Religion und Gewalt: Geheime Zweifel

Nr. 41 –

Warum bringen Menschen sich und andere für religiöse Ideale um? Kann man den fundamentalistischen Terror verstehen? Ein sozialpsychologischer Erklärungsversuch.

In den «neuen Kriegen«, die terroristische Züge tragen, engagieren sich vor allem sozial entwurzelte junge Männer. Sie fühlen sich unter dem Einfluss der modernen westlichen Zivilisation vom sozialen Tod bedroht und wollen erzwingen, dass sie endlich wahrgenommen werden. Als islamistische Mörder sind sie häufig zugleich auch Selbstmörder, die versuchen, ihre Grössenfantasien, welche eigene schmerzliche Niederlagen und mit ihnen verbundene Kränkungen ungeschehen machen sollen, durch einen religiös begründeten, als grandios vorgestellten Abgang aus dieser Welt zu retten.

Dieser Fundamentalismus findet zwar seine sozialen Wurzeln nicht primär in religiösen Einstellungen, aber ohne die Analyse ihrer Bedeutung sind seine sozialpsychologischen Komponenten nicht zu begreifen. Er ist nicht schlicht ein Ausdruck eines Kampfes zwischen einer vom Islam geprägten Kultur und einer westlichen, christlich geprägten Zivilisation. In ihm kommt keine konservative Fixierung an eine religiöse Vergangenheit zum Zuge. Er stellt vielmehr eine moderne soziale Bewegung dar, in der sich eine soziale Misere der Gegenwart Geltung verschafft. In ihm drücken sich vor allem die Krisentendenzen und Verwerfungen einer primär von den ökonomischen Zwängen des Kapitalismus gestifteten Weltgesellschaft aus. Die fundamentalistischen Terroristen stammen häufig aus Elternhäusern, die sich dem Westlichen gegenüber geöffnet haben. Sie waren in ihrer Jugend, bevor sie durch lebensgeschichtliche Krisen aus der Bahn geworfen wurden, meist an westlichen Lebensmodellen orientiert. Sie haben im Westen eine Ausbildung erhalten, ohne die sie ihre Anschläge, die modernstes technisches Wissen verlangen, gar nicht durchführen könnten. Ihre Angriffe gelten einer westlichen Kultur, in die sie sich integrieren wollten, in die ihnen aber eine für sie befriedigende Eingliederung nicht gelang beziehungsweise die diese nicht zuliess. Dieses Schicksal teilen sie mit vielen, als deren Sprachrohr sie sich verstehen.

Regressiver Drang

Ein solches Scheitern löst vielerorts einen regressiven Drang zu psychischen Befindlichkeiten aus, die mit einer spezifischen Beziehung zum Religiösen einhergehen können. Mit Hilfe einer aus traditionellen religiösen Versatzstücken zusammengesetzten Ideologie, die eine auf extreme Weise emotional besetzte «Gegenwelt» zusammenhalten soll, sucht der Fundamentalismus westliche Einflüsse auf Leben und Tod zu bekämpfen.

Die fundamentalistischen Terroristen wollen einen «heiligen Krieg» entfachen. Es erleichtert Kriege, wenn sie als heilige geführt werden können. Das hat mit der Beziehung des Krieges zum Tötungstabu zu tun, das ein zentrales Tabu jeder Kultur ist. Dass man andere Menschen nicht töten darf, ist im Islam im Koran und in Judentum und Christentum in den Zehn Geboten verankert. In religiös geprägten Gesellschaften ist das Tötungstabu ein heiliges Tabu; auch in modernen Gesellschaften, die ihre sozialen Normen nicht mehr religiös begründen, wird dem Verbot, anderen Menschen das Leben zu rauben, ein herausragender Stellenwert für das menschliche Zusammenleben beigemessen. Zu seinem Schutz wird die Staatsgewalt eingesetzt, die es mit Hilfe der Polizei, von Gerichten und Gefängnissen verteidigt.

Im Krieg und im terroristischen Kampf aber wird das Tötungstabu aufgehoben. Es kommt sogar zu seiner Umkehrung, wenn von den Kämpfern gefordert wird: «Du sollst andere Menschen töten!» Die Aufhebung eines heiligen Tabus verlangt besonders heilige Begründungen, die allein seine Ausserkraftsetzung zu legitimieren erlauben. Die heilige Regel darf nur ausser Kraft gesetzt werden, wenn alles Heilige als bedroht erscheint. Für die radikalen Islamisten muss der Feind im Westen als Inkarnation des Teuflischen erscheinen, der alles im Koran proklamierte Heilige der eigenen Religion bedroht. In gegenwärtigen westlichen Kulturen muss die Aufhebung des Tötungstabus mit der Verteidigung ihrer höchsten kulturellen Werte begründet werden. Die Gewaltpropaganda muss deshalb immer vor Menschlichkeit und Idealität triefen, um ihr Ziel zu erreichen.

Wo Kriege als heilige geführt werden, werden in der Psyche der Angehörigen der Kriegsparteien kollektive Spaltungsprozesse wirksam, die von religiösen Lehren begünstigt werden können. In heiligen Kriegen muss der Feind immer das teuflische Böse repräsentieren, während das eigene Lager immer als Verkörperung des reinen Guten erscheint. Der heilige Krieg verlangt, dass Kriege immer als Notwehrakte gegen einen heimtückischen Feind erscheinen, der friedliebende Menschen dazu gezwungen hat, zu den Waffen zu greifen. Die eigene Aggressivität muss deshalb geleugnet und als abgespaltene auf den Gegner projiziert werden. Der islamistische Terror versteht sich als Tugendterror, der mit bestimmten religiös fundierten Reinheitsvorstellungen verknüpft ist. Eine reine, von falschen Begierden befreite Gemeinschaft von Männern soll die Welt von einer durch moralische Korruption und sexuelle Ausschweifung geprägten, materialistischen westlichen Zivilisation befreien.

Ihr Kampf richtet sich nicht zuletzt gegen westliche Vorstellungen von Frauenemanzipation, weil dem unkontrollierten weiblichen Körper eine ausserordentliche Macht zur Verführung, Verunreinigung und Zerstörung zugeschrieben wird. Die Reinheitsvorstellungen verbinden sich mit der Zugehörigkeit zur idealisierten Gruppe der männlichen Terroristen, deren Mitglieder zu einer illusionären Einheit verschmelzen, die alles Böse aus sich ausgestossen hat und mit allen Mitteln zu bekämpfen sucht. Zwischen Reinheitsvorstellungen und verfolgender Gewalt kommt es so zu fatalen Wechselwirkungen. Die mit dem gemeinsamen Kampf verbundene Gruppenillusion der Einheit bringt das individuelle Gewissen ihrer Mitglieder zum Verschwinden. Es kann an die Gruppe als Ganzes oder deren Führer übertragen werden und erlaubt so mörderische Aktivitäten ohne individuelle Schuldgefühle. Die Herstellung eines solchen Erlebens der Einheit ist auf Ausbildungslager angewiesen, in denen religiöse Indoktrination mit grausamen Initiationsriten verknüpft wird.

Die Intoleranz von Frommen gegenüber Angehörigen anderer Religionen oder Ungläubigen kann sich, wie die Geschichte zeigt, leicht mit monotheistischen Religionen wie dem Islam und dem Christentum verbinden. Im strengen monotheistischen Glauben gibt es nur einen, nämlich den eigenen Gott und damit nur seine Wahrheit und sein bindendes Gesetz. Wo der eigene Gott, mit dem man identifiziert ist und an dessen Macht man deshalb teilhaben möchte, als alleiniger Herr der Welt gesehen wird, besteht die Gefahr der Intoleranz gegenüber denen, die ihn nicht akzeptieren wollen. Solche Intoleranz ist aber nicht nur häufig mit dem monotheistischen Glauben, sondern vor allem mit geheimen Zweifeln an ihm verbunden, die mit Hilfe von Fanatismus abgewehrt werden müssen.

Hassenswerter Gott

Wo nach der religiösen Lehre ein guter, gerechter Gott die Welt regiert, die Gläubigen aber in einer Welt voller Gewalt, Ungerechtigkeit und Einsamkeit existieren müssen, sind Zweifel an ihr kaum vermeidbar. Die Gläubigen müssten sich eigentlich einen anderen Gott wünschen, sie müssten diesen Gott eigentlich hassen, der ihnen so Schlimmes auferlegt. Äussere, von religiösen Institutionen auferlegte Glaubenszwänge und die innere Angst vor Verzweiflung bei der Abweichung vom rechten Glauben können derartige Gotteslästerungen nie ganz zum Verschwinden bringen, sie werden allenfalls verdrängt und tabuisiert. Die abgewehrten Glaubenszweifel aber können wiederkehren, indem sie an denen bekämpft werden, die sie offen repräsentieren, an den Andersgläubigen und Ungläubigen. Sie haben die verpönten Glaubenszweifel zu repräsentieren, die am eigenen Selbst nicht toleriert werden können, auf sie wird der geheime Hass auf den eigenen Gott verschoben. Das, was am eigenen Gott, der die Welt so schlecht regiert, insgeheim gehasst wird, kehrt in den teuflischen Zügen wieder, mit denen der auf Leben und Tod zu bekämpfende Feind Gottes ausgestattet wird. Wo soziale Krisensituationen zu Identitätskrisen führen, die den überkommenen Glauben infrage stellen, auf den man zur psychischen Stabilisierung zugleich noch angewiesen ist, kann der eigene latente Unglaube auf fanatische Art an realen oder scheinbaren Feinden des eigenen Lagers bekämpft werden.

Es gibt nicht nur den islamischen Fundamentalismus, Formen des religiösen Fundamentalismus finden weltweit Zulauf. Nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten finden protestantisch begründete fundamentalistische Einstellungen zunehmend Verbreitung, in denen eine Krise der amerikanischen Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Der Zerfall der ökonomischen Basis der Mittelschichten, weit verbreitete Armut, eine Krise des Erziehungswesens oder zunehmende Gewalt in den Städten sorgen bei Amerikanern für eine tiefsitzende, wenn auch häufig verleugnete Verunsicherung, die in einem Weltbild wiederkehrt, in dem sich alle Mächte der Finsternis gegen Gottes eigenes Land verschworen haben. In der Politik der US-Regierung unter George Bush kommen nicht nur ökonomische und geostrategische Interessen zum Ausdruck, in sie gehen auch fundamentalistische Einstellungen ein, deren sie sich zumindest aus strategischen Gründen bedient. Bushs Aufruf zum Kampf gegen die «Achse des Bösen» entspricht fundamentalistischem Denken. Hier wird die Welt in die Mächte des Lichts und die Mächte der Finsternis eingeteilt, wobei Letztere, unter der Regie eines von Gott gesegneten Amerika, vernichtet werden sollen. Die Verknüpfung der amerikanischen Politik mit fundamentalistischem Denken begünstigt es, dass auch sie sich terroristischer Mittel bedient. Nicht erst in den bekannt gewordenen Misshandlungen von Gefangenen durch amerikanische Soldaten kommt dies zum Ausdruck. Wo missliebige politische Regime unter Missachtung des Völkerrechts, das Angriffskriege verbietet, mit offensiven militärischen Mitteln liquidiert und Bevölkerungen dabei durch extremen militärischen Druck eingeschüchtert werden sollen, kann man von Terror sprechen. Erst die Erfahrung einer extrem kränkenden Hilflosigkeit gegenüber der überwältigenden Macht dieses militärischen Terrors verschafft dem konspirativen Terrorismus ein aus der Verzweiflung geborenes breites Feld von Sympathisanten und Anhängern.

Realer Opportunismus

Man kann den fundamentalistischen Terror wohl nur verstehen, wenn man sich darüber zu wundern vermag, dass es in der bestehenden Welt nicht noch mehr Terroristen gibt. Armut und Beschränkung existieren in ihr häufig in enger Nachbarschaft von Reichtum und Masslosigkeit. Millionen und Abermillionen Arbeitslose erfahren sich ökonomisch betrachtet als überzählig. Die kulturellen Traditionen, in denen Menschen bisher existiert haben, werden vielerorts von einer industrialisierten westlichen Massenkultur niedergewalzt. Viele Menschen, nicht zuletzt auch in den hochentwickelten westlichen Gesellschaften, fühlen sich als winziges Rädchen in einem anonymen sozialen Getriebe. Ist es da ein Wunder, dass manche von ihnen, vor ihrem Verschwinden im Nichts, den Drang verspüren, dieser Welt den Krieg zu erklären und ihre Ohnmachtserfahrungen dadurch zu kompensieren, dass sie ihre Mitmenschen in Angst und Schrecken versetzen?

Die bestehende Weltgesellschaft verlangt für ihr Überleben weitreichende Änderungen hin zu mehr Gerechtigkeit und Mitgestaltungsmöglichkeiten. Zugleich befinden wir uns heute in einem Zeitalter eines «real existierenden Opportunismus»: Die meisten Menschen vor allem in unseren Breiten kommen sich sehr aufgeklärt und nüchtern vor, wenn sie die Welt so akzeptieren, wie sie ist, und nichts an ihr ändern wollen. Veränderungen sollen allenfalls die Rationalisierung des Bestehenden bewirken. Diejenigen, die etwas ändern wollen, gelten als Verrückte, und leider verhalten sie sich, nicht zuletzt unter dem Druck einer sie ausgrenzenden Umwelt, nicht selten auch so. Wo die Suche nach vernünftigen, aufgeklärten Alternativen zum Bestehenden blockiert ist, kann es zur Flucht in religiöse Ersatzwelten kommen, mit deren Hilfe der Realität auf fatale Art der Krieg erklärt wird. Wo intellektuell begründete Perspektiven für eine andere Zukunft fehlen, die für Menschen attraktiv erscheinen, nimmt der Wunsch nach Veränderung, der Menschen nicht auszutreiben ist, unvermeidbar wahnhafte und zerstörerische Züge an.


Gerhard Vinnai ist emeritierter Professor für analytische Sozialpsychologie an der Universität Bremen. Autor von unter anderem «Hitler - Scheitern und Vernichtungswut. Zur Genese des faschistischen Täters» (2004), «Jesus und Ödipus» (1999) und «Die Austreibung der Kritik aus der Wissenschaft. Psychologie im Universitätsbetrieb» (1993).