Durch den Monat mit Stina Werenfels (Teil 2) : Sind Sie Jüdin?

WOZ: In Ihrem Beitrag zum Dokumentarfilm «ID Swiss» haben Sie Ihre jüdische Abstammung thematisiert. Wann begannen Sie sich dafür zu interessieren?
Stina Werenfels: Mit achtzehn ging ich in einen Kibbuz, weil ich beim Aufbau von Israel helfen wollte. Ich hatte erfahren, dass ich mit einer jüdischen Grossmutter mütterlicherseits nach jüdischem Gesetz Jüdin bin. Auch wenn ich bis dahin vollkommen protestantisch aufgewachsen war.
Sie wussten, dass Sie eine jüdische Grossmutter haben?
Ja, aber es wurde nicht darüber geredet. Ich hatte einen jüdischen Freund, aber ich war quasi seine Goyte, das heisst nichtjüdische Freundin. Damals wurde der Wunsch, irgendwo dazuzugehören, immer wichtiger. Und das Exotische hat mich angezogen. Dieses Angebot: Du bist willkommen, bleib bei uns, heirate, mache jüdische Kinder, hat mich beflügelt. Und im Zusammenhang mit dem Jüdischsein kommt schnell das territoriale Argument dazu: Wenn ich nach
Israel gehe, bin ich ganz zu Hause, was ja eine völlig absurde Vorstellung ist. Ich fragte mich: Will ich jetzt jüdisch leben oder nicht? Aber es gab bei mir keine religiöse Komponente. Und wenn ich die Religion nicht praktiziere, dann hat das keine grosse Bedeutung, sondern dann geht es um tribale Zugehörigkeit. Als ich an «ID Swiss» arbeitete, kam ich nach langen Gesprächen mit einem Rabbiner zu diesem Schluss.
Stammeszugehörigkeit – ein guter Ausdruck. Ihre Suche war also keine Rebellion gegen die Mutter?
Doch. Auch meine Schwester hat dieselbe Entwicklung durchlaufen. Es war meiner Mutter physisch unangenehm, dass wir sie mit ihrer jüdischen Herkunft konfrontierten. Weshalb, habe ich erst später verstanden. Sie hatte Angst.
Kamen Angehörige von ihr ins Konzentrationslager?
Meine Mutter hat die meisten Tanten und Onkel verloren. Von den zwölf
Geschwistern meiner Grossmutter sind mehr als die Hälfte im KZ ermordet worden. Für sie war das Judentum nur mit Schmerz, Leid und Verlust verbunden. Ausserdem hatte meine Grossmutter, als sie in die Schweiz kam, einen harten Stand gegen eine antisemitische Schwiegermutter.
Ist Ihre Mutter konvertiert?
Nein, für sie stellte sich die Frage nicht mehr, sie war auch schon getauft. Meine Grossmutter hat alles getan, um die Assimilation voranzutreiben, damit das Jüdische verschwindet. Also handelte ich wohl aus einer Protesthaltung heraus. Zudem begann damals eine Welle: Gerade Kinder der dritten Generation betreiben gerne «Wurzelsuche». Aus der sicheren Distanz sozusagen. Ich hatte das Glück, mich in meiner Filmarbeit mit diesen Fragen beschäftigen zu können. Das half mir, über Identität scharf nachzudenken und nicht sentimental zu werden.
In «ID Swiss» erzählen Sie, Sie seien oft auf Ihr jüdisches Aussehen angesprochen worden.
Ja, es kommt vor, dass Leute mich aus dem Blauen heraus darauf ansprechen. Ich habe herausgefunden, dass es mit oberflächlichen Zeichen zu tun hat. Zum Beispiel mit dunklen, krausen Haaren. Ausserdem denken die Leute: Integriert, gebildet, Brillenträgerin, das muss eine Jüdin sein.
Haben Sie das auch als diskriminierend erlebt?
Nein, höchstens einengend. «Mach doch wieder eine jüdische Komödie, etwas Lustiges wie ‹Pastry, Pain & Politics›», heisst es dann.
Auf Ihrer filmischen Spurensuche hat Sie die Rolle der Frau interessiert. Bei den frommen Juden haben die Frauen sehr eingeschränkte Rechte.
Ich porträtierte eine Frau, die konvertierte und dann einen chassidischen Rabbiner heiratete. Sie war fasziniert von der Orthodoxie. Mich interessierte, inwiefern sich diese Frau in den Restriktionen aufgehoben fühlte, inwiefern aber auch bevormundet. Religion wird wieder wichtiger, weil sie Geborgenheit und Regeln verspricht. Und Formen von Gemeinschaft, die dauerhaft sind in einer Welt, die in Bewegung gerät. Aber den Wunsch, darin total aufgehen zu wollen und sich kritiklos zu unterwerfen, den finde ich gefährlich. Dasselbe gilt für die neuen christlichen Kirchen und den islamischen Fundamentalismus. Dazu kommt der Rückgang des Politischen: Die Achtundsechziger und die Achtziger hatten in ihrer Bewegung
eine ideelle Heimat, und die ist nicht
mehr da.
«Nachbeben», Ihr neuer Spielfilm, läuft in Berlin an. Was wünschen Sie sich?
Dass der Film verstanden wird und wir Verleiher finden, damit der Film auch international ins Kino kommt.
Stina Werenfels, geboren 1964, ist Regisseurin und verheiratet mit einem Araber.