Kaschmir: Der Geist von Lord Mountbatten
Der Fürst von Jammu und Kaschmir schloss sich vor siebzig Jahren Indien an, um pakistanische Stammeskämpfer zurückzudrängen. Die Entscheidung, die der britische Vertreter Lord Mountbatten massgeblich beeinflusste, wirkt bis heute nach. Das explosive Gemisch aus internen und internationalen Konflikten kocht gerade wieder hoch.
Willkommen in Kaschmir, dem wunderschönen Hochtal im Himalaja. Eine fruchtbare Oase, umgeben von rauem Hochgebirge, 135 Kilometer lang und bis zu 40 Kilometer breit; Reis- und Apfelplantagen, ein See, der als Verkehrsweg und Marktplatz dient. Kulturell war das Kaschmirtal jahrhundertelang ein Schmelztiegel mit süd- und zentralasiatischen Einflüssen; ein Tummelfeld verschiedenster Traditionen und Religionen.
Mal waren die Kaschmiri BewohnerInnen einer buddhistisch-hinduistischen Monarchie, mal des Mogulreichs; später wurde ihr Tal von einer afghanischen, dann von einer sikhistischen Dynastie erobert. Schliesslich fielen die Briten ins Kaschmirtal ein und verkauften es der hinduistischen Dogra-Dynastie, die bereits die umliegenden Gebiete Jammu und Ladakh besass. So entstand der Fürstenstaat Jammu und Kaschmir, mit einem Maharadscha als Pseudoherrscher, der sich der britischen Souveränität beugte.
Der fatale Plan
Mit ihrer bewährten Teile-und-herrsche-Strategie konnten die Briten ihr indisches Kolonialreich, das sich von der afghanischen Grenze bis ins heutige Myanmar erstreckte, knapp hundert Jahre lang halten. Überstürzt einigten sich im Juni 1947 die Vertreter der muslimischen und hinduistischen Unabhängigkeitsbewegungen mit dem britischen Regierungsvertreter Louis Mountbatten auf eine Teilung des Subkontinents entlang grober religiöser Linien.
Das war der sogenannte Mountbatten-Plan. Die muslimische Minderheit sollte mit Pakistan ein eigenes Land erhalten, der Rest des Subkontinents zu einem multikulturellen, aber hauptsächlich hinduistischen, indischen Nationalstaat werden. Am frühen Morgen des 15. August 1947 wurde das plötzlich zur Realität; in der Folge kam es zur Flucht und Deportation von über zehn Millionen Menschen und zu Pogromen, die eine Million Tote forderten.
Die Fürstenstaaten waren laut dem Mountbatten-Plan vorerst von der Teilung ausgenommen. So sollte auch der Maharadscha von Jammu und Kaschmir selbst entscheiden, ob er sich Indien oder Pakistan angliedern wollte. Keine einfache Entscheidung: sein Land umgeben von den neuen Grossstaaten, das Herrscherhaus hinduistisch, die Mehrheitsbevölkerung muslimisch, hinzu kam eine bedeutende Sikh-Minderheit. Der Maharadscha wartete ab – bis im Oktober desselben Jahres paschtunische Stammeskämpfer in Kaschmir einfielen und er die indische Armee um Hilfe bat.
Fast gleichzeitig fädelte wiederum Lord Mountbatten den Beitritt des Fürstenstaats zu Indien ein. Allerdings war vorgesehen, dass die Bevölkerung später selbst über die Zugehörigkeit entscheiden würde. Ein solches Plebiszit zur Selbstbestimmung wurde im Jahr darauf auch in einer Resolution des Uno-Sicherheitsrats festgeschrieben.
Doch Indien blieb, und «Kaschmir» wurde zu einem der komplexesten Konflikte des postkolonialen Zeitalters. Bis heute hat er gegen 70 000 Tote gefordert, ohne dass eine Lösung in Sicht wäre. Mit Indien und Pakistan stehen sich zudem zwei Atommächte gegenüber, die wegen der Kaschmirfrage bereits drei Kriege ausgefochten haben.
Wiedererwachter Separatismus
Vor dem Hintergrund einer als ungerecht empfundenen «indischen Besatzung» und sozioökonomischer Vernachlässigung entstanden vor knapp dreissig Jahren bedeutende separatistische Bewegungen. Viele von ihnen fordern – teils durch Proteste, teils mit der Waffe – ein von beiden Grossstaaten unabhängiges Kaschmir. Diverse indische Sicherheitskräfte versuchen seither, den Separatismus im Keim zu ersticken und ihn als Terrorismus zu delegitimieren – wofür auch Pakistan eine Mitverantwortung trägt, fördert der Staat doch tatsächlich die Infiltration panislamischer Terrorgruppen. In der Folge ist Kaschmir zum wohl militarisiertesten Gebiet der Welt geworden. Willkürliche Verhaftungen, aussergerichtliche Hinrichtungen, systematische Folter und sexuelle Gewalt sind an der Tagesordnung.
Zwischenzeitlich ebbte der militante Separatismus ab, ein Dialog um mehr Autonomierechte wurde geführt. Doch seit indische Sicherheitskräfte im Juli 2016 den in Kaschmir höchst populären Rebellenführer Burhan Wani töteten, gehen wieder Zehntausende Kaschmiri auf die Strassen und bekämpfen die indische Staatsgewalt. Diese reagiert wie üblich äusserst brutal: Sie hat bisher mindestens neunzig Menschen getötet, Tausende verletzt und verhaftet. Weit über hundert Protestierende sind erblindet, weil sie mit Schrotkugeln beschossen wurden.
Die Fronten sind somit wieder so verhärtet wie vor dreissig Jahren, ein Dialog wieder in weite Ferne gerückt. Ein zunehmender Teil junger Kaschmiri wendet sich panislamischen Ideologien zu und macht aus dem einst sozialen Konflikt einen religiösen.
Der Geist von Lord Mountbatten und der indisch-pakistanischen Nationalbewegungen, die die Religionen so fein säuberlich trennen wollten: Er spukt mehr denn je herum oben im Himalaja, im wunderschönen Kaschmirtal.
Die Fotografin, der Autor
Die portugiesische Fotojournalistin Violeta Santos Moura begann während der europäischen Wirtschaftskrise mit Reportagen aus Portugal und Spanien. Später lebte sie in Tel Aviv und berichtete für verschiedene Medien aus dem Nahen Osten (siehe auch WOZ Nr. 37/2016 ). Santos Moura, die wieder in ihrer Heimatstadt Vila Real lebt, war für diesen Fotoessay erstmals in Kaschmir. «Ich wollte einen der weltweit schlimmsten Konflikte dokumentieren», sagt die 34-Jährige. «Anders als Palästina erhält Kaschmir kaum öffentliche Aufmerksamkeit.»
WOZ-Redaktor Markus Spörndli war 2004/05 Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Jammu und Kaschmir.