Zum 300. Geburtstag von Denis Diderot: «Ich verkünde nicht im Voraus, sondern ich befrage»

Nr. 40 –

Denis Diderot eröffnete Mitte des 18. Jahrhunderts mit seiner «Encyclopédie» eine neue Epoche des kritischen Wissensgewinns und der Wissensvermittlung. Unerschütterlich vertrat er den Vorrang der Vernunft, ohne einem bedenkenlosen Fortschrittsoptimismus zu verfallen.

Am 7. Juli 1746 befahl ein Pariser Gerichtshof, die Schrift «Pensées philosophiques» zu verbrennen, da sie «skandalös» sei und «gegen die Religion und die guten Sitten» verstosse. Ihr Verfasser war der damals 32-jährige Denis Diderot, der in der Folge zu einem der führenden Aufklärer wurde.

Diderots Name ist vor allem mit zwei Leistungen verknüpft: mit der in zwanzig Jahren geschaffenen «Encyclopédie» in 35 Bänden und mit den posthum veröffentlichten Romanen «Le Neveu de Rameau» und «Jacques le Fataliste et son Maître». Die Enzyklopädie führte ein neues radikales Denken vor, und die Romane erhoben die ironische Befragung zur Kunstform.

Denis Diderot wurde vor 300 Jahren, am 5. Oktober 1713, in Langres im Burgund geboren. Der Vater war Messerschmied, die Mutter die Tochter eines Gerbers. Denis, eines von sechs Kindern, sollte Priester werden, aber der Onkel, dessen einträgliches Amt für ihn vorgesehen war, starb zu früh. Finanziell hielt sich der junge Diderot als Hauslehrer, Schreiber und Übersetzer aus dem Englischen über Wasser.

Auf einen Schlag bekannt wurde er 1746 mit seinen «Philosophischen Gedanken», denen der Gerichtshof vorwarf, «alle Religionen auf dieselbe Stufe» zu stellen, «sodass schliesslich keinerlei Religion anerkannt» werde. Näher als dem Atheismus stand Diderot zu dieser Zeit allerdings einem allgemeinen Deismus, wonach nicht ein Schöpfergott, sondern ein kosmisches Prinzip – das abstrakte Göttliche – die Welt erschaffen habe und ihre Geschicke leite. Gegen «barbarischen Glaubenseifer» plädierte er für eine Religion, die Menschen «als vernünftige Wesen behandelt» und «ihnen nicht zumutet, irgendetwas zu glauben, das über ihre Vernunft geht und dieser nicht gemäss ist».

Den Publizisten zog es, anders als seinen älteren und berühmteren Zeitgenossen Voltaire, weder an den Versailler noch später an den preussischen Hof von Friedrich II. Seine Welt blieben ein Leben lang die Salons der aufstrebenden intellektuellen bürgerlichen Elite, zu deren Debatten er entscheidend beitrug.

Zwanzig Jahre Arbeit

1747 vereinbarten Diderot und der Mathematiker Jean-Baptiste Le Rond d’Alembert mit vier Pariser Druckern, ein lexikalisches Werk herauszugeben, die «Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers» («Enzyklopädie oder auf Vernunfterkenntnis gegründetes Lexikon der Wissenschaften, der Kunst und des Handwerks»). Diese Enzyklopädie stellte erstmals die Fachkenntnisse über Handwerke und Gewerbe auf dieselbe Stufe wie diejenigen über die Wissenschaften und die Künste. Gleichzeitig wurde dieses Wissen nicht einfach aus Büchern bezogen, sondern direkt aus den Werkstätten, in die Diderot seine Autoren und Illustratoren schickte. Dabei vertrat er eine intellektuelle Offenheit: «Ich verkünde nicht im Voraus, sondern ich befrage.»

Noch bevor der erste Band erschien, wurde Diderot im Juli 1747 aufgrund eines königlichen Geheimbefehls verhaftet, da man ihn für den Verfasser des religionskritischen «Briefs über die Blinden» hielt. Nach 103 Tagen kam er wieder frei, musste sich jedoch verpflichten, kein philosophisches Werk mehr zu veröffentlichen. Umso intensiver stürzte er sich in die Herausgabe der Enzyklopädie. Deren Entstehung war abenteuerlich. Im Juni 1751 erhielt der erste Band das königliche Druckprivileg. Bis 1754 waren acht Text- und zwei Bildbände geplant. Rund 4000 Subskribenten fanden sich bereit, 280 Livres vorzuschiessen (in heutiger Währung etwa 4000 Franken). Das Werk wurde erst zwanzig Jahre später abgeschlossen und umfasste schliesslich siebzehn Text-, elf Bild-, fünf Ergänzungs- und zwei Registerbände. Rund 150 Mitarbeiter, darunter Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, der Staatstheoretiker Baron de Montesquieu, der Ökonom Jacques Turgot und der Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon trugen 72 000 Artikel und 2900 Kupferstiche bei.

Seit 1750 war die despotische Herrschaft von König Ludwig XV. in die Krise geraten: Die Steuerlast, der erbärmliche Zustand der Landbevölkerung und der Sklaven in den französischen Kolonien sowie die politisch-philosophische Enge im Geistesleben diskreditierten das Regime. Es eröffnete einen harschen Feldzug gegen seine Kritiker. Jean-Jacques Rousseau, der das Gottesgnadentum entlarvt und ihm den Gesellschaftsvertrag aller Menschen entgegengestellt hatte, und die Jesuiten, die die Loyalität zum Papst über diejenige zur französischen Krone stellten, wurden vertrieben, andere Opponenten grausam hingerichtet. Diderots Mitarbeiter Jean-François Marmontel wurde im Dezember 1759 in die Bastille geworfen. Die Haft nutzte er, um den Artikel «Bastille» zu schreiben.

Das konservative Ressentiment gegen die Aufklärung verdreht Ursache und Wirkung – exemplarisch beim Historiker Reinhart Koselleck in seinem viel zitierten und wirkmächtigen Buch «Kritik und Krise» (1959). Darin erscheint die Kritik der Aufklärer an der Krise des monarchischen Systems nicht als deren Folge, sondern als deren «Vorbote» (Koselleck). So verwandelt sich der Urheber der Krise – der «monarchische Despotismus» (Diderot) – nachträglich in ein Opfer von Kritik, Aufklärung und bürgerlicher Emanzipationsbewegung.

Diderot wollte eine «Weltkarte der Erkenntnisse» des durch keine Autorität eingeschüchterten menschlichen Verstands schaffen, und er befolgte dabei die Maxime «Man soll von mir verlangen, dass ich die Wahrheit suche, aber nicht, dass ich sie finde». Er selber steuerte allein für die ersten beiden Bände – anonym – rund 3500 Artikel bei, darunter politisch zentrale wie «Aufgeklärt», «Autorität», «Bürger» und «Eigentum». Die erschöpfende Arbeit machte Diderot zum «Sklaven» (Voltaire) der Enzyklopädie, entfremdete ihn langjährigen Freunden und wurde nur für die Drucker «ein glänzendes Geschäft», wie der Historiker Robert Darnton in seinem Standardwerk «The Business of Enlightment» (1979; deutsch unter dem Titel «Glänzende Geschäfte», 1993) gezeigt hat. Sein fleissigster Mitarbeiter, Louis de Jaucourt, schrieb rund 20 000 Artikel, für die er mit Büchern bezahlt wurde. Schliesslich musste Jaucourt sein Haus verkaufen, das von einem der vier Verleger erworben wurde, die durch die Enzyklopädie reich geworden waren. Zweimal wurde die «Encyclopédie» verboten, aber weil sich der französische Hof mit seinen «philosophes» international profilieren wollte, wurde der Vertrieb des Werks im Ausland und in der Provinz schliesslich erlaubt und blieb nur in Paris untersagt.

Über die Vernunft der Hirsche

Zu Diderots Strategien der Aufklärung und Kritik gehörten auch List, Ironie, Spott sowie Paradoxa, mit denen die Entlarvung des maroden Regimes kaschiert wurde. Mit unsinnigen Nebensätzen etwa über die Frage, ob Hirsche im Alter vernünftig würden, verballhornte das Lexikon dogmatische Irrationalismen, oder es verspottete autoritative Gewissheiten, indem es in sachliche Darlegungen über das Volk der Chaldäer aufklärerische Programmsätze einfügte: «Der Mensch ist dazu geboren, selbst zu denken», um dann fortzufahren, dass nur Chaldäer auf die Idee kommen könnten, «der Vernunft Grenzen zu ziehen». Der Artikel «Frankreich» von Jaucourt umfasst bloss 900 Wörter, die vor allem vom Elend und vom sozialen Gefälle handeln. Diderot hingegen beanspruchte für seinen Artikel «Encyclopédie» 31 Seiten mit rund 32 000 Wörtern, um dem Publikum die neue Art zu denken vorzuführen. «Unsere Losung», schrieb er im September 1762 an Voltaire, «lautet: Kein Pardon für die Abergläubischen, die Fanatiker, die Unwissenden, die Toren, die Bösen und die Tyrannen!»

Diderots häufiger Perspektivenwechsel und sein ironisches Spiel damit, dass etwas so oder auch anders sein könnte, werden oft missverstanden. Aber seine radikale Kritik an eindimensionalem und dogmatischem Denken richtete sich gezielt gegen die kartesianischen und christlich-theologischen Dualismen. Die starre Entgegensetzung von Geist und Körper, Intellekt und Sinnlichkeit, Zufall und Notwendigkeit sowie Gott und Welt sprengte Diderot auf, als «heftiger Dialektiker», wie ihn Johann Wolfgang Goethe würdigte.

Dem platten Fortschrittsoptimismus vieler Aufklärer erlag Diderot nicht. In den Fantasien der «Gespräche mit d’Alembert», geschrieben 1769, aber erstmals 1830 veröffentlicht, werden Ziegen mit Menschen gekreuzt, um eine «flinke Rasse» zu züchten. Doch Diderot erkennt darin kein erstrebenswertes Ziel, sondern nur die Verewigung von Herrschaft: «Ziegenmenschen in Livree» traben «hinter der Kutsche ihrer Herzoginnen» her.

Signatur der Moderne

Seine beiden formal avancierten Prosatexte «Rameaus Neffe» und «Jacques der Fatalist und sein Herr» erschienen erst posthum, und zwar in Deutschland früher als in Frankreich, der erste 1805 von Goethe übersetzt. Rameaus Neffe ist ein Mitläufer in einer moralisch verkommenen Gesellschaft. Diderot entfaltete seine Gesellschaftskritik in einem Dialog zwischen einem «Ich», hinter dem er sich manchmal versteckt, und einem «Er», Rameaus Neffen. Dieser vereinigt in sich den antiken Kyniker in der Tradition von Diogenes, als Provokateur, Kritiker und Immoralist, mit dem in der Moderne angekommenen Zyniker, der Ungleichheit, Herrschaft und die angeblich «beste Ordnung der Dinge» verteidigt. Die Person des Neffen ist hündisch-gehorsam und bekennt gleichzeitig: «Ich möchte gern ein anderer sein.» Ich-Spaltung und Selbstwiderspruch stehen ihm auf die Stirn geschrieben. Georg Wilhelm Friedrich Hegel bezog sich explizit auf Diderots Roman, als er 1807 in der «Phänomenologie des Geistes» den «sich entfremdeten Geist» als «zerrissenes Bewusstsein» und zugleich als Signatur des Zeitalters der Moderne porträtierte.

In seinem Kapitel über die Dialektik von Herr und Knecht stützte sich Hegel zudem auf Diderots «Jacques der Fatalist und sein Herr». Dieser Text bricht mit allen konventionellen Erzählformen. In einem virtuosen Spiel entfaltet Diderot einen Dialog über Willensfreiheit und Schicksal, Zufall und Notwendigkeit, in dem traditionelle Gewissheiten zu Staub zerrieben werden. Zugleich wird jedoch daran festgehalten, dass «sich die Vernunft keiner ausser ihr liegenden Autorität beugen darf», so der Literaturwissenschaftler Jean Starobinski. Jacques’ Fatalismus, nach dem «alles oben geschrieben steht», erweist sich als ebenso widersprüchlich wie die Kritik des Herrn daran. Diderot gibt keine endgültigen Antworten, sondern demonstriert die vielfältige «Kunst der Beweisführung», wie Starobinski belegt.

Ab 1759 arbeitete Diderot an der «Correspondance littéraire, philosophique et critique» mit, die an ausgewählte Empfänger an europäischen Höfen verschickt wurde. Er berichtete vor allem über Kunstausstellungen – die jährlichen «Salons» – und schuf dabei das Genre einer Kunstkritik, die ihren Glanz bis heute behalten hat. 1773 folgte er einem Ruf der Zarin Katharina II. an den Hof nach Sankt Petersburg. Der kurze Aufenthalt wurde ein Fiasko. Sein Credo «Ich sage Ihnen nur, was ich denke» wollte niemand hören. Am 31. Juli 1784 starb Denis Diderot in Paris.

Neues von Diderot

Denis Diderots «Enzyklopädie» liegt auf Deutsch in älteren, sehr begrenzten Auswahlbänden vor. Zum Jubiläumsjahr sind jetzt einige Diderot-Texte neu publiziert worden:

Denis Diderot: «Philosophische Schriften». Überarbeitete Übersetzung von Theodor Lücke. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Alexander Becker. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2013. 282 Seiten. Fr. 24.50.

Guillaume Raynal  /  Denis Diderot: «Die Geschichte beider Indien». Zusammengestellt, mit Abbildungen und einem Nachwort versehen von Hans-Jürgen Lüsebrink. Die Andere Bibliothek. Berlin 2013. 350 Seiten. Fr. 28.90.

«Diderots Enzyklopädie». Mit Kupferstichen aus den Tafelbänden. Neu ediert von Anette Selg und Rainer Wieland und mit einem Essay bereichert. Aus dem Französischen von Holger Fock, Theodor Lücke, Eva Moldenhauer und Sabine Müller. Die Andere Bibliothek. Berlin 2013. 508 Seiten. 106 Franken.