LITERATUR UND POLITIK: Umkreiste Wahrheiten

Nr. 48 –

Für wen spricht die Schriftstellerin, wem fühlt sich der Autor verantwortlich? Und was taugen die Antworten, die Christa Wolf und Erich Fried auf diese Fragen geben und gegeben haben?

Wann ist man an einem neuen Ort angekommen? Wenn man «die rosa Aus-Taste» des Fernsehers drückt, der einem monatelang die Opfer lokaler Feuersbrünste und Unwetter, «die Leichen der Verbrannten und die Tränen der Hinterbliebenen ins Zimmer» gebracht hat, «getreulich wie gut erzogene Katzen jede einzelne erbeutete Maus».

Die Katastrophentoten als Trophäen der Quotenjäger; unsere Glotzen als Altäre, auf denen die Wirklichkeit einem Surrogat geopfert wird; die Welt als Live-Event für ohnmächtige, betroffene und/oder gelangweilte Zuschauer, die im Minutentakt von Fussball nach Raubmord und wieder zurück zu den Hurrikans zappen: Dagegen, denkt man, sträubt sich doch höchstens noch der bekennende Medienverächter Peter Handke, der die fragile Schönheit dieser Welt nicht nur in romanischen Kirchen und fallenden Herbstblättern irgendwo in Ex-Jugoslawien aufspürt, sondern auch im Pokerface von Slobodan Milosevic.

Falsch gedacht; es gibt zumindest eine weitere schreibende Untote, die sich eines Tages der medialen Wirklichkeitserfahrung verweigert, indem sie ein zentrales Paradoxon unserer weltumspannenden Katastropheninformiertheit benennt. Sobald nämlich, ihrer ausgeprägten Empathie sei Dank, aus den «fremden Toten» Menschen werden, stellt die skrupulöse Selbstbeobachterin Christa Wolf fest: «Das ertrage ich nicht mehr», und schaltet folgerichtig die Kiste aus. Die Hoffnung, sich draussen zu halten, konstatiert sie leise resigniert, hat «wieder einmal getrogen». Wir schreiben das Jahr 1995, und Christa Wolf ist angekommen in Santa Monica, Kalifornien. Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg an der Warthe, zu DDR-Zeiten im damaligen Westen viel gerühmte Schriftstellerin, Büchnerpreisträgerin (1980), Autorin von Büchern, deren Titel wie «Kindheitsmuster», «Nachdenken über Christa T.», «Kein Ort. Nirgends» Eingang gefunden haben ins kollektive Gedächtnis auch der Nichtleser, hat diesen Herbst zu Suhrkamp gewechselt, wo sie nun den Erzählband «Mit anderem Blick» vorlegt.

Ich muss gestehen, dass ich beides war, geschmeichelt und ratlos, als ich im Frühjahr eine Einladung zur Teilnahme an den Erich-Fried-Tagen 2005 in der Mailbox fand. Das Thema, zu dem sich am letzten Wochenende in Wien über zwanzig Autorinnen und Autoren im Namen des einst von den Massen umjubelten österreichisch-jüdischen Lyrikers, Übersetzers, politischen Kommentators und Friedensaktivisten (um ihm gleich sämtliche verfügbaren Etiketten aufzukleben) versammelten, lautete: «Ungefragt. Über Literatur und Politik».

Literatur und Politik also. Tatsächlich begann nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa eine Zeit, in der Nietzsches Diktum «Die Kultur und der Staat - man betrüge sich hierüber nicht - sind Antagonisten» ausser Kraft gesetzt schien. Die Auflistung einiger Autoren wie Max Frisch, Otto F. Walter, Heinrich Böll und Günther Grass, die sich explizit politisch engagierten, muss hier genügen. Das hatte wohl nicht nur mit einem genuinen politischen Interesse dieser Autoren zu tun, sondern befriedigte die Kollektivsehnsucht nach «sauberen» Identifikationsfiguren, nach einer neuen, unkontaminierten Sprache, die sich auch die legendäre Gruppe 47 als vordringliche Aufgabe gesetzt hatte.

Aber was zum Teufel haben wir Autoren, die nach den grossen Verwerfungen der europäischen Geschichte geboren wurden - und den Zusammenbruch des Kommunismus nur aus der sicheren Warte des Zuschauers mitbekommen haben - dazu zu sagen? Im Wiener Czernin-Verlag ist dazu - ebenfalls unter dem Titel «Ungefragt. Über Literatur und Politik» - eine Publikation erschienen, die Texte aller eingeladenen Autoren beinhaltet und einmal mehr deutlich macht, dass es keine Kongruenz gibt zwischen Leben und Schreiben beziehungsweise Lesen. Anders gesagt: Die Wirkungsweise der Kunst ist stets paradox, schafft sie doch eine Wirklichkeit, die sich - selbst wenn wir hier von der hoffnungslos semantischen Literatur sprechen - nicht ohne Rest im trauten Heim des Verstandes anketten lässt. Die «realen Verhältnisse» werden dabei - notwendig - dem Kunstwillen geopfert; das Kunstwerk selbst wird zum Doppelgänger des durch ebendiesen Akt entstellten Originals.

In vier Podiumsdiskussionen ging es um die Rolle des Schriftstellers als eines gesellschaftlichen Seismografen und intellektuellen Kommentators, aber auch als Instanz beharrlicher Erinnerung und polemischer Einmischung. Anders gefragt: Für wen spricht die Schriftstellerin, wem und wofür fühlt sie sich verantwortlich? Die Antworten fielen naturgemäss höchst unterschiedlich aus; deutlich wurde einzig, dass die Freiheit des Marktes noch keine innere Freiheit erzeugt, dass es im Gegenteil darauf ankäme, die Deformationen (durch das Aufwachsen in einer Diktatur zum Beispiel) nicht zu übertünchen, sondern sie offen zu legen.

Mit genau diesen Fragen beschäftigt sich einmal mehr eben Christa Wolf (die übrigens 1992 als Jurorin den Erich-Fried-Preis dem Schriftsteller und Psychoanalytiker Paul Parin verliehen hat). Sie versuche, gibt sie ihrem Arzt Auskunft auf die Frage, was sie tue, um «a good writer» zu werden (sic!), sich «selbst so genau wie möglich kennen zu lernen und das so gut wie möglich auszudrücken.» Dieses Kennenlernen war und ist bei Christa Wolf immer untrennbar verbunden mit der deutschen Geschichte, von der sie zeitlebens Zeugnis ablegt.

«Mit anderem Blick» darf nicht als gültige Hinterlassenschaft eines reichen und wechselvollen Schriftstellerinnenlebens missverstanden werden. «Erzählungen» sind es nicht, eher schon handelt es sich um Baustellen, um Assoziationsketten und Steinbrüche für Romane, die diese Autorin wohl nicht mehr schreiben wird. Das hat wenig mit nachlassender Kreativität zu tun. «Genagelt ans Kreuz Vergangenheit», folgt sie den disparaten Tonspuren in ihrem Kopf, die sich zu keinem Ganzen mehr fügen wollen. Denn dem in sich geschlossenen Text misstraut die Autorin inzwischen gründlich. In «Nagelprobe» zum Beispiel nimmt sie ein Werk des Künstlers Günther Uecker zum Anlass, ihre Fantasien als eine Art Folteropfer des Literaturbetriebs durchzudeklinieren. Dabei wirft sie ihre ganze Könnerschaft in die Waagschale - nur, um sie ständig zu unterlaufen.

Es ist, als sitze sie über sich selbst zu Gericht. Das geht bis an die Grenze zur Peinlichkeit im ursprünglichen und heutigen Wortsinn. Ob es um eine Hüftoperation, um einen Fototermin in L.A. oder um ihre langjährige Ehe geht (wo ab und zu gar ein leiser Humor durchbricht): Eine souveräne Erzählerin ist sie dabei kaum; sie gibt sich vielmehr jene Blösse, die unverhohlen nach Geliebtwerden schreit. Wer sich aber auf diese unzeitgemässen Texte einlässt, wird belohnt mit einer Leseerfahrung, die diesen Namen verdient. Und hier denke ich plötzlich wieder an Handke, an seine Poetik der Begriffsstutzigkeit, die verlangt, die Dinge immer wieder neu zu sehen, so, als wüsste man nicht schon über alles Bescheid.

«Du bist mein Wagnis - und ich muss dich wagen», schrieb der fünfundzwanzigjährige Erich Fried 1946 nicht ohne Pathos und meinte damit weder eine Frau noch die Literatur, sondern - Österreich. «Und dennoch wird die Bahn mich heimwärts tragen», gab er sich überzeugt. Doch Fried, gerade eben noch zum Ermordetwerden vorgesehen (sein Vater starb 1938 nach einem Verhör der Gestapo, seine Grossmutter wurde in Auschwitz umgebracht), kehrte erst 1962 «voll Angst» nach Wien zurück.

«Die Wahrheit» kann in der Kunst nicht abgebildet werden; die Kunst kann höchstens eine eigene Wahrheit schaffen. Davon, meine ich, spricht auch Christa Wolf, wenn sie, noch unter dem unmittelbaren Einruck des elften September 2001, schreibt: «Ich habe lernen müssen, dass Wahrheit nicht glücklich macht, weil sie allein nichts bewirkt.»

Diderot hat in seinen Essays über die Malerei die Wahrheitssuche dem Alter zugeordnet, indem er zwischen Mimetiker = Genremaler und Schöpfer = Historienmaler unterschied: «Die so genannte Genremalerei ist eigentlich nur eine Sache für Greise oder für Menschen, die schon alt geboren sind. Kein Schwung, wenig Genie, kaum Poesie, viel Technisches und viel Wahrheit - das ist alles.» Anders gesagt: Der Mimetiker verbirgt seine kreative Schwäche unter dem moralischen Imperativ der Wahrheit.

Christa Wolfs Texte umkreisen ebenjene «Wahrheit, die so teuer» - und hier sind wir bei Dante angelangt -, «wie der weiss, der für sie sein Leben opfert.»

Das mussten - zum Glück - weder Christa Wolf noch Erich Fried. Das Wagnis des Schreibens aber haben beide - jeder auf seine Weise - unternommen.

Christa Wolf: Mit anderem Blick. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2005. 192 Seiten, Fr. 27.10