Ungarnaufstand: Die kurzen Tage der Hoffnung

Nr. 42 –

Die Revolution · Vor fünfzig Jahren rebellierten ArbeiterInnen und Studierende gegen das stalinistische Regime in Budapest; die Niederschlagung des Aufstands hat die kommunistische Linke im Westen fast zerrieben. Was ist damals genau passiert?

Am 1. September 1954 bin ich aus dem Gefängnis entlassen und rehabilitiert worden. Fünf Jahre in den Fängen der Staatssicherheitsbehörde ÁVH hielt man uns – die im Rajk-Prozess verhafteten KommunistInnen – in völliger Isolierung; wir wussten nicht, was politisch in Ungarn vorgeht. Umso erschütternder war die wiedergewonnene Freiheit. Auch ich selbst war ein anderer Mensch als der parteitreue Kommunist, den die ÁVH in der Nacht des 6. Juli 1949 verhaftet hatte, jede Illusion über den sozialistischen Charakter des Stalinismus wurde damals zerbrochen. Dennoch blieb ich ein Linker, den die Sehnsucht nach einem menschenwürdigen Sozialismus nie verliess.

Die neu gewonnene Freiheit benutzte ich dazu, die Geschichte der verlorenen Jahre aufzuarbeiten; ohne sie wäre der Ausbruch der Revolution von 1956 nicht verständlich. Das Bild war erschreckend. Für die grosse Mehrheit der Bevölkerung hat die Sowjetisierung des Landes ihren Nationalstolz mit Füssen getreten; die überschwängliche Huldigung der fremden OkkupantInnen, die sklavische Umgestaltung von Staat, Politik, Wirtschaft und Kultur nach Sowjetmuster provozierte Widerstände, die mit Terror im Keim erstickt wurden. Es gab kaum eine Familie, in der nicht irgendein Mitglied in Konflikt mit der Polizei oder der ÁVH geraten wäre.

Das Tauwetter ...

Der Wendepunkt kam mit Stalins Tod am 5. März 1953. Am 15. Juni 1953 wurde eine Delegation mit Mátyás Rákosi an der Spitze und mit Imre Nagy nach Moskau beordert. Rákosi wurde für alle Fehler und Sünden in Wirtschaft und Politik Ungarns verantwortlich gemacht – von der überstürzten Industrialisierung und Kollektivierung bis zu den stalinistischen Prozessen und Masseninternierungen. Am Ende schlugen die sowjetischen Gastgeber vor, die Prozesse zu überprüfen (an deren Ende der Kommunist und antifaschistische Widerstandskämpfer László Rajk hingerichtet worden und viele andere – wie ich – hinter Gittern verschwunden waren) und Fehler zu korrigieren. Rákosi soll zwar Parteichef bleiben, doch das Amt des Ministerpräsidenten an Imre Nagy abgeben.

Die Öffentlichkeit erfuhr von den in Moskau diktierten Änderungen erst aus dem Reformprogramm, das der neue Ministerpräsident Nagy am 4. Juli 1953 im Parlament vortrug. Die wahre politische Bedeutung seiner vom Radio übertragenen Rede war nicht so sehr, was er sagte, sondern wie er sprach: Man hörte nicht den üblichen blechernen Parteijargon. Nagy redete in einer Spache, die die Bevölkerung sofort erkannte; entsprechend enthusiastisch reagierte sie darauf. Es entstand eine Art von stiller, doch unbalancierter Verschwörung zwischen Volk und Nagy. Hinter dem Volk stand das Volk: Millionen verängstigter Menschen, noch unfähig, dem neuen Ministerpräsidenten aktive Hilfe zu leisten. Hinter Nagy stand jedoch niemand, auf den es ankam.

... und sein schnelles Ende

Und so begann Rákosi unverzüglich seinen Gegenangriff mit einer schlauen Sabotage der Umsetzung der Änderungen. Besonders gefährlich schien ihm die Überprüfung der stalinistischen Prozesse (deren Organisator er ja höchstpersönlich gewesen war), weil die Überlebenden über seine schändliche Rolle berichteten. Auf der anderen Seite wurden SchriftstellerInnen und ein Grossteil der Intellektuellen – die einst die schöne Idee des Sozialismus in die Partei hatte eintreten lassen und die in ihren Werken Rákosi verherrlichten –, von Gewissensbissen geplagt, zu aktiven AnhängerInnen von Nagy. Ab September 1954 gehörte auch ich dieser intellektuellen Opposition an und wurde ein kleiner Funken, der das Pulverfass zur Explosion bringen half.

Trotz Rákosis Sabotage konnte Nagy wichtige Reformen durchsetzen; das Leben in den Dörfern und in der Stadt wurde erträglicher, der Terror liess nach. Das Auf und Ab dauerte jedoch nur bis Ende 1954; aufgrund einer erneuten Verschärfung des Kalten Krieges verlor Nagy plötzlich die Unterstützung aus Moskau.

Diese neue Lage nutzte Rákosi: Nagy wurde aus allen Partei- und Staatsposten entfernt, im Dezember sogar aus der Partei ausgeschlossen. Parallel begann die Restalinisierung des Landes. Der Terror flammte auf, weitere Überprüfungen der früheren Schauprozesse wurden eingestellt, die Gefängnisse füllten sich wieder, und Rákosi versuchte, die mit Nagy verbündeten Intellektuellen zum Schweigen zu bringen.

Doch Rákosis Zeit lief aus. Die Verschärfung der internationalen Lage erwies sich als kurzfristig. Bald kam es zum Rückzug der sowjetischen Truppen aus Österreich, zum Canossa-Gang von Nikita Chruschtschow zu Josip Broz Tito [dem Staatspräsidenten des lange Zeit als abtrünnig verfemten Jugoslawiens, d. Red.] und schon im Februar 1956 wurde der Wortlaut von Chruschtschows historischer «Geheimrede» am 20. Kongress der KPdSU, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, bekannt [in der Chruschtschow den Stalinismus kritisierte, d. Red.].

Vorbild Polen

In Ungarn ging daraufhin im März 1956 die antistalinistische Opposition zum offenen Angriff über; bald konnte sie auch die Unterstützung des Grossteils der StudentInnen aller Hochschulen des Landes hinter sich wissen.

Ende März 1956 musste Rákosi eingestehen, dass Rajk unschuldig gehängt worden war, und im Mai gab er zu, dass er die Hauptschuld daran trug. Im Juni versuchte er noch, eine Liste von 4000 «Verdächtigen» zusammenzustellen, die dringend verhaftet werden müssten, doch Chruschtschow winkte ab. Das war das Ende. Am 21. Juli beschloss das Zentralkomitee, ihn seines Amtes als Generalsekretär der Partei zu entheben. Am 26., als ich meinen 35. Geburtstag feierte, bekam ich so das schönste Geschenk – die Nachricht, er sei «zur ärztlichen Behandlung» in die Sowjetunion gefahren. Er kehrte nie nach Ungarn zurück.

Die Spannung wuchs auch durch die Ereignisse in Polen. Am 28. Juni 1956 kam es in Posnan zu Streiks und Demonstrationen, die blutig niedergeschlagen wurden; kaum zwei Monate später folgte der «polnische Oktober». Die unschuldigen Opfer der stalinistischen Prozesse strömten aus den Gefängnissen, darunter auch Wladyslaw Gomulka, der ehemalige Generalsekretär der kommunistischen Partei. Durch den Druck der Massen, welche Freiheit und den Abzug der Okkupationstruppen forderten, kam es zum Sturz der alten stalinistischen Garde; Gomulka wurde wieder zum Generalsekretär der Partei. In Moskau wurden Einheiten der Sowjetarmee Richtung Polen in Gang gesetzt, Chruschtschow flog am 18. Oktober nach Warschau, gab jedoch angesichts der Entschlossenheit der gesamten polnischen Parteiführung nach, kehrte am 20. nach Moskau zurück; die Invasionspläne wurden gestrichen.

Dieser Teilsieg des polnischen Widerstandes gab der ungarischen Opposition den letzten Stoss. Am 22. Oktober begannen die StudentInnen der Budapester Technischen Universität eine Tagung. Spät in der Nacht wurden zwei Beschlüsse gefasst. Die Studierenden vereinbarten, für den nächsten Tag, den 23., eine Demonstration zu organisieren zur Statue des polnischen Generals Josef Bem, einer der Helden der ungarischen Revolution von 1848 [damals hatte sich die ungarische Bevölkerung gegen die Habsburger und russisch-zaristische Fremdherrschaft erhoben, d. Red.]. Zweitens wollten sie dem Parlament eine Liste mit sechzehn Forderungen vorlegen. Die wichtigsten davon waren: Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn, Schaffung einer neuen Regierung mit dem Genossen Imre Nagy an der Spitze, freie und geheime Parlamentswahlen unter Teilnahme mehrerer demokratischer Parteien, volle Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit.

Der Aufstand beginnt

Dem Umzug der StudentInnen schlossen sich unterwegs Tausende an; die meisten strömten vom Bem-Denkmal zum Parlament, während eine kleinere Menge ein Freudenfest feierte, zum Stalindenkmal zog und die Bronzestatue Stalins so lange mit Schweissbrennern bearbeitete, bis nur noch seine Stiefel im Podest steckten.

Die vor dem Parlament versammelten Massen wollten Imre Nagy hören, doch der erklärte, er komme nur, wenn die Partei ihn darum bitte und ihm seine alten Positionen zurückgebe. Am Nachmittag holte ihn eine Parteilimousine in die Zentrale. Er wurde wieder als Parteimitglied akzeptiert, in das Zentralkomitee und das Politbüro gewählt und zum Ministerpräsidenten ernannt. Die Taktik der Partei war klar: Sie benötigte seine Dienste, um eine Ruhepause zu gewinnen und (wie erst hinterher deutlich wurde) dann den Aufstand mit Gewalt niederzuschlagen. Am Abend hielt Nagy vor dem Parlament eine kurze Ansprache. Schon die übliche Anrede «Liebe Genossen!» wurde von der Menge ausgepfiffen. Auch der Rest seiner Rede war enttäuschend, von der neuen Situation längst überholt. Nur seinem Nimbus als einem von den Stalinisten unterdrückten Kommunisten und Patrioten war es zu verdanken, dass er am Ende doch einen grossen Applaus erhielt. Eine Stunde sprach aus dem Radio die wahre Stimme der Partei – die von Ernö Gerö, dem stalinistischen Nachfolger von Parteichef Rákosi. Er verurteilte die illegalen «konterrevolutionären» Demonstrationen, bezeichnete sie als Provokation reaktionärer, imperialistischer Kräfte und drohte, sie mit allen Mitteln zu zerschlagen.

Jetzt radikaliserte sich die Stimmung. Am 24. Oktober weitete sich die Revolution in die Provinzstädte und Industriezentren aus; die ersten Sowjetpanzer tauchten in Budapest auf, StudentInnen und Angehörige der Militärakademien und der Armee schlossen sich dem Aufstand an und verteilten Waffen, es kam zu Feuergefechten mit den Sowjeteinheiten. Der 25. Oktober wurde zum tragischen Höhepunkt; ArbeiterInnen und Studierende stürmten das Parlament und die Radiozentrale; die Salven von ÁVH-Einheiten töteten über sechzig unbewaffnete DemonstrantInnen. Als Antwort darauf durchkämmten Aufständische die Strassen nach ÁVH-Offizieren und lynchten sie an Ort und Stelle.

In diesen Stunden änderte sich der Charakter und die Zusammensetzung der Massen; zu den ArbeiterInnen und StudentInnen stiessen Zehntausende aus allen Schichten, darunter auch Randalierer und andere zweifelhafte Elemente. Doch die Mehrheit hielt am sozialistischen Grundkonsens fest. Keine Forderungen waren zu hören zur Restaurierung des Kapitalismus – im Gegenteil, in den Fabriken bildeten sich die ersten Arbeiterräte.

Das Ende

Am 26. Oktober stand Imre Nagy vor der Alternative, den Aufstand zu unterdrücken oder sich an seine Spitze zu stellen. Nach langen Gewissenskämpfen und Beratungen mit den nach Budapest entsandten Sowjetberatern wählte er die Führungsrolle der Revolution. Gerö dankte ab, folgte Rákosi nach Moskau und wurde vom Zentristen János Kádár ersetzt. Die nach diesem Amtswechsel neugebildete Regierung mit Nagy an der Spitze erliess am 27. Oktober ein Dekret zur allgemeinen Feuerpause, am 28. verkündete Nagy den baldigen Rückzug der sowjetischen Armee aus Ungarn, die Auflösung der ÁVH und die Erfüllung einiger anderer Forderungen der StudentInnen und ArbeiterInnen. Der Teilsieg der Revolution schien sich anzubahnen.

Doch viele blieben skeptisch. Sie trauten Nagys Versprechungen nicht, behielten ihre Waffen und warteten auf die vom CIA-Sender «Freies Europa» in München versprochene Hilfe der USA. Am 30. Oktober liess das State Department in Washington jedoch in Moskau eine Note überreichen, derzufolge die USA sich nicht in Ungarn einmischen wollten. Am 31. Oktober beschloss die Sowjetführung, der Armee die Niederschlagung der ungarischen «Konterrevolution» zu befehlen.

George Hódos

George Hódos ist einer der renommiertesten Historiker Ungarns. 1921 geboren, emigrierte er 1939 in die Schweiz, wo er an der Universität Zürich studierte und der ungarischen KP beitrat. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte er nach Budapest zurück; dort arbeitete er als Korrespondent westlicher Zeitungen, darunter auch für die NZZ. 1949 wurde er in Zusammenhang mit dem Prozess gegen László Rajk verhaftet und danach als «Agent amerikanischer Geheimdienste» zu zehn Jahren Haft verurteilt. 1954 wurde Hódos rehabilitiert. Nach der Niederschlagung der Revolution 1956 verliess er Ungarn. Er lebte zuerst in Wien, dann in den USA, wo er bis zu seiner Emeritierung an kalifornischen Universitäten lehrte (vgl. «Kádár und die Wende» ). Vor ein paar Jahren kehrte er nach Budapest zurück.

Von ihm erschienen auf Deutsch unter anderem die Bücher: «Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948–1954» (LinksDruck, Berlin 1990) und «Mitteleuropas Osten» (Basisdruck, Berlin 2004).

György Dalos über 1956

Es gebe sie also doch, «Rosa Luxemburgs spontane Revolution», schrieb Hannah Arendt in ihrer Schrift «Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus» 1958 – «diesen plötzlichen Aufstand eines ganzen Volkes für die Freiheit und nichts sonst». Zwölf Tage dauerte die spontane Erhebung, die viele in Atem hielt: Die RevolutionärInnen, die tagelang nicht schliefen, weil sie jeden Moment mit der Reaktion rechnen und ständig neue Entscheidungen treffen mussten; die Herren in Moskau, die stets alle Faktoren in Betracht zogen (unter anderem den Suezkrieg, der den Westen beschäftigte), bevor sie immer wieder andere Entscheidungen trafen; die sowjetischen Truppen in Ungarn, die ausgetauscht werden mussten, weil sie schnell erschöpft waren; und nicht zuletzt die wendigen Leute an der Parteispitze, die zuerst den Aufstand begrüssten («wir sind stolz darauf», sagte János Kádár noch am 31. Oktober) und dann dessen Führer aufhängen liessen.

Wie aus der friedlichen Demonstration plötzlich erbitterter Widerstand wurde, wer wann warum und in welchem Kontext agierte – das beschreibt György Dalos in seinem neuen Buch mit dem lapidaren Titel «1956». Dalos, der renommierte Schriftsteller (er hat auch oft für die WOZ geschrieben), hat für diesen Band ZeitzeugInnen befragt (er selber war damals dreizehn Jahre alt) und neu zugängliches Archivmaterial herangezogen. Er porträtiert ArbeiterInnen und Lumpen, schildert die grossen Hoffnungen und die Forderungen der Arbeiterräte, dokumentiert die zeitweise vorherrschende Ratlosigkeit im Kreml (Juri Andropow, der spätere KPdSU-Chef, war damals sowjetischer Botschafter in Ungarn) und beschreibt auch die hässlichen Seiten des Aufstandes (wie beispielsweise die Lynchjustiz).

Dalos' Buch (es zeigt auch Aufnahmen des Magnum-Fotografen Erich Lessing) ist erhellend, mitreissend und klug – aber es hätte ein besseres Lektorat verdient gehabt.

Pit Wuhrer

György Dalos: «1956. Der Aufstand in Ungarn». Verlag C. H. Beck. München 2006. 246 Seiten. Fr. 34.20.