Indien: Wachstum bis zum Tod

Nr. 28 –

Die Wirtschaft des Landes wächst und wächst, und mit ihr wächst auch der Bedarf nach Rohstoffen - und der Widerstand jener, die von den vielen geplanten Industrieprojekten vertrieben werden sollen.

«Ohne Bewilligung darf kein Industrieller unser Land mehr betreten», sagt ein Munda, «sonst wird Blut fliessen.» Der traditionelle Dorfanführer redet auf einer Regionalversammlung der Dorfgemeinschaften im Distrikt Saraykela im Süden des indischen Bundesstaates Jharkhand. In dieser Region leben - wie im angrenzenden Gebiet des Bundesstaats Orissa - vor allem Adivasi, indische UreinwohnerInnen. Hier gibt es aber auch die grössten Mineralienvorkommen des Landes - und das macht das Gebiet der traditionellen Stammesgesellschaften der Santhal und der Oraon, der Munda und der Ho derzeit zum Aufmarschgebiet der grossen Stahlfirmen, Energiekonzerne und Kohleunternehmen.

Im «iron belt», im Eisengürtel Indiens, der sich vom armen Jharkhand zum ebenso armen Orissa erstreckt, liegen die mächtigsten Stahlwerke, das grösste Stahlwalzwerk, das bedeutendste Elektrizitätswerk des Landes. Wenn es nach dem Willen der Unternehmen und der Regionalregierungen geht, werden dort in den nächsten Jahren weitere unzählige Industrieprojekte verwirklicht (vgl. unten stehenden Text). Gegen diese Expansion wehrt sich die Urbevölkerung nach Kräften.

So haben in den letzten Monaten mehrere Dorfkomitees in den südlichen Distrikten Jharkhands ihr Gemeindegebiet zur No-go-Zone für RegierungsvertreterInnen erklärt. Alle Beamten werden verjagt. Im Distrikt West Singhbhum hat die lokale Adivasi-Organisation Kolhan Raksha Sangha (KRS) zudem eine «Wirtschaftsblockade» verhängt: Alle Infrastrukturmassnahmen, die der Industrialisierung des Landstrichs dienen könnten, werden von den DorfbewohnerInnen boykottiert. Die Adivasi pochen auf die Einhaltung der ihnen von der indischen Verfassung garantierten Eigentumsrechte inklusive ihrer Rechte auf alle Ressourcen auf und unter dem Land, welches sie bewohnen. Und verlangen mittlerweile eine politische Autonomie.

Die zwölf Toten von Kalinga Nagar

Besonders pointiert sind derzeit vor allem die Statements der Stammesgemeinschaft der Ho. Deren Angehörige haben vor einiger Zeit erlebt, wie der Staat und die Industriekonzerne auf Proteste reagieren. In Kalinga Nagar, im Norden von Orissa, hatten Anfang dieses Jahres Adivasi gegen das dort geplante Stahlwerk mobilisiert und demonstriert. Zwölf Menschen wurden dabei von der Polizei getötet, die Hälfte davon in Polizeigewahrsam.

Das Vorgehen des Staates in Kalinga Nagar sei kein Einzelfall, sagt Xavier Dias vom BIRSA MMC, einer Forschungs- und Beobachtungsinitiative in Ranchi (Jharkhand), sondern nur ein weiteres Beispiel für die Art und Weise, mit der Konflikte zwischen der Industrie und den um ihre Kultur und Lebensgrundlage besorgten UreinwohnerInnen inzwischen ausgetragen werden. Die Adivasi im «iron belt», das bestätigen auch andere Untersuchungen, werden derzeit von allen Seiten angefeindet; die lokalen Regierungsbehörden und die Industrie reagieren auf ihre Proteste mit unverhohlenem Rassismus und grosser Repression. «Ob ihre Rechte und Würde respektiert wird, hängt ausschliesslich von der politischen Stärke und dem Widerstand der Adivasi und ihrer Unterstützungsorganisationen ab», sagt Dias.

Über die Ereignisse in Kalinga Nagar haben das Jharkhand Mines Area Coordination Committee und MenschenrechtlerInnen einen ausführlichen Bericht verfasst (siehe www.firstpeoplesfirst.org). Er beschreibt, wie die Regierung wiederholt das Gesetz gebrochen hat und wie auf den friedlichen Protest zuerst mit Ignoranz und dann mit Gewalt reagiert wurde. Er erzählt von leeren Versprechungen, von Betrug, von Brutalität und schildert - gestützt auf die Erkenntnisse eines Forschungsteams -, wie die Industriedepartemente von Orissa und Jharkhand das von den Adivasi oft seit je traditionell bewirtschaftete Land billig und häufig unter zweifelhaften Bedingungen erwerben, um es dann an private Industrieunternehmen weiterzuverkaufen.

Die offiziellen Umsiedlungskonzepte, so der Report, würden nie eingehalten, die versprochenen öffentlichen Dienstleistungen und materiellen Entschädigungen für Gemeinschaften und Einzelpersonen nie eingelöst. Auch die in Aussicht gestellten Arbeitsplätze in den neuen Indus-trien seien oft leere Versprechungen.

Standortpolitik in Orissa

Wie solche Landtransaktionen für gewöhnlich verlaufen, zeigt das Kalinga-Nagar-Projekt des indischen Stahlkonzerns Tata Steel Ltd. besonders eindrück-lich. So zahlten die Regionalbehörden von Orissa vielen Adivasi gerade mal 39 000 Rupien (umgerechnet 1180 Franken) für einen Morgen Land (rund 0,4 Hektar). Dasselbe Stück Land wurde später an Tata für 395 000 Rupien (etwa 18 200 Franken) weiterverkauft. Da jedoch der Marktpreis derzeit fast doppelt so hoch liegt (bei rund 700 000 Rupien), hatte auch der Stahlkonzern ein gutes Geschäft gemacht. Damit nicht genug: In vielen Fällen «versäumte» es die rechtsgerichtete Regierung von Orissa zudem, den Adivasi die für die Beantragung der Entschädigungen notwendigen Landpapiere auszustellen. Das erlaubte ihr, insgesamt 17 000 Hektar als «Niemandsland» zu beanspruchen. Und auch mit jenen, die über einen Landtitel verfügten, machten die Behörden und der Konzern kurzen Prozess: Noch bevor die Kompensationen ausgehandelt und bezahlt worden waren, begannen Tatas Bautruppen unter Polizeischutz, das Land einzuzäunen und teilweise zu verminen.

«Für uns geht es ums Überleben», sagt Salkhan Murmu von Adivasi Adhikar Morcha, einer Adivasi-Organisation in Jharkhand. Die Industrialisierung führe zu einer Verarmung der ohnehin schon armen Bevölkerung, zu einer Vertreibung der Adivasi, zu einer kürzeren Lebenserwartung durch eine schlechtere Gesundheit. «Unsere Ressourcen verschwinden, unsere Produktionsweise wird zerstört, unser traditionelles Sozialsystem verliert seine Grundlage», konstatiert auch Seerath Katchap, selbst Adivasi und Koordinator von BIRSA MMC: «Ehemalige Landbesitzer werden zu landlosen Taglöhnern. Und die Frauen, die zuvor mit das Land bewirtschafteten, werden zu Hausfrauen degradiert, die von der Lohntüte des Mannes abhängig sind.» Sofern es die einmal gibt.

Das politische Vakuum

Unterstützung erhalten die UreinwohnerInnen zwar von etlichen Adivasi-Parteien, aber diese hatten - auch weil sie stammesorientiert sind - bisher wenig gegen die Übermacht der beiden staatstragenden Allianzen der rechtshinduistischen BJP und der Kongresspartei ausrichten können. Lediglich die Kommunistische Partei Indiens (CPI) und die maoistische Guerilla der Naxaliten, die in der Region aktiv ist, engagieren sich auf Parteiebene für die Belange der Betroffenen. Dieses Vakuum auf politischer Ebene hat dazu geführt, dass die zumeist autonom agierenden Lokalgruppen - unterstützt von zivilgesellschaftlichen Gruppierungen, kirchlichen und internationalen NGOs sowie Selbsthilfeorganisationen aus den eigenen Reihen - vermehrt zu zivilem Ungehorsam, Streiks und Blockaden greifen.

In Jharkhand und Orissa kam es in den letzten Monaten wiederholt zu Aktionen. In Orissa ist die wichtigste Zulieferungsstrasse für Kalinga Nagar nun seit sechs Monaten blockiert. Die Proteste der Adivasi haben dazu geführt, dass selbst die Chefminister von Orissa und Jharkhand versprachen, sich künftig um die Belange der Vertriebenen kümmern zu wollen. Von ihrer Industrialisierungspolitik wollen sie jedoch nicht abweichen. Vor kurzem hat die Regierung von Jharkhand bekräftigt, dass sie alle 44 geplanten Grossprojekte durchziehen und die mit Privatfirmen getroffenen Vereinbarungen einhalten will.

Angesichts dieser Haltung sind nun auch die Adivasi zu einem Dialog nicht mehr bereit. «Unsere Position war immer eindeutig, und nach den Vorfällen in Kalinga Nagar sind wir kompromisslos», sagt Seerath Katchap. Solange die Regierung nicht bereit sei, die von den UreinwohnerInnen vorgeschlagene Förderung der Landwirtschaft und der Kleinbauern glaubhaft in ihr Entwicklungskonzept zu integrieren, würden die Adivasi trotz der polizeilichen und militärischen Aufrüstung in der Region weiterkämpfen, sagt er. Und ausserdem: «Unsere Ahnen haben schon anderen Eindringlingen die Stirn geboten, den Briten zum Beispiel.» In der britischen Hauptstadt sitzt heute einer derer, der sie besonders herausfordert: der indisch-britische Stahlmagnat Lakshmi Mittal.


Industrialisierung im Minutentakt

Indien erlebt zurzeit einen Boom. Seit März 2004 ist der Aktienindex um 6000 Punkte auf 10 000 angestiegen. Dem als stabil eingestuften Land fliessen Unmengen an Kapital zu, das zum Teil in die Ausbeutung der Rohstoffe und die weitere Industrialisierung des Landes investiert wird. So planen die Bundesstaaten Orissa und Jharkhand aufgrund ihrer reichen mineralischen Ressourcen eine Vielzahl von Bergbau- und Industrieprojekten, die von nationalen wie internationalen Konzernen realisiert werden sollen. Diese Politik entspricht der von Währungsfonds, Welthandelsorganisation und Weltbank festgelegten Agenda, welche dem Privatsektor den Vorzug gibt.

In dem «iron belt» genannten Gebiet, das neben Orissa und Jharkhand auch Teile von Chhattisgarh umfasst, soll vor allem die Produktion von Stahl vorangetrieben werden. In Orissa sind dazu 43, in Jharkhand bislang 44 neue Industriekomplexe geplant. Dazu kommen Eisenerz- und Kohlegruben, Elektrizitätswerke sowie diverse Infrastrukturprojekte (Strassen, Bahnlinien, Häfen). Auch der Uranabbau und die Aluminiumproduktion soll weiter gefördert werden. Bisher haben Firmen Investitionen in Höhe von 160 Milliarden Rupien (umgerechnet 4,3 Milliarden Franken) in Orissa und 180 Milliarden (4,9 Milliarden Franken) in Jharkhand zugesagt. Hauptinvestoren sind die indischen Industriegiganten Tata und Jindal Steel sowie die britisch-indische Mittal-Gruppe.

Die vorgesehenen Projekte würden die bestehende Stahlproduktionskapazität Indiens von bisherigen 35 auf 120 Millionen Tonnen pro Jahr erhöhen. Für die Realisation würden allein in Jhar-khand 190 Quadratkilometer Land benötigt; 57 Quadratkilometer Wald müssten abgeholzt, rund 53 000 Menschen müssten umgesiedelt werden.

Fredy Meier