Kinshasa: Dandys und Schattenboxer

Nr. 22 –

Als Muhammad Ali gegen George Foreman kämpfte, blickte die Welt nach Kinshasa. Spuren des «Rumble in the Jungle» sind in dieser posturbanen afrikanischen Metropole noch heute zu finden.

Sonntags früh, bevor die Sonne ihre tropische Gewalt entlädt, nehmen sich junge Männer in Kapuzenshirts den Boulevard Lumumba vor. Immer gegen die Fahrtrichtung federn sie am grünen Mittelstreifen entlang. Schlagen mit bandagierten Händen Geraden und Haken gegen Schatten, tänzeln vorbei an Autowracks, die auf dem Grün verrosten, gegen den nur sonntags frei fliessenden, spärlichen Verkehr. Die mehrspurige Strasse führt vom internationalen Flughafen am Stadtrand bis zum alten Flugfeld N’dolo mitten in Kinshasas Einfacher-Leute-Gegend. Zwischen diesen Enden schneidet der Boulevard durch das geduckte Hüttenmeer des Armenviertels Masina. Dessen höchste Erhebungen sind Treppen am Strassenrand, Treppen, die ins Nichts führen. Man weiss nicht, existierten die Fussgängerbrücken jemals, zu denen sie führen sollten? Oder werden sie noch kommen, sind die Treppen zementene Sprungschanzen in eine bessere Zukunft?

Letzteres ist unwahrscheinlich. Denn schnell fällt auf, was an dieser Stadt nicht stimmt. In der Sieben- oder Acht-Millionen-Stadt, Afrikas viertgrösster, wird nirgendwo gebaut. Kein Vertrauen in die Zukunft, nirgends. Auch deshalb wohl bevölkern unzählige StrassenverkäuferInnen die Stadt. Statt in den festen Strukturen eines Geschäfts bieten sie ihre Ware als mobile Tante-Emma-Läden feil. Sie stehen am Strassenrand und haben alles, von Doppelbettmatratzen bis zu Gesamtausgaben französischer Klassiker. Eine Zeitung schrieb: «Demnächst lassen wir uns auf der Strasse die Omelettes backen.» Hier wird nichts aufgebaut, und was schon steht, verfällt. Deshalb wiegt die Erinnerung an das, was einmal war, schwerer als anderswo.

Auf dem Weg stadteinwärts streift der Boulevard Lumumba um Haaresbreite den Ort, auf den am 30. Oktober 1974 Millionen Augenpaare aus aller Welt gerichtet waren. Im Stadion Tata Raphaël prallten Muhammad Ali und George Foreman aufeinander, im Kampf des Jahrhunderts, im «Rumble in the jungle», im ersten - und einzigen - Schwergewichts-Weltmeistertitelkampf in Afrika.

Dass der Kampf in Kinshasa stattfand, lag vor allem an der Grosszügigkeit des Gastgebers, des kongolesischen Präsidenten Joseph-Désiré Mobutu. Während das Land im freien Fall in den Bankrott ging, spendierte er die Rekordbörse von zehn Millionen US-Dollar. Aber es ging nicht nur ums Geld. Die Vorstellung, dass zwei schwarze amerikanische Boxer im Herzen Afrikas eine Meisterschaft austrugen, löste auf beiden Seiten des Atlantiks Gefühle panafrikanischer Seligkeit aus.

Für Ali und Foreman war Afrika der verklärte Mutterkontinent, aus dem ihre Vorfahren gewaltsam verschleppt wurden. «Ich bin zurück nach Hause gekommen, um hier mit meinem Bruder zu kämpfen», sagte Ali bei seiner Ankunft. Und für ältere KongolesInnen wie den 71-jährigen Gabriel Mamba Poyo, der damals die kongolesische Flagge ins Stadion trug, ist selbstverständlich: «Alis und Foremans Vorfahren kamen aus dem Kongo.»

Gastgeber Mobutu hatte eine ganz spezielle Variante des Panafrikanismus erfunden, er nannte sie «authenticité». Seine vermeintliche Rückbesinnung auf authentische afrikanische Werte schlug sich zuerst in einer Flut von Umbenennungen nieder. Aus Joseph-Désiré Mobutu wurde darum Mobutu Sese Seko Kuku Ngbendu Wa Za Banga. Kongo hiess fortan Zaire, Léopoldville verwandelte sich in Kinshasa.

Danach knöpfte er sich die Kleidung vor. Frauen mussten die knappen Miniröcke der Siebziger durch lange Wickeltücher ersetzen. Bei den Männern «schaffte Mobutu die Krawatten ab, er kreierte ‹le safari›», erinnert sich Mamba - einen eigenwilligen Anzug im Mao-Stil. «Aber damals, als Ali kam, haben wir alle ausgesehen wie (der Soulmusiker) James Brown. Perücke von Mama, spitze Schuhe und Hosen mit Schlag.»

Mamba, früher selbst Boxer mit Kampfnamen Jupiter, besucht hin und wieder im Stadion seinen Freund, den Verwalter Rogers Wawa Binga. Dann stehen sie beieinander, zwei alte Männer, und reden von früher. Der ruhige, schwere Mamba blickt aus dunkelblauen Augen unter weissen Wimpern hinunter zu Wawa. Er hört lächelnd zu, wenn Wawa, 1,57 Meter Dynamit in blauen Plastikschlappen, sich wieder einmal aufregt. «45 Minuten hat der Kampf gedauert, und wir haben verloren. Mobutu hat das Stadion umgebracht», schnarrt der ehemalige Ringer. Angriffslustig zeigt er auf die leeren Parkplätze vor dem Stadion, deretwegen 1974 die Fussballfelder planiert wurden. «Jetzt haben die jungen Leute keinen Ort mehr, an dem sie sich treffen können.» Hinter hohen Palmen sitzen heute auf den Parkplätzen nur vereinzelt Damespieler. Die Felder des Brettspiels sind auf die Tische gezeichnet, als Damesteine dienen Flaschendeckel. Nach den Parkplätzen führt Wawa Besucher gern in die schimmligen, nach hochkonzentriertem Urin riechenden Katakomben. «Lasst uns zusammen weinen!», sagt er und stapft im Dunkeln voran.

«Foremans Seite» steht vollkommen unter Wasser. Nur der kleine Raum, in dem er sich damals umzog, dient heute der Gemeinde Neues Jerusalem als spartanischer Kirchenraum. Auch «Alis Seite» ist heruntergekommen. Aber immerhin, hier hat der kongolesische Boxverband einen Sandsack hängen und trainiert den Nachwuchs. Der 24-jährige Mwamba Yax zum Beispiel kam aus der 800 Kilometer entfernten Stadt Kananga, um in der Nationalmannschaft zu trainieren. Verdienen kann er nichts mit seinem Sport, er wohnt deshalb in den Katakomben. Auch eine ganze Familie von Flüchtlingen aus dem Osten des Landes wohnt hier.

Yax ebenso wie eine junge Boxerin, die gerade zum Training kommt, genauso wie die Schattenboxer, die man sonntagmorgens auf dem Boulevard Lumumba trifft - wer sie nach dem «Kampf des Jahrhunderts» fragt, erhält die Antwort: «Ja klar, Muhammad Ali. Hab ich im Fernsehen gesehen.» Von den grossen Hoffnungen, dass das Ereignis wenigstens dem kongolesischen Sport einen Aufschwung bescheren würde, wissen sie nichts mehr.

Vom Stadion nur die Strasse hinunter, landet man auf der Place de la Victoire, dem Zentrum von Kinshasas legendärem Rotlichtviertel Matongé. Am Tag liegt es so unscheinbar da wie alle anderen Quartiere. Der Geruch von fettig gebackenen Krapfen strömt durch die Strassen. Die Frauen hinter den Pfannen sitzen auf niedrigen Schemeln. Heute tragen sie die gemusterten Wickeltücher freiwillig, die Mobutu ihnen einst aufzwang. Geldwechsler an Klapptischen verschwinden hinter ziegelsteingrossen Stapeln kongolesischer Francs. Westafrikaner in bunten Boubous schlendern zwischen flachen Häusern. Erst nachts merkt man, dass sich in Matongé eine Bar an die nächste reiht. Doch das Nachtleben bietet nur noch einen schwachen Abglanz der siebziger und achtziger Jahre. Armut und regelmässige Stromausfälle dämpfen ausgelassene Nächte. Heute sitzen Männer und Frauen beim Schein von Petroleumlampen im Stillen. Früher war Matongé das brummende Zentrum der kongolesischen Musik. Kongos bekanntester Musiker, Papa Wemba, wurde hier geboren.

Matongé bildete in den achtziger Jahren auch das Zentrum der Sapeurs, und Papa Wemba war ihr König. Die Sapeurs, das waren die schrillsten Exzentriker Kinshasas. Ihr Erkennungsmerkmal: neueste Designerklamotten inklusive eines baumelnden Etiketts zum Beweis der Echtheit. Echt waren die Kleider meistens, und fast immer in Belgien geklaut. Benannt nach dem Akronym SAPE - Société des Ambianceurs et des Personnes Elégantes, Gesellschaft der Stimmungsmacher und eleganten Personen -, waren die Sapeurs die sichtbarsten Gegner von Mobutus Zwang zur «Authentizität».

Die Sapeurs sind eine aussterbende Gattung, doch manchmal trifft man noch ein Exemplar. Den jungen Mann am Flughafen etwa, der mit Dandykappe auf einem verwachsenen Bein herumsteht und sein Hemd zur Schau trägt. Auf dem eng anliegenden Shirt prangt in fetten Lettern Dolce & Gabbana. Im Nacken schlenkert ein grosses Etikett, da steht es noch einmal in goldenen Buchstaben.

Vielleicht, weil sie durch Mobutu darin geübt wurden, neue Namen auf Altbekanntes anzuwenden, sind die BewohnerInnen Kinshasas so virtuos in Umbenennungen. Und mit den neuen Namen geht nicht selten die Umwertung ins Gegenteil einher. So wurde aus dem Kosenamen für Kinshasa «Kin-la-Belle», Kin die Schöne, bald «Kin-la-Poubelle», Kin der Mülleimer. Ein grosser Kunstmarkt vor dem Bahnhof ist allgemein bekannt als «marché des voleurs», Markt der Diebe. Doch fragt man die Händler, woher dieser Name stamme, sagen sie, irgendein Bösewicht habe sich mutwillig verhört, der Markt heisse in Wirklichkeit «marché des valeurs», Markt der Werte.

Kunstmarkt und Bahnhof liegen, anders als Stadion, Boulevard Lumumba und das Viertel Matongé, im nördlichen Teil der Stadt. Es ist das feine, ehemals weisse Kinshasa. Hier, im historischen Zentrum der Stadt, stehen die wenigen Hochhäuser Kinshasas, ausserdem Verwaltungsgebäude, Botschaften und Villen. Einige eröffnen den Blick auf den braunen Kongofluss.

Von den Vierteln, die später und ursprünglich für das Personal und die ArbeiterInnen gebaut wurden und die heute zu den dichtest bevölkerten gehören, ist das feine Kinshasa durch eine Pufferzone getrennt: Grünflächen mit dem zoologischen Garten, dem Golfclub, einigen Kirchen. Diese jüngeren Viertel sehen auf Stadtplänen aus wie New York, zackig rechtwinklige Strassenblöcke, am Reissbrett geplant.

Das historische Zentrum Kinshasas, sagt der belgische Ethnologe Filip de Boeck, ist für die meisten EinwohnerInnen nicht mehr von Bedeutung. Sie leben nicht dort, sondern im Süden, in teilweise weit entfernten Satellitenstädten wie Bandalungwa und Ndjili. Und Arbeit, Arbeit gibt es sowieso nicht. So wird die Peripherie zum neuen Zentrum, und die Begriffe verschwimmen.

In der Peripherie verwischt sich auch die Grenze zwischen Stadt und Land. Wer etwa den Boulevard Lumumba kurz vor dem internationalen Flughafen verlässt und einige hundert Meter in die Siedlungen hineinwandert, findet sich plötzlich zwischen Hainen und Feldern, auf denen Gemüse angebaut wird. De Boeck bezeichnet die Verländlichung Kinshasas als «Posturbanismus».

Muhammad Ali, der selbsterklärte «wissenschaftliche Boxer», schrieb in seinen Memoiren, er habe für den Kampf in Kinshasa einen geheimen Plan gehabt. Öffentlich hatte er in jedes Mikrofon seine angebliche Strategie gesungen: «I’m gonna dance», ich werde tanzen! Er tanzte nicht - und siegte. Die posturbanen Überlebenskämpfer Kinshasas haben keinen Geheimplan. Auf dem harten Pflaster des Boulevards Lumumba tänzeln sie, manche barfuss, einem ungewissen Ausgang entgegen.