DIE ANGST VOR DEM FREMDEN: Im inneren Ausland

Nr. 48 –

Was hat die Krise alternativer Sozialbewegungen mit der wachsenden Fremdenfeindlichkeit zu tun? Aus sozialpsychologischer Sicht sehr viel.

Fremdenfeindlichkeit ist in allen westlichen Gesellschaften anzutreffen. Ihre massenhafte Verbreitung ist Ausdruck der Krise dieser Gesellschaften. Sie ist aber auch Ausdruck der Krise der Kritik an ihnen. Das Wiedererstarken der rechten Gewaltbereitschaft ist nicht zuletzt eine Konsequenz einer tiefen Krise der Linken, die das demokratische Potenzial der Gesellschaft entscheidend schwächt.

Gegen den Nationalismus und die mit ihm verbundene Fremdenfeindlichkeit propagierte die sozialistische ArbeiterInnenbewegung die internationale Solidarität der Werktätigen. Durch die Niederlagen und Perversionen des Sozialismus hat der Nationalismus immer mehr an Einfluss gewonnen. Auch die Alternativbewegungen der letzten Jahrzehnte wie die StudentInnenbewegung, die Frauenbewegung, die Ökologiebewegung oder die Friedensbewegung haben - trotz ihrer sicherlich auch problematischen Seiten - direkt oder indirekt der Fremdenfeindlichkeit entgegengewirkt. Wo solche Bewegungen zerfallen und keine neuen wie etwa die Antiglobalisierungsbewegung entstehen, wächst diese an.

Verleugnete Destruktivität

Unser Verhältnis zu Fremden ist mit dem verknüpft, was uns an uns selbst fremd ist. Das «innere Ausland» (Freud), das Unbewusste, bestimmt entscheidend mit, wie AusländerInnen erfahren werden. Wenn sich das Ich aufgrund einer fehlgelaufenen Erziehung nicht entwickeln konnte oder aufgrund eines Mangels an sozialen Gestaltungsräumen verkümmert, sind Menschen in Gefahr, nicht durchschauten inneren Mächten zu verfallen. Was gesellschaftlich tabuisiert ist oder das gewünschte Selbstbild zu sehr bedroht, kann abgespalten und verdrängt werden. Das dem Bewusstsein Entzogene kann wiederkehren, indem es auf andere projiziert wird, indem es Fremden unterschoben wird. Das Bild des Fremden kann von dem entstellt sein, was man insgeheim ist oder begehrt. Die eigene verleugnete Destruktivität kann im Bild des gewalttätigen Fremden wiederkehren: Wo man viel arbeiten muss, erscheinen AusländerInnen leicht als faul, wo man den Mund halten muss, gelten sie als laut, wo Sexualität nicht gelebt werden kann, gelten ihre Triebe als bedrohlich.

Mehr Anteilnahme am Schicksal von AusländerInnen kann nicht durch blosse Aufklärung und moralische Appelle erlangt werden. Nur ein anderes Verhältnis zum eigenen Begehren, nur ein freieres Wünschen erlauben es, sie als Bereicherung zu erfahren. Dem stehen äussere und innere Barrieren entgegen. «Die Angst macht die Verdrängung» (Freud), sie verzerrt Bedürfnisse und schlägt mit Blindheit gegenüber äusseren und inneren Realitäten. Eine andere Beziehung zum eigenen Selbst wie zu anderen Menschen verlangt deshalb den Abbau von Angst. Dieser Abbau ist an sicherheitsstiftende soziale Beziehungen gebunden, die es dem Ich erlauben, sich Ängsten anders als bisher zu stellen.

In den vergangenen Jahrzehnten haben die StudentInnenbewegung, die Frauenbewegung, die Ökologiebewegung oder die Friedensbewegung Jugendlichen oder Erwachsenen nicht nur erlaubt, ihre Kritik an lebensfeindlichen Realitäten auszudrücken. Im Rahmen dieser Bewegungen sind auch vielfältige Beziehungen zustande gekommen, die es begünstigt haben, Ängste vor dem Erproben anderer Umgangsformen abzubauen und dadurch andere Wünsche und Bedürfnisse zu entdecken. Wo solche Emanzipationsbewegungen zerfallen, fehlt ein wichtiges Element für Lernprozesse, aus denen Offenheit gegenüber Fremdem erwächst.

Lebensgeschichtliche Entwicklungen sind immer mit der Auseinandersetzung mit dem Fremden verbunden. Wie die Ablösung von Vertrautem und die Hinwendung zu Fremdem gelingt, ist entscheidend für das Gelingen oder Misslingen menschlicher Reifung. Jeder positive Lernprozess muss durch die Angst vor Fremdem hindurch, nur nach ihrer Überwindung kann es als Bereicherung erfahren werden. Das «fremdelnde» Kleinkind fürchtet sich vor allen Menschen, die nicht seine Bezugspersonen sind. Das Kind, das in die Schule eintritt, hat Angst vor den vielen fremden Kindern. Die Pubertät ist mit der Angst vor den fremdartigen Mitgliedern des anderen und auch des eigenen Geschlechts verbunden.

Seelischer Halt im Nationalen

Wie frühere Hinwendungen zum Fremden verlaufen sind, hat entscheidenden Einfluss darauf, wie es in der Gegenwart erfahren wird. Wenn notwendige Trennungsprozesse nicht gelungen sind und so fragwürdig gewordene frühere Bindungen bewusst oder unbewusst fortbestehen, muss die Erfahrung des Fremden besonders ängstigend ausfallen. Dass Menschen kultur- und politikfähig werden, erfordert die Ablösung von frühen Bindungen an die Herkunftsfamilie. Wo diese misslingt, kann es auf der politischen Ebene zum Nationalismus kommen, der unbewusst ein politisches Gemeinwesen mit der Herkunftsfamilie gleichsetzt und diejenigen ausgrenzen will, die nicht «zu uns» gehören. Nur seine familiäre Aufladung erlaubt die Leidenschaften, die dem Nationalen gelten können.

Infantile Bindungen und die ihnen entsprechenden Realitätserfahrungen können da nicht überwunden werden, wo die Gesellschaft ihren Mitgliedern ein mündiges Erwachsensein verwehrt. In einer Gesellschaft, in der immer mehr Lebensbereiche von der unpersönlichen Macht des Geldes regiert werden und sich Menschen immer mehr von bürokratisch strukturierten Grossorganisationen anonym verwaltet fühlen, besteht die Neigung, seelischen Halt regressiv beim Nationalen zu suchen, das Gemeinschaftsgefühle gegenüber der gesellschaftlichen Kälte verspricht. Die Überwindung von nationalistischen Fiktionen der Zusammengehörigkeit kann nur durch demokratische Emanzipationsbewegungen zustande gebracht werden, die wirkliche soziale Beziehungen stiften und ein anderes Erleben zulassen.

Die Neigung zur Gleichmacherei, die alles Fremde ausgrenzen will, ist mit einem fragwürdigen Umgang mit der Geschlechterdifferenz verbunden. Wie man sich zur Andersartigkeit von Menschen aus anderen Kulturen verhält, ist entscheidend vom Verhältnis zum anderen - und auch zum eigenen - Geschlecht abhängig. Wo bei Männern Frauenfeindlichkeit auftritt, werden typischerweise neben Ausländern auch Jüdinnen, Homosexuelle oder psychisch Kranke, also «Abweichler» aller Art, diskriminiert. Militante Ausländerfeinde finden sich zurzeit vor allem unter männlichen Jugendlichen, die während der Adoleszenz in Schwierigkeiten mit der Findung der Geschlechterrolle verstrickt sind. Aus Angst vor dem anderen Geschlecht tendieren sie zur Flucht in männliche Peergroups. Hier kann es zu einem militanten Männlichkeitskult kommen, der Feinde braucht, um sich zu bewähren. Die Tendenz zu «harten Männern» wächst in Krisenzeiten mit sich verschärfender Konkurrenz und sozialer Entwurzelung.

Der Kampf gegen die Fremdenfeindlichkeit kann nur dann erfolgreich sein, wenn ein freieres Spiel der Geschlechterdifferenz und der Geschlechter überhaupt zum Zuge kommen kann. Erst wenn das andere Geschlecht mehr erotischen Reiz erlangen kann, zieht auch anderes, das sich von einem unterscheidet, weniger Angst und Aggressivität auf sich. Die Jugendlichen, denen der Zugang zur Erotik gelingt, entdecken damit verbunden auch den Reiz des Fremden, das den besten Schutz gegen seine Diskriminierung darstellt. Wer sich aber vor der Erotik besonders fürchtet, wird leicht zum Nationalisten, den es aus Angst nie in die Fremde zieht.

Feindliche Konkurrenzbeziehungen

AusländerInnen müssen die Rolle von StellvertreterInnen für vielerlei Hassobjekte spielen. Aggressive Regungen können unbewusst von einem Objekt auf ein anderes verschoben werden, bei dem es ungefährlicher ist, sie unterzubringen. Die Analyse der Ausländerfeindlichkeit muss fragen, wem die Aggressivität eigentlich gilt, wenn AusländerInnen schlecht behandelt werden.

Die Fremdenfeindlichkeit bringt symbolisch zum Ausdruck, wie es um die Beziehungen der Menschen zueinander in unserer Gesellschaft bestellt ist. Sie ist ein Symptom, in dem die Misere des bestehenden Sozialsystems zum Ausdruck kommt. Eine Kultur, die von einem entfesselten Kapitalismus geprägt ist, verstrickt Menschen ständig in feindliche Konkurrenzbeziehungen: Mitmenschen werden in ihr häufig vor allem als RivalInnen im Kampf ums Überleben erfahren. Der Hass auf die AusländerInnen wird meist damit begründet, dass sie die Arbeitsplätze, die Wohnungen und die Frauen wegnähmen. Sie haben damit den bedrohlichen Konkurrenten schlechthin zu repräsentieren: Die Wut, die potenziell allen Menschen gilt, die zu Konkurrenten werden, wird an ihnen ausgelassen.

Die Fremden müssen häufig auch stellvertretend einen Hass gegen die Mächtigen und Bevorrechtigten auf sich nehmen. Die Fremden erscheinen ihren Feinden meist als mit ungerechtfertigten Privilegien ausgestattet. Der Neid auf wirklich Privilegierte wird so auf sie verschoben. Auch ein abgewehrter Selbsthass kann die Gestalt des Hasses auf andere annehmen. Diejenigen, die sich als Opfer sozialer Verhältnisse erfahren und sich nicht dagegen wehren, tendieren dazu, anderen die Rolle des Opfers aufzuzwingen, um sich dadurch aufzuwerten. Der Ausländer, dem Gewalt angetan wird, erfährt diese dann stellvertretend für das eigene, um seine Entfaltung gebrachte Selbst.

Der soziale Fortschritt verlangt, dass aggressive Regungen im politischen Kampf dort untergebracht werden, wo sie, vom Verstand bearbeitet, sinnvolle Veränderungen motivieren können. Eine demokratische Gesellschaft verlangt vor allem eine entwickelte Streit- und Konfliktkultur, nur durch sie kann zerstörerische Gewalt vermieden werden. Die sozialen Emanzipationsbewegungen der letzten Jahrzehnte haben vielen Heranwachsenden dabei geholfen, mit einer entwickelten Konfliktkultur Erfahrungen zu machen. Wenn derartige Bewegungen an Einfluss verlieren, gewinnt blinde Gewalt an Bedeutung.

Gerhard Vinnai

ist emeritierter Professor für analytische Sozialpsychologie an der Universität Bremen. Autor von unter anderem «Hitler - Scheitern und Vernichtungswut. Zur Genese des faschistischen Täters» (2004), «Jesus und Ödipus» (1999) und «Die Austreibung der Kritik aus der Wissenschaft. Psychologie im Universitätsbetrieb» (1993).