren in den Zellkernmembranen lässt das auf eine intensive Molekularbewegung schliessen. Unser Fazit lautet: Die Leber einer Maus, die mit Gentech-Soja gefüttert wurde, scheint Zellen zu haben, die härter arbeiten müssen, als die Leber einer Maus, die mit natürlichen Sojabohnen gefüttert wurde.» Malatesta sagt, es brauche noch viele multidisziplinäre Studien, bevor GVO angebaut und konsumiert werden könnten – falls dies überhaupt eine Option sei.
Zu viele Unbekannte
Der Pflanzenphysiologe Richard Firn von der Universität York (GB) erforscht so genannte Sekundärmetaboliten bei Pflanzen. Das sind chemische Stoffe, die die Pflanze produziert, um ihr Überleben zu sichern. So produzieren zum Beispiel Tabakpflanzen Nikotin, um sich gegen Schadinsekten zu wehren. Pflanzen können rund eine halbe Million verschiedener Sekundärmetaboliten herstellen. Firn sagt, dass diese enorme chemische Vielfalt für die Pflanze eine wichtige Strategie darstelle, um schnell auf neue Bedrohungen reagieren zu können. Die Stoffe können mehrere Funktionen haben, und sie können biologisch hoch aktiv – und toxisch – sein. Es gehöre zum eigentlichen Wesen von Sekundärmetaboliten, nicht berechenbar und vorhersehbar zu sein. Da bedeute ein Gentransfer eine neue, zusätzliche Ebene der Unsicherheit.
Firn sagt: «Risikoabschätzungen können nur Ergebnisse vorhersagen, die aus dem vorhandenen Wissen und Verständnis ableitbar sind. Das wachsende Verständnis der Mechanismen, die den epigenetischen Effekten zugrunde liegen, bringt eine Komplexität ans Licht, die zwangsläufig bedeutet, dass Risikoabschätzungen, die GVO betreffen, einen grösseren Unsicherheitsfaktor in sich bergen, als uns lieb ist.» In Bezug auf Freisetzungen gebe es wohl nicht nur eine Antwort - ausser der Einsicht, dass die simplen Ansichten der letzten zwei Dekaden teilweise redigiert werden müssen. Firn sagt: «Es wäre schön, wenn sich eine grössere Bescheidenheit durchsetzen und mehr ExpertInnen die Grenzen ihres Wissens zugeben würden.» Ein Anbaumoratorium wäre die Chance, solche Problemfelder vermehrt zu erforschen.
Die Interviews, die diesem Artikel zugrunde liegen, wurden im Auftrag von Greenpeace geführt.
www.blauen-institut.ch.
Abstimmungstaktisches Zaudern
Die Forschung erhält Zeit, die Risiken von Gentech-Lebensmitteln und -Anbau zuverlässig abzuklären: Das ist ein Argument, das die BefürworterInnen der Gentechfrei-Initiative ins Feld führen. Das Moratorium wird nur für «die kommerzielle Anwendung von gentechnisch veränderten Pflanzen und Tieren in der Umwelt» gelten, nicht für die Forschung. Seine GegnerInnen bangen dennoch um den Forschungsstandort Schweiz. Dieter Imboden, Präsident des Forschungsrates des Schweizerischen Nationalfonds, sagte an einer Tagung der ETH im März 2005, ein Ja zur Initiative wäre ein «Desaster» und würde in der Schweiz ein Klima schaffen, das die Gentechnologie für ForscherInnen völlig unattraktiv mache.
Alle wollen also, dass geforscht wird - doch ausgerechnet jetzt bremst der Bundesrat. An der ETH-Tagung im März kündigte Imboden ein Nationales Forschungsprogramm über «Nutzen und Risiken der Freisetzung genetisch veränderter Organismen» an. Imboden bestreitet auf Anfrage, dass er mit der Ankündigung KritikerInnen ruhig stellen wollte, die den Bund bezichtigen, zu wenig Risikoforschung zu betreiben: «Das war nicht politisch motiviert. Der Forschungsrat hat sich mit der Sache auseinander gesetzt und das Programm zustimmend verabschiedet.»
Geprüft werden die Nationalfondsprogramme auch vom Staatssekretariat für Bildung und Forschung im Departement des Innern (EDI). Auf Antrag von Innenminister Pascal Couchepin entscheidet der Gesamtbundesrat über deren Umsetzung. Diesen Entscheid erwartete der Nationalfonds auf Mitte Oktober - doch der Bundesrat vertagte das Geschäft. Auf Nachfrage der WOZ hiess es beim Nationalfonds Anfang November, die bundesrätliche Antwort werde möglicherweise erst 2006 erfolgen. «Im Dezember werde ich den Staatssekretär für Bildung und Forschung, Charles Kleiber, darauf ansprechen», sagt Dieter Imboden.
In seiner Funktion als Präsident des Forschungsrats möchte sich Imboden zur abwartenden Haltung des Bundesrats nicht äussern, aber: «Als denkender Staatsbürger liegt es natürlich nahe, einen Zusammenhang mit der Abstimmung vom 27. November zu vermuten.» Ein Entscheid für das Programm kurz vor der Abstimmung könnte als Eingeständnis des Bundesrats gegenüber den Anliegen der Gentechfrei-InitiantInnen für mehr Risikoforschung interpretiert werden. Das EDI wollte sich dazu nicht äussern.
Beat Camenzind