Sigmund Freuds 150. Geburtstag: Und er kehrt doch wieder

Nr. 18 –

Die Anzeichen mehren sich, dass der Psychoanalyse ein Comeback bevorsteht. Daran ändern auch die sieben populären Irrtümer nichts, die nach wie vor über sie kursieren.

«Der am häufigsten entlarvte Doktor»: So beschreibt das US-Magazin «Newsweek» Sigmund Freud in der Titelgeschichte, die es ihm zum 150. Geburtstag widmet. Wie zum Beweis präsentiert es eine repräsentative Umfrage. Demnach wird die Psychoanalyse von den AmerikanerInnen mit 76 gegen 13 Prozent abgelehnt. Zum Vergleich: Sogar George Bush erreicht trotz des historischen Popularitätstiefs, in dem er seit Monaten steckt, eine Zustimmungsquote von über 30 Prozent.

Freud, der Scharlatan, an den niemand mehr glaubt - eine alte Geschichte. Und doch: Etwas scheint sich geändert zu haben. Ist es nicht erstaunlich, dass «Newsweek» Freud überhaupt auf den Titel setzt? Vor einem Jahr hatte das Magazin noch behauptet, die Psychoanalyse gehöre zusammen mit dem Marxismus auf den Müllhaufen der Geschichte. Und dieser Tage erscheint zur Psychoanalyse eine Sondernummer der «Neuen Rundschau», eine grosse Serie in der «Zeit», ja sogar eine Coverstory im «Geo». Kündigt sich ein Comeback an? So genau scheint das niemand zu wissen. «Newsweek» beispielsweise schreibt, eine Wissenschaft, die nach all den Widerlegungen noch immer existiere, müsse allein deshalb interessant sein. Aber es dürfte eine einfachere Erklärung für das neu erwachte Interesse geben: In den letzten Jahren hat sich in der geisteswissenschaftlichen Forschung zur Psychoanalyse einiges getan. Dabei erweisen sich viele Argumente, die zum schlechten Ruf der Psychoanalyse beitragen, als reine Vorurteile, die im Folgenden widerlegt werden. Vieles spricht dafür, dass Freuds Ansehen in den nächsten Jahren steigen dürfte.

Vorurteil 1: Ineffiziente Behandlung.

Wer macht heute noch eine Psychoanalyse? Eben. Der Rückgang zeigt sich am deutlichsten in den USA, wo sich Krankenkassen häufig weigern, die hohen Kosten zu übernehmen. Die Behandlung gilt als ineffizient. Warum sollte man Zeit und Geld aufwenden, wenn es doch Prozac gibt? Aber das ist ein ganz falscher Vergleich. Denn wie der Berliner Religionsphilosoph Jacob Taubes einmal gesagt hat, ist Freud «nicht nur Arzt des Individuums, sondern auch Arzt der Kultur». Im Unterschied zu allen psychologischen Therapien oder zu Prozac, im Unterschied auch zu Wellness oder Joga, verfolgt die Psychoanalyse nicht einfach das Ziel, das Individuum zu einem besser funktionierenden Mitglied unserer Gesellschaft zu machen. Das eigentliche Ziel ist ein langfristiges: die Gesellschaft umzugestalten. Und zwar derart, dass keine Psychotherapie, kein Prozac und keine Wellness mehr nötig sein werden. Kein Wunder, lässt sich bei diesem Zeithorizont die Effizienz nicht in Taggeldern berechnen.

Vorurteil 2: Falsche Biologie.

Die neue Hirnforschung hat Freuds Annahmen über die menschliche Psyche widerlegt. Selbst ein Forscher wie Mark Solms, der an die Kompatibilität von Neurologie und Psychoanalyse glaubt, vergleicht die beiden Disziplinen mit zwei Blinden, die einen Elefanten abtasten. Der eine erwischt den Rüssel, der andere den dicken Bauch, und nur wenn beide ihre Resultate zusammenfügen, erkennen sie das Tier. Aber solch zweifelhafte Ehrenrettung hat die Psychoanalyse gar nicht nötig. Denn Freud betrieb gar keine Hirnanatomie. Vielmehr entwickelte er ein philosophisches Modell des Subjekts. Die adäquaten Vergleichsgrössen liefert deshalb nicht die heutige Neurologie, sondern Philosophen wie Descartes oder Kant, die ebenfalls Modelle des Subjekts entworfen haben. Und hier hat Freud durchaus gute Chancen. Heute geht die Forschung davon aus, dass sein Modell eines der führenden, wenn nicht das führende der Philosophiegeschichte ist.

Vorurteil 3: Pansexualismus.

Am Anfang des letzten Jahrhunderts, als viele europäische Intellektuelle sich von den FKK-Freaks auf dem Monte Verità angezogen fühlten, war der Pansexualismus in aller Munde. Auch bei den Gegnern der Psychoanalyse. Sie behaupteten, Freud wolle die Menschen zurück zur Natur führen, zu einer grenzenlosen sexuellen Freiheit. Das Gegenteil ist der Fall: Freud erachtete die Vorstellung einer verlorenen Natur als eine grosse Illusion. Und diese Illusion versuchte er zu zerstören. Denn sie lenkt, so seine Erkenntnis, von den tatsächlichen Alternativen ab, die es zur gegenwärtigen Kultur gibt.

Vorurteil 4: Patriarchat.

In den politisch bewegten StudentInnenkreisen der sechziger und siebziger Jahre war Freuds «Phallozentrismus» ein populäres Thema. Philosophen wie Gilles Deleuze, Michel Foucault oder Jacques Derrida warfen der Psychoanalyse vor, sie verteidige mit den Theorien der Kastrationsangst und des Penisneids das väterliche Gesetz. Dieser Einwand ist bis heute populär geblieben (Derrida hat sich davon distanziert). Und doch ist er einfach zu widerlegen. Es stimmt zwar, dass die Psychoanalyse immer wieder die Macht des väterlichen Gesetzes beschreibt und alle Neurosen letztlich darauf zurückführt. Aber das ist gerade keine Verteidigung des Patriarchats. Denn die Psychoanalyse beschreibt die Welt, wie sie ist, und nicht, wie sie sein sollte. Ihr Credo lautet: Nur wer den Tatsachen ins Auge blickt, kann sie verändern.

Vorurteil 5: Eurozentrismus.

Was hat man sich darüber aufgeregt, dass Freud von «primitiven Völkern» sprach, deren Kulturen hinter der unsrigen zurückgeblieben seien! Aber auch hier ist seine Pointe übersehen worden. Wenn er zum Beispiel die Logik des Tabus untersuchte, tat er das gerade nicht, um die «Primitiven» lächerlich zu machen. Vielmehr zeigte er, welche Macht das Tabu auch in unserer vermeintlich aufgeklärten Gesellschaft noch ausübt. Hier ist seine Strategie dieselbe wie bei Marx. Dieser sprach vom «Fetischcharakter der Ware», um zu verdeutlichen, dass wir aufgeklärten Europäer selbst an jene Fetische glauben, die wir bei den «Primitiven» so gerne kritisieren.

Vorurteil 6: Homophobie.

Dass die Psychoanalyse die heterosexuelle Norm vertrete, war besonders in den achtziger und neunziger Jahren ein häufiger Vorwurf. Man denke etwa an Judith Butler. Jedoch: Auch das ist falsch. Denn wie Freud mehrmals explizit sagte, nahm er an, dass wir alle bisexuell sind. Die heterosexuelle Norm gehört dagegen zum Patriarchat (vergleiche Vorurteil 5).

Vorurteil 7: Atheismus.

Kürzlich hat Jacques-Alain Miller, der die Schriften des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan herausgibt, Freud vorgeworfen, er habe zu sehr an die Vernunft geglaubt und die Macht der Religion verkannt. Schon früher, als Atheismus noch als Tugend galt, war jener von Freud ein beliebtes Thema. Eine der berühmtesten Freud-Biografien etwa, jene von Peter Gay, trägt den Titel «Ein gottloser Jude». Aber letztlich ist es egal, ob man es positiv oder negativ bewertet. Er verachtete die christliche Religion und kritisierte am rabbinischen Judentum gewisse Tendenzen, die er als quasichristlich bewertete. Aber am Gott von Moses hielt er zeitlebens fest. Kurz gesagt: Er war einfach Jude.


Das Freud-Institut Zürich veranstaltet unter dem Motto «Unterwelt in Aufruhr» am 5. und 6. Mai 2006 in der Aula Rämibühl Zürich ein Symposium zu Freuds Geburtstag. Den Festvortrag hält der Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt. Programm unter www.freud-institut.ch.