Tourismus in Kaschmir: Berg zu mieten

Nr. 24 –

Gulmarg liegt auf 2730 Metern und wäre gerne ein Ferienparadies nach Schweizer Vorbild. An natürlicher Schönheit mangelt es nicht. Darum wird jetzt privatisiert - und nicht über Attentate nachgedacht.

Es stand zuerst in der «Times of India». Und zwei Tage später auch in Schweizer Zeitungen; die Schlagzeile lautete «Indien privatisiert Gulmarg-Areal». Gulmarg-was? Vermutlich sagt der Name hierzulande niemandem etwas ausser einigen wenigen ExtremskifahrerInnen. In Indien hingegen steht «Gulmarg» für «Blumenwiese». Oder für das beste Skigebiet im ganzen Himalajagebiet.

«Wir werden zur Nummer-eins-Skidestination in ganz Asien!» Nasir Ahmad Bhat, Tourismusdirektor für Kaschmir und Jammu, sitzt in seinem dunklen Büro mitten in Srinagar, der Hauptstadt Kaschmirs. Draussen ist es dreissig Grad, angenehm kühl für indische Verhältnisse. Das Kaschmirtal ist eine Hochebene auf rund 1700 Metern über Meer, grün liegt es da, eingebettet zwischen dem Greater Himalaya Range und dem Pir Panjal Range. Nasir Ahmad Bhat sagt, was jede Westlerin zu hören kriegt, die trotz offiziellen Warnungen europäischer Regierungen hierher kommt: «Kaschmir ist das Paradies auf Erden.» Und: «Wir haben ein riesiges Potenzial für Tourismus.» Aber ... «Aber wir haben kein Geld. Und darum brauchen wir ausländische Investoren, die uns helfen.»

Auf dem Pferd zur Talstation

Kaschmir hat nicht nur kein Geld, sondern ist auch Zankapfel im Konflikt zwischen Indien und Pakistan. Der indische Bundesstaat ist knapp zweieinhalbmal grösser als die Schweiz, rund zehn Millionen Menschen leben hier. Seit 1989 ist der Tourismus praktisch gänzlich zusammengebrochen. Fast vierzehn Jahre lang wagten sich kaum Reisende in diese mit natürlicher Schönheit reich beschenkte Region. Erst seit 2003, als ein bis heute währender Waffenstillstand vereinbart wurde, geht es wieder aufwärts, rapide. Aber nicht für alle schnell genug.

Gulmarg liegt 52 Kilometer von der Hauptstadt Srinagar entfernt. Die meisten InderInnen und die wenigen AusländerInnen, die den Ausflug machen, logieren in der Hauptstadt auf einem der Hausboote auf dem Dal Lake. Sie kommen für einen oder zwei Tage, per Bus oder Taxi, hüllen sich auf Gulmargs Parkplatz in die bei einem Verleihladen gemietete Bergausrüstung (Pelzmantel und -mütze, Handschuhe und Gummistiefel) und lassen sich auf dem Rücken eines kleingewachsenen Pferdes zur Talstation der Gondel befördern, die fünf Gehminuten entfernt am Fusse des steilen Afarwatgipfels liegt. Es hat hunderte dieser Pferde, und weil jedes seinen eigenen Meister hat, arbeiten in Gulmarg auch hunderte von so genannten Pony-Wallahs, Einheimische, die mit ihren Familien unten im Tal leben. Sie sind abhängig vom Tourismus; wenn man sie fragt, was sie sich für Gulmarg wünschen, dann antworten die in wollene Mäntel gehüllten Männer in gebrochenem Englisch entweder «dass viele Leute herkommen» oder einfach «good tourism».

Es ist das, was jeder, der hier arbeitet, will. Und trotzdem zucken sie bloss mit den Achseln, spricht man den Busfahrer, den Receptionisten, den Jungen, der draussen am Rande der Asphaltstrasse Kodakfilme verkauft, oder auch die hier stationierten Soldaten der indischen Armee auf die Meldung an, Gulmarg solle für 99 Jahre an private Investoren aus dem Ausland verpachtet werde. Für 200 Milliarden Rupien, wie ebenfalls zu lesen war, umgerechnet rund 6 Milliarden Schweizer Franken. Ist das viel oder wenig für eine ganze Region? In Kaschmir? Und wie geht das eigentlich: einen Berg privatisieren?

«Alles ist erst noch echt!»

Einer, der es wissen muss, ist der örtliche Tourismusverantwortliche, G.M. Dar. Mister Dars Büro befindet sich mitten auf der in Sommermonaten fotogenen, aber jetzt noch sumpfigen Wiese, in einem typischen Gulmarghaus: grünes Giebeldach auf grüner Holzfassade und weisse Fensterrahmen. «Das sind Gerüchte», sagt er ohne Umschweife. «Die Regierung hat zwar angekündigt, dass sie Gulmarg privatisieren wolle. Aber sie versteht das im Sinne von Entwicklungshilfe.» Über die Zukunft des Skiresorts will er nichts weiter sagen. Viel lieber erzählt er von den vielen Einzigartigkeiten Gulmargs: Die gelben Gondeln, von der französischen Firma Pomagalski gebaut, tragen die Passagiere in zwei Etappen bis auf den 4390 Meter hohen Afarwatgipfel. Der untere Teil der Seilbahn wurde 1998 eröffnet, der obere im Mai 2005.

Die Demarkationslinie zwischen Pakistan und Indien liegt nur wenige Kilometer von Gulmarg entfernt, irgendwo windet sie sich zwischen den hohen Gipfeln durch. Dass man an diesem Ort nicht viel davon spürt und trotzdem permanent daran erinnert wird, dafür sorgt das Militär. Es ist freundlich, aber allgegenwärtig. Den indischen TouristInnen ists trotzdem wohl. In der Gondel zeigt eine Frau mit ausgestreckter Hand hinüber zum Bergmassiv auf der andern Seite des Kaschmirtals und sagt: «So schön! So wunderschön ist nicht einmal die Schweiz! Und dann ist das hier erst noch alles echt!»

Die InderInnen wissen aus ihren Filmen, wie es in den Schweizer Bergen aussieht. Dass die Bollywood-Industrie ihre Kulissen plötzlich im Berner Oberland suchte, kam nicht von ungefähr. Früher wurde in Kaschmir gedreht, doch der Konflikt vertrieb auch die Filmteams. Jetzt kehren sie langsam zurück, PolitikerInnen und Tourismusverantwortliche in Kaschmir jubeln, verständlicherweise. «Gerade ist ein Team in Srinagar am Drehen», sagt Mister Bhat, «und bald werden es viel mehr sein. Hier ist es billiger als in der Schweiz. Und alles ist echt.»

Jasin und Hamid

Gulmarg ist tatsächlich nicht vergleichbar mit unseren Skiorten, auch wenn die Prospekte etwas anderes versprechen. Es gibt keine bewohnten Chalets, auch keine Ansässigen. Die einzigen Matratzen befinden sich in Polizei- und Armeecamps. Und in den siebzehn Hotels. 700 Betten hat es heute, über 4000 sollen es bis in drei Jahren sein. Es hat keine Cafés und keine Läden, dafür einfache Snack- und Teeshops. Ausserdem gibt es einen Golfplatz, den Rani-Tempel, die St.-Mary’s-Kirche, einen kleinen See und Pisten, von denen Skibegeisterte in aller Welt schwärmen - in Snowboardmagazinen und in Internetforen.

Wer Gulmargs traumhafte Abfahrten beschwört, der ist mindestens ebenso angetan von zwei Männern hier: Jasin Khan und Hamid Dar. Ihnen gehört der einzige Ski- und Snowboardverleih mit modernen Ausrüstungen, der Kashmir Alpine Ski Shop. Sie sind die beiden Instanzen, wenn es um Touren, Expeditionen und sonstige Abenteuer in diesem Gebirge geht. Und sie sind diejenigen, die mit Ido Neiger aus Israel zusammengespannt haben, um im Rahmen des Projekts «Mission Gulmarg 2006» die Qualität auf den Pisten zu verbessern - von erster Hilfe für TouristInnen bis zu Lawinenüberwachung und Gondelevakuationen. Den Laden eröffneten die beiden 1985. Fünf Jahre lief es gut, doch «ab 1990 kamen fast keine ausländischen Touristen mehr. Seit letztem Jahr läuft es nun wieder besser», sagt Jasin Khan. InderInnen habe es immer gehabt, doch die sind für sein Geschäft weniger interessant: «Sie fahren zwar auch Ski, aber maximal eine Stunde.»

Hoffnung ja, Sorgen nein

Und sicher nicht im Tiefschnee. Dass es diesen auf einem ganzen, rund fünf Quadratkilometer grossen Berghang hat, ist auch der Grund, weshalb Ido, der sonst im kanadischen Winterskiort Whistler lebt, hierher kommt. «Es ist das beste Skigebiet, das ich kenne», sagt er auf einem Plastikstuhl vor dem Kashmir Alpine Ski Shop sitzend. Er lacht, als ich von ihm wissen will, ob er tatsächlich daran glaubt, dass künftig hordenweise junge, pulververrückte WestlerInnen nach Kaschmir fliegen werden - an einen Ort, in dem es gerade mal einen einzigen wackeligen Internetanschluss gibt. Und weder Bar noch Alkohol. Auch kaum brauchbare Ausrüstung - ausser bei Jasir und Hamid natürlich. Ido sagt: «Ja, ich glaube absolut daran. Erstens wegen der globalen Erwärmung. Hier hast du nämlich noch eines der wenigen schneesicheren Gebiete. Zweitens, weil Extremsport immer populärer wird, und drittens, weil die Leute gerne neue Orte ausprobieren. Aber ja, Gulmarg muss sich entwickeln, möglichst schnell!» Also glaubst du an diese Privatisierung? «Zumindest hoffe ich darauf!» Und dann stellt sich heraus, dass er selber auf der Suche ist nach InvestorInnen, in Kanada ebenso wie in Delhi, wo er einen Typen kennt, der «filthy rich» ist, «Enkel eines ehemaligen Nobelhotelbesitzers».

Idos Glaube an eine gloriose Zukunft Gulmargs gründet aber nicht allein auf der Annahme, dass EuropäerInnen, NeuseeländerInnen und AmerikanerInnen hierher kommen werden, sondern hat vor allem damit zu tun, dass Indiens Mittelschicht rasant wächst. Er ist überzeugt, dass sich von diesen mehreren Millionen mindestens ein Prozent für den Skisport begeistern wird - was also zehntausende sein könnten. «Es wird so sein wie in China», sagt er, «dort stehen jährlich schätzungsweise eine Million Menschen neu auf Skiern. Die haben dort alle Fabriken, um die notwendige Skibekleidung herzustellen, deshalb dieser Boom. In Indien ist Wintersportausrüstung noch nicht erhältlich, aber das kommt. Und dann wird sich die Situation auch hier verändern. Big time!»

Und die Umwelt, wie wird sich die verändern? «Gulmargs Pisten sind hundert Prozent natürliche Pisten. Es wurden keine Bäume gefällt oder Steine verschoben», steht auf einer Website des Projekts «Mission Gulmarg 2006». Ido sagt, die Behörden würden dann schon aufpassen, dass der Abfall richtig entsorgt werde. Auch die Tourismusverantwortlichen machen sich keinerlei Sorgen.

Verschönerung auf Hochtouren

Zurück in Srinagar. Tourismusdirektor Bhat versucht zwei Geschäftsmännern in seinem Büro gerade zu erklären, dass für die Gäste nur das Beste gut genug sein wird. «Ja, Luxus! Auch im Badezimmer!» Als die beiden sich verabschieden, ruft er ihnen noch etwas hinterher, in einem Mix aus Urdu und Englisch, ich verstehe nur: «... thousands of employees!» Auch wir kommen auf die Badezimmer zu sprechen. Wegen des Abfallproblems. Er sagt, man habe alles im Griff. Es gebe Regeln, Gesetze, schon jetzt, und an die würden sich dann auch die Privaten halten müssen. Er sagt: «Wir haben den besten Schnee der Welt. Wir wollen zu einem der Topskiresorts werden. Das Problem ist einzig: Wir haben kein Geld. Und die Regierung in Delhi vertraut unserer Regierung nicht, also wird sie uns auch nicht das Geld geben, das wir benötigen. Wir kommen nicht darum herum, private Investoren zu suchen.» Gibt es schon Interessierte? «Ja», sagt er, und zieht ein Plastiksichtmäppchen aus einem Stapel. «Hier, da ist gerade einer.»

Gebaut werden sollen Hotels mit Zentralheizung, zusätzliche Lifte und Infrastruktur wie Restaurants, Läden, vielleicht sogar eine Shopping Mall. «Ich kenne die Skiorte in Europa, ich weiss, was der Standard ist», sagt er. Und weil der Standard ein westlicher sei, würden sich westliche Firmen eben auch besser als Investoren eignen. Dass dabei die lokalen Unternehmen, die in der langen Krisenzeit ebenfalls leiden mussten, auf der Strecke bleiben, macht ihm weniger Sorgen als die tickende Uhr. Denn Gulmarg soll im Jahr 2010 Koaustragungsort der Commonwealth Games sein. In weniger als vier Jahren also. Im vergangenen Januar wurde das bekannt gegeben. Ein weiterer Boom für den Tourismus.

Die Verschönerungsprogramme laufen bereits auf Hochtouren, vor allem in Srinagar. Polizei und Armee patrouillieren neben Baggern und Kranen. Der Dal Lake wird aufgefrischt, am und auf dem See lebende Menschen umgesiedelt. Es muss schnell gehen, und am Ende muss es wenigstens gut aussehen. Alles andere scheint weniger wichtig. «Der Tourismus ist unsere grösste Chance», sagt Mister Bhat in nüchternem Ton, «weil es der einzige Wirtschaftszweig ist, der hier tragfähig sein kann.» Darum ist seine grösste Sorge auch die, dass die Länder im Westen erneut respektive weiterhin davon abraten, nach Kaschmir zu reisen. Die Attentate, die nahezu wöchentlich im Kaschmir verübt werden, kamen in den Diskussionen fast gar nicht zur Sprache. Menschen reden gerne über ihre Visionen. Aber nicht über das, was diese bedroht.

Die Gespräche wurden Ende April geführt. Am 26. und 31. Mai gab es weitere Attentate in der Nähe von Srinagar. Dabei kamen auch vier TouristInnen ums Leben.