Christa Wolf (1929–2011): «Gut, dass ich hier gewesen bin»

Nr. 49 –

Die Schriftstellerin Christa Wolf hat mit ihren Texten und Büchern fünfzig Jahre lang die deutschsprachige Literatur mitgeprägt und immer wieder zu Diskussionen angeregt. Am 1. Dezember ist sie 82-jährig in Berlin verstorben.

Einen Kuckuck, der nicht singt, könne man entweder umbringen, ihn zum Singen bringen oder warten, bis er sich wieder dazu entschliesst, sagte Christa Wolf anlässlich ihres 80. Geburtstags vor zwei Jahren in der völlig überfüllten Berliner Akademie der Künste. Den Vers dazu hatte ihr Enkel aus Japan geschickt. Damals bat die Jubilarin um Verständnis für das gelegentliche Schweigen – und mehr Aufmerksamkeit beim Zuhören.

Ein Jahr später schickte der Kuckuck noch einmal eine Botschaft in die Welt: In der kalifornischen «Stadt der Engel», Los Angeles, begab sich die Schriftstellerin erneut auf Spurensuche in eigener Sache. Gehüllt in «Dr. Freuds Overcoat», so der Untertitel dieses letzten Rufs aus dem Walde, grub sich Wolf noch einmal in die Vergangenheit, zu den existenziellen Knotenpunkten vor: in die Kindheit im heute polnischen Landsberg an der Warthe, die Jugend in der NS-Zeit und zur gläubigen jungen Kommunistin, die unter dem Decknamen «Margarete» zwischen 1959 und 1962 einen kurzen Pakt mit der Macht einging, weil sie «die» dort oben und sich selbst noch als Team auf der gleichen Zielgeraden betrachtete.

Wie immer kam auch zu den Lesungen aus diesem Buch Wolfs Gefolgschaft in grosser Zahl. Ihre KritikerInnen dagegen schalten sie, mit der als Roman verkleideten autobiografischen Ausmessung das Genre verfehlt zu haben. Ein ewiges Missverständnis: Als hätten nicht schon «Nachdenken über Christa T.» (1968) oder «Kindheitsmuster» (1976) die Begegnung mit dem Ich in die Zone des Du gerückt, um es kommunizierbar zu machen. Nur dass einem dieses Ich vor dreissig oder vierzig Jahren in beiden deutschen Ländern ganz anders begegnete als das in der US-amerikanischen Agonie unter Palmen sprechende. Man kann es anders wenden: Literarische Ausnahmeerscheinungen wie Christa Wolf wuchsen an der Zensur; als scheinbar alles möglich wurde, verhallte ihr Ruf.

Skepsis als zweite Haut

Nun ist der Kuckuck endgültig verstummt. Nicht hingemeuchelt, obwohl es einige Anschläge auf ihn gab nach der sogenannten Wende, als im Herzen konservative WestfeuilletonistInnen ihr linkes Mäntelchen endgültig abwarfen und mit der «Staatsdichterin» gleichsam alles erledigen wollten, was noch einmal links aufmucken wollte. Denn ausgerechnet diese Staatsdichterin war es gewesen, die 
einer von Ballast befreiten, erneuerten DDR eine Chance hatte geben wollen, als sie, gerade aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) ausgetreten, am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz die legendäre Losung ausgab: «Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg.» Die Hoffnung, die sich in dieser Aufforderung aussprach, überlagerte die Skepsis, die die zweite Haut der Dichterin war und sich insbesondere in den Untergangsszenarien durchsetzte, mythologisch verbrämt in «Kassandra» (1983), brisant-aktuell in «Störfall» (1987), Wolfs Reaktion auf den Atom-Gau in Tschernobyl.

Ihre Skepsis rührte aus durchlebter politischer Erfahrung. Als Angehörige des Jahrgangs 1929 – und deshalb eben «nur» Führeranwärterin für den Bund Deutscher Mädel (BDM) – zu jung, um die ganz grosse Schuld zu verantworten, zu alt, um sich mit der «Gnade der späten Geburt» zu imprägnieren, standen Wolf und ihr Werk immer für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Das neue, ganz andere Deutschland namens DDR schien ihr lange Zeit der politische Gegenpol, auch wenn das subjektive «kleine» Leben immer stärker in Spannung geriet mit den kompromisslosen Ansprüchen, die die «dritte Sache», der Sozialismus, angeblich forderte. Sie glaubte an das «Unmögliche» – «einmal im Leben, zur rechten Zeit», heisst es in «Nachdenken über Christa T.», «sollte man an das Unmögliche geglaubt haben» –, ohne den Möglichkeitshorizont, das, was auch für den Einzelnen einlösbar war, aus ihrer Aufmerksamkeit zu rücken.

In der Frühzeit ihres Schreibens hat das Wolf in der DDR den Vorwurf der «dekadenten Lebensauffassung» eingetragen. Gegen die Behauptung, sie ziehe sich auf «Innerlichkeit» zurück, verteidigte sie sich 1966 in einem Selbstinterview: Es sei eine «absurde» und unzeitgemässe Meinung, «die sozialistische Literatur könne sich nicht mit den feinen Nuancen des Gefühlslebens, mit den individuellen Unterschieden der Charaktere befassen» und sei darauf angewiesen, «Typen zu schaffen, die sich in vorgegebenem soziologischen Bahnen bewegen». Früher noch als in der BRD, wo sich die «Neue Subjektivität» den grossen politischen Entwürfen entzog, hat Wolf ausgerechnet im kleinen Land, das diesen Auftrag beanspruchte zu erfüllen, das «kleine Glück» ihrer LeserInnenschaft ernst genommen und sie damit für sich gewonnen.

Für DDR und BRD

Dabei waren ihre Romane in der BRD wie der DDR gleichermassen relevant. In der DDR, weil sich Wolf den engen Dekreten der offiziellen Literaturpolitik entzog, neue ästhetische Wege ging und aufscheinende gesellschaftliche Entwicklungen aufnahm; im Westen, weil die «subjektive Authentizität» ihrer Figuren – ein von ihr selbst geprägter Begriff – eingebettet blieb in ein Handlungskonzept, das sich gesellschaftlich verpflichtet sieht. «Das Bedürfnis, auf eine neue Art zu schreiben», begründet sie diese Poetologie, «folgt, wenn auch mit Abstand, einer neuen Art, in der Welt zu sein.»

Die «neue Art, in der Welt zu sein», etwa in der Weise, wie sie die FrühromantikerInnen erlebten oder an der ein Heinrich von Kleist litt, macht verletzlich, im realen Leben wie im Werk. In der Erzählung «Kein Ort. Nirgends» und im Essay «Der Schatten eines Traums» (beide 1979) hat Wolf die schon in «Nachdenken über Christa T.» angelegte Krankheitsmetapher wieder aufgenommen, Jahrzehnte später wird sie in «Leibhaftig» (2002) ganz unmetaphorisch am eigenen Körper durchexerziert werden. Das Provisorische der menschlichen Existenz und die prinzipielle Unabgeschlossenheit gesellschaftlicher Verhältnisse werden gegen alle politischen oder ästhetischen Zementierungen verteidigt: «Begreifen, dass wir ein Entwurf sind – vielleicht um verworfen zu werden, vielleicht um wieder aufgenommen zu werden», heisst es in «Kein Ort. Nirgends», «darauf haben wir keinen Einfluss.» Man bleibe auf ein Werk verwiesen, «das offen bleibt, offen wie eine Wunde».

Die Krux an der DDR war, dass das «Provisorische» in statische Verhärtung überging, die martialisch gegen jede Veränderung verteidigt wurde. Wolf blieb – bis auf die Ausbürgerung Wolf Biermanns – loyal und war deshalb eine geeignete Mediatorin zwischen Ost und West. Doch auf ihr Unerträgliches, auf «kranke» Verhältnisse, reagierte sie symptomatisch mit Immunschwäche oder Herzinsuffizienz. Was die Anwürfe gegen die «Inoffizielle Mitarbeiterin Margarete» (IM) für sie bedeutet hat, lässt sich unschwer aus ihren beiden literarischen Erwiderungsreden «Was bleibt?» und «Die Stadt der Engel» herauslesen. Dass aus ihrem – für die Betroffenen ganz folgenlosen – IM-Intermezzo im neuen Kapitalismus für ihre KritikerInnen mehr Rendite zu schlagen war als aus einer zentnerschweren Stasiakte, musste ihr wie ein Menetekel erscheinen.

Von Trauer und Reue

«Tätig werden» und «dabei selber sein» war für sie ein lebenslanges Diktum. Christa Wolf war im jugendlichen Alter, als Millionen Jüdinnen und Juden ermordet wurden – sie hat sich zeitlebens dafür eingesetzt, dass die kollektive Amnesie nicht in einer Amnestie mündete. Sie wurde tätig, als es einen neuen besseren Staat aufzubauen galt, und hat sich stets dagegen gewehrt, dass er, entstellt und ausgeblutet, in den gleichen Topf geworfen wurde mit dem vorangegangenen. Mit «Kassandra» nahm sie Partei für die Frauen, die irrigerweise das «Weibliche» in eins setzten mit dem Friedfertigen. Doch für uns, die wir in den achtziger Jahren die «weibliche Ästhetik» zu entdecken begannen, war Wolf eine unverzichtbare Gewährsfrau. Als dann «das Volk» der DDR auf die Strasse ging, schloss sie sich ihm an; dem «einzig einig Volk» indessen blieb sie fremd: «Ich glaube nicht, dass das im Herbst eine Revolution war. Es war eine Volkserhebung, die münden musste in diesem Zusammenbruch … Und ich glaube schon, dass das Trauer und Reue wert ist», gibt sie rückblickend und enttäuscht angesichts der realen Entwicklung zu Protokoll.

«Mit der Erzählung gehe ich in den Tod», lässt Wolf Kassandra, die antike Seherin, sagen. Einen so apodiktisch-dramatischen Umgang mit sich selbst pflegte Wolf nicht, denn sie wusste um ihre Irrtümer und hat sich ihnen ausgesetzt. Die «ihr noch verbliebenen Wörter» hat sie «zögernd und leise gesprochen» im vergangenen Jahrzehnt, vielleicht hat sie gerade deshalb ihre Position als moralische Instanz – zumindest im Osten – behaupten können. Aus dem Westen hingegen wird ihr nun viel Lobendes nachgerufen, vielleicht schwingt da das Schuldgefühl mit, so unnachsichtig mit ihr gewesen zu sein. Der wieder in Umlauf gebrachte Massstab lautet «Wahrhaftigkeit», als wäre dies eine Währung, die im korrumpierten Kapitalismus nobilitiert werden müsste. Könnte Christa Wolf das noch erleben, würde sie vielleicht die letzten Worte aus dem «Sommerstück» zitieren: «Gut, dass ich hier gewesen bin.»