Fremdenfeindliche Tradition: Wer einmal strauchelt, wird ausgewiesen

Nr. 42 –

Seit über zwei Jahrzehnten jagt eine ausländerfeindliche Kampagne die andere. Die Ausschaffungsinitiative und der Gegenvorschlag führen die diskriminierende Linie weiter. Der damit verbundene Verlust von Grundwerten betrifft uns alle.


Als wir uns das letzte Mal sahen, berichtete Sami von den neusten Entwicklungen in nordafrikanischen Ländern, die auf Druck von EU-Staaten Lager für MigrantInnen eingerichtet haben, um diese an der Reise nach Europa zu hindern. Ich sagte: «Es ist ein Krieg gegen Sans-Papiers.» Sami, seit vielen Jahren ein in der Schweiz Illegalisierter, korrigierte: «Ein Krieg gegen die Armen.»

Wann immer die SVP einen neuen Vorschlag zur Ausgrenzung von AusländerInnen macht, ist ihr breite Zustimmung gewiss. Bereits Mitte der achtziger Jahre lancierten SVP und «Blick» Skandalgeschichten zur «Asylantenkriminalität». Anfang der neunziger Jahre, im Vorfeld von National- und Ständeratswahlen, wurde das Thema erneut hochgekocht. Nicht nur SVP-PolitikerInnen und Rechtsbürgerliche forderten die sofortige Ausschaffung aller straffälligen Asylsuchenden. Der Bundesrat präsentierte unverzüglich Zwangsmassnahmen zur Bekämpfung der «drogendealenden Asylanten», die am 4. Dezember 1994 mit 73 Prozent der Stimmen angenommen wurden. Die Begriffe «Missbrauch» und «Kriminalität» wurden konsequent mit «Asylanten» oder «Ausländern» verknüpft. Steile Kurven in Kriminalitätsstatistiken von Asylsuchenden sollten schon vor zwanzig Jahren den bevorstehenden Untergang im gewalttätigen Chaos belegen.

Pauschale Vorurteile

Mit ähnlicher Angstmache wurde im vergangenen Jahrzehnt für die rechtsbürgerliche Initiative zur Begrenzung des Ausländeranteils auf achtzehn Prozent (2000), die SVP-Initiative «gegen den Asylmissbrauch» (2002) und die SVP-Einbürgerungsinitiative (2004) gekämpft. Diese Vorlagen wurden allesamt noch knapp verworfen. Mit der Abstimmung über das Minarettverbot (2009) haben sich die Mehrheitsverhältnisse gewendet. Parallel dazu ist das Asylgesetz zwischen 1986 und 2006 fünf Mal verschärft und das Ausländergesetz 2006 total revidiert worden. Die Kampagnen wurden von rechtsbürgerlichen Kreisen immer genutzt, um das Konstrukt des «bedrohlichen Ausländers» zu verfestigen.

Issa im Ausschaffungsgefängnis versicherte mir, unsere Gerechtigkeitsliebe für die Unterdrückten sei nicht vergebens. Weniger ermutigend kommentierte Sami meine Befürchtung, dass die Hasskampagnen gegen AusländerInnen längerfristig auf die Beseitigung der Menschenrechte zielten. «Das ist euer Problem. Die Entwicklung ist für euch EuropäerInnen gefährlich.» Richtig. Der allmähliche Verlust von Grundwerten ist unser Problem, obwohl er vordergründig und in der migrationspolitischen Arena bloss die «anderen» trifft.

Wie überall werden in der Schweiz seit Jahrhunderten mit pauschalen Zuschreibungen bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt. Solche Stereotypen sind Projektionen, die das Eigene vom Fremden abgrenzen sollen: ein Grundmuster aller Nationalismen und Rassismen. Ohne die Konstruktion eines bedrohlichen Fremden kann die Vorstellung eines bedrohten, homogenen Volkes nicht überleben.

Seit der Annahme der Minarettverbotsinitiative machen islamische Herkunftsländer bei Zwangsausschaffungen ihrer Staatsangehörigen aus der Schweiz kaum mehr mit. Nachdem der Chef eines Bundesamts asylsuchende Nigerianer pauschal als Drogendealer bezeichnet hatte, war auch die Bereitschaft Nigerias zur Rückübernahme – zumindest vorübergehend – merklich abgekühlt. Im Basler Ausschaffungsgefängnis, das ich regelmässig besuche, kommt es deshalb nur noch selten zu Zwangsausschaffungen. Insbesondere für Personen, die in der Schweiz aufgewachsen sind und denen die Aufenthaltsbewilligung entzogen worden ist, bieten Botschaften kaum Hand für eine Rückübernahme, auch wenn alte Dokumente das Herkunftsland belegen.

Darüber ist in den Erfolgsbilanzen der Schweizer Behörden zu Ausschaffungen nur wenig zu vernehmen. So schenkt die im Mai 2010 erschienene Analyse zum «Langzeitbezug von Nothilfe durch weggewiesene Asylsuchende» den Herkunftsländern kaum Beachtung und untersucht – wie in der Schweizer Migrationspolitik üblich – bloss einheimische Faktoren. Kurz zusammengefasst: Es brauche noch mehr polizeiliche Kontrollen und Repression. Einem «effizienten Wegweisungsvollzug» stehe aber, so die Studie, das «zivilgesellschaftliche Engagement in Form von politischen Protesten» im Weg. Da gebe es «Organisationen, Netzwerke, aber auch Teile der Bevölkerung und Privatpersonen, die sich für weggewiesene Asylsuchende einsetzen».

Wenn der winzigen Minderheit der Hilfe leistenden Basisgrüppchen so viel Effizienz zugesprochen wird, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die AusschaffungspolitikerInnen und ihre Gefolgschaft sind, die mehr Ausschaffungen verhindern: Die mit negativen Vorurteilen unterlegte Abschreckungspolitik strahlt über die EU-Grenzen hinaus und schreckt auch jene Regierungen ab, auf deren Mitarbeit die offizielle Schweiz angewiesen ist.

Das kleinere Übel?

Heute wird die Zahl der Widerrufe von Aufenthaltsbewilligungen aufgrund eines Delikts der Asylsuchenden auf 350 bis 400 pro Jahr geschätzt. Das ist bereits erschreckend viel. Gemäss einer Statistik über Strafurteile im Jahr 2008 würde diese Zahl bei Annahme des Gegenvorschlags zur Ausschaffungsinitiative ungefähr verdoppelt, mit der Initiative vervierfacht. Der Gegenvorschlag wäre, so argumentieren linke BefürworterInnen, das kleinere Übel.

Diese Linken beteuern stets, das im Gegenvorschlag angeführte Verhältnismässigkeitsprinzip werde unmenschliche Ausweisungen verhindern. Damit müsste die Zahl der Ausweisungen aber markant unter jener der Verurteilungen liegen. Andererseits lässt sich die Zahl der Widerrufe kaum abschätzen, wenn künftig Ausweisungen auch bei Kleinstrafen möglich sind, die sich innerhalb von zehn Jahren auf 720 Tagessätze summieren. Doch ganz abgesehen von solchen Zahlen: Dürfen wir das Grundprinzip der Rechtsgleichheit und des Diskriminierungsverbots fallen lassen und einer Verdoppelung von diskriminierenden Doppelstrafen zustimmen, um eine Vervierfachung zu verhindern?

Die heutige Situation ist unerträglich genug: Sali, ein mit einer Niederlassungsbewilligung hier aufgewachsener Bosnier, ist mit einer Schweizerin liiert. Vor Jahren randalierte er mit einer Jugendbande. In der Strafhaft ist er resozialisiert worden. Heute kann er seine jugendlichen Missetaten nicht mehr verstehen. Doch für AusländerInnen gibt es keine Wiedergutmachung. Wer einmal strauchelt, wird ausgewiesen. Ich treffe den etwa 23-Jährigen in der Ausschaffungshaft. Er fürchtet sich vor der Abschiebung in ein ihm fremdes Land und vor der Trennung von Partnerin, FreundInnen, Eltern und Geschwistern. Hätte er mit seiner Partnerin ein Kind, würde er auch von diesem getrennt. Die Einreisesperre erlaubt über viele Jahre kein Wiedersehen in der Schweiz.

Schon lange werden Aufenthaltsbewilligungen nach einer Straffälligkeit entzogen, und dies seit dem neuen Ausländergesetz (2008) verstärkt. Dabei wird allerdings – anders als in Initiative und Gegenvorschlag – berücksichtigt, ob jemand eine Niederlassungs- oder bloss eine Jahresaufenthaltsbewilligung hat.

Die tabuisierte Angst

Für eine Mehrheit der Bevölkerung spielt der Inhalt von Ausländervorlagen eine geringe Rolle. Aus der politischen Arbeit auf der Strasse weiss ich, dass sich die Meinung jeweils auf das «Für-oder-gegen-MigrantInnen» reduziert. Die Abgrenzung einer Wir-Gruppe gegenüber als bedrohlich oder minderwertig empfundenen Aussenstehenden ist ein sozialpsychologisches Muster. Sie als menschliche Konstante zu begreifen, läuft jedoch auf einen fatalen Determinismus hinaus. Menschen verfügen auch über Freude am Neuen und am Entdecken. Es ist diese Veranlagung, die es zu stärken gilt.

Doch es gibt auch andere Gründe für Fremdenangst. Issa reflektiert seine letzte Gerichtsverhandlung so: «Ist es die Angst davor, dass sie zu Hilfe kommen müssten – worauf basieren ihre Verurteilungen? Vielleicht ist es nur die Angst davor, etwas zu geben, ohne etwas zurückzubekommen. Weil sie die Armut fürchten.»

Migration ist meist eine Form von Widerstand der Armen gegen die ungerechte Ressourcenverteilung: ein grundsätzlicherer Widerstand, als ihn SchweizerInnen gemeinhin zu akzeptieren bereit sind. Die Auswandernden leisten Widerstand gegen die in reichen Ländern vorherrschende Ansicht, dass sich an der ungleichen Verteilung der Ressourcen in der Welt nichts ändern lässt. Sie rütteln an unseren engen Gerechtigkeitsvorstellungen und Wohlstandsansprüchen und rufen Angst um die Wahrung des Besitzstandes hervor. Diese Ängste sollen keineswegs tabuisiert werden. Im Gegenteil: Die Frage nach der globalen Ressourcenverteilung bildet den Kern der Migrationsproblematik, nicht die «Ausländerkriminalität». Man ist nicht nur gegen die Armut, sondern auch gegen die Armen. Dabei wird der Wohlstandsverlust in erster Linie von skrupellosen Reichen – Nahrungsmittel- und anderen Börsenspekulanten, Geldwäschern, Steuerhinterziehern und Finanzjongleuren – verursacht, die kaum je belangt werden.

Man muss sich mit der von den MigrantInnen aufgeworfenen Frage gründlich auseinandersetzen und entscheiden, auf welche Seite man sich im Krieg gegen die Armen stellt. Dieser Krieg, in den wir alle verwickelt sind, der aber durch Gefängnismauern, Sonderregimes und Auslagerungen unseren Blicken entzogen wird, verletzt zwangsläufig die Menschenrechte und negiert die Menschenwürde und Gleichwertigkeit der Menschen. Die Beseitigung menschenrechtlicher Verpflichtungen, wie sie die SVP längerfristig anstrebt, untergräbt jeden Widerstand gegen Macht- und Besitzverhältnisse.

Moses bemerkt, dass die SchweizerInnen die Schwarzen nicht mögen, aber es stehe ihm nicht zu, ein fremdes Land zu kritisieren. Er versuche jeweils, sich an dem Ort, wo er sich befinde, zu Hause zu fühlen. Das mache er auch im Ausschaffungsgefängnis. Ich erteile ihm Sprachunterricht und schleppe englischsprachige Literatur an. Wissen sei eine Ressource, die ihm niemand wegnehmen könne, sagt er. Sie hilft ihm, dem bedrückenden Leben eines illegalisierten Migranten gewachsen zu sein.


Anni Lanz

Beizerin, Soziologin, Feministin. Seit 25 Jahren in der Asylbewegung engagiert. Ehemalige Sekretärin von Solidarité sans frontières. Erhielt 2004 die Ehrendoktorwürde der juristischen Fakultät der Universität Basel, weil sie «als Vertreterin der Zivilgesellschaft zur Wirksamkeit der international garantierten Menschenrechte in der Schweiz» beitrage.

Anni Lanz hat zum Thema neben vielen Artikeln ein Buch veröffentlicht. Anni Lanz / Manfred Züfle: «Die Fremdmacher. Widerstand gegen die schweizerische Asyl- und Migrationspolitik». Edition 8. Zürich 2006. 144 Seiten. 22 Franken.