Agrarpolitik 2011: Gesund auf null schrumpfen
Per Programm sollen die Schweizer BäuerInnen fit für die Zukunft gemacht werden. Geht die Rechnung auf? Kann Landwirtschaft überhaupt je rentabel sein?
In der Schweiz gibt es heute eine Reihe von Schutzmassnahmen für die Landwirtschaft. Dazu gehören das bäuerliche Bodenrecht, die Ausscheidung von Landwirtschaftszonen, die Direktzahlungen sowie Agrarzölle. Diese Schutzmassnahmen geraten zunehmend unter Druck. Die neue Agrarpolitik (AP 2011) will zum Beispiel das bäuerliche Bodenrecht für kleine Betriebe aufheben. Die Landwirtschaft wird heute oft beurteilt wie ein beliebiger, defizitärer Industriezweig, der wieder rentabel gemacht werden soll.
Doch die Landwirtschaft unterscheidet sich grundlegend von der Industrie und dem Dienstleistungssektor. Sie kann nicht im gleichen Masse wachsen wie diese Sektoren. Das hat zwei Gründe.
Ein Salat ist keine Seife
Zum einen die Wettbewerbsbedingungen: Die Marge zwischen Preisen und Kosten ist in der Landwirtschaft grundsätzlich kleiner als in der Industrie. Dies ergibt sich daraus, dass die landwirtschaftlichen Güter homogene Güter sind, unabhängig vom Ort, wo sie produziert werden. Sie sind ohne Weiteres austauschbar. Es ist daher der Konsumentin und erst recht dem industriellen Verarbeiter gleichgültig, von wem sie das Getreide, die Kartoffeln, die Milch und den Emmentaler Käse beziehen. Allein der Preis entscheidet. Konkurrenz heisst in der Landwirtschaft daher - von wenigen Ausnahmen wie Produkten mit regionalen Labels oder Bioprodukten abgesehen - immer Preiskonkurrenz. Ein Bauer kann seine Produkte nur absetzen, wenn er höchstens den gleichen Preis verlangt wie die anderen Bauern, und er kann seinen Marktanteil nur vergrössern, wenn er den Preis senkt. Dann müssen aber die anderen nachziehen. Der Markt lässt daher nur geringe Margen zwischen Preis und Kosten zu.
Dies ist grundsätzlich anders bei den Industrieprodukten. Sie unterscheiden sich je nach der Art der Verarbeitung. Aus wenigen Naturprodukten werden Tausende von Industrieprodukten. Eine Palmolive-Seife ist keine Schmierseife! Der Produzent kann höhere Preise verlangen und trotzdem den Konkurrenten ausstechen, weil die neuen Produkte den KonsumentInnen einen echten - oder auch nur vermeintlichen - Zusatznutzen stiften.
Zweitens lassen sich auch die Produktionsbedingungen nicht vergleichen. In der Landwirtschaft ist der Boden gleichzeitig Standort und Produktionsgrundlage, während er für die Industrie nur Standort ist. Die Höhe der Produktion hängt in der Landwirtschaft von der Bodenfläche ab. Diese bildet einen begrenzenden Faktor. Ein zusätzlicher Arbeitsaufwand liefert auf einer bestimmten Bodenfläche nur einen geringen Ertragszuwachs. Der Ertrag kann zwar durch Maschineneinsatz und Zufuhr von Düngemitteln und anderen Chemikalien gesteigert werden. Aber auch diese Steigerung ist begrenzt, weil die Landwirtschaft in die ökologischen Kreisläufe eingeordnet ist. Das hat zur Folge, dass die Maschinen im Jahresverlauf nur kurz zum Einsatz kommen. Es droht ständig, dass zu hohe fixe Kosten anfallen, die nicht amortisiert werden können. Auch die Möglichkeit zum Einsatz von Chemikalien ist begrenzt, weil sie die Kräfte, die in der Natur wirken, nur verstärken, aber nicht ersetzen können.
Unter dem Boden
Demgegenüber kann eine Fabrik auf einer geringen Fläche immer grössere Mengen herstellen, weil die Materialien, welche die Produktionsgrundlage bilden, von aussen zugeführt werden. Sie stammen zum grossen Teil aus Rohstoffen, die sich unter der Erde über Jahrmillionen angesammelt haben und nun einfach auf ihre Ausbeutung «warten». Diese kann - bis zur Erschöpfung der Lagerstätten - laufend gesteigert werden, ohne dass wesentlich mehr Bodenfläche verbraucht wird. Durch den technologischen Fortschritt wird sowohl die Ausbeutung der Rohstofflager als auch die Produktion immer effizienter. Die Maschinen können voll genutzt und so amortisiert werden.
Aus beiden Gründen ist die Wertschöpfung in der Industrie systematisch höher als in der Landwirtschaft. Dies hat nichts mit einer geringeren unternehmerischen Fähigkeit der Bauern zu tun.
Unterschiede in der Wertschöpfung bestehen allerdings nicht nur zwischen Landwirtschaft und Industrie, sondern auch innerhalb der Landwirtschaft. Der Wertschöpfungsnachteil in der Landwirtschaft ist nicht auf der ganzen Welt gleich ausgeprägt. Er ist dort weniger spürbar, wo noch genügend Boden zur Verfügung steht, der praktisch nur landwirtschaftlich genutzt werden kann. Dies gilt vor allem für die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Teile von Südamerika. Umgekehrt ist der Wertschöpfungsnachteil der Landwirtschaft wesentlich spürbarer in einem Industrieland wie der Schweiz, wo der Boden vielen Nutzungsansprüchen ausgesetzt ist. Insbesondere die bauliche Nutzung bedroht das Landwirtschaftsland. Dahinter steht die grössere Kaufkraft derjenigen, die von der höheren Wertschöpfung in der Industrie und im Dienstleistungssektor profitieren. Sie können höhere Bodenpreise bezahlen. Der Verkehrswert des Bodens ist weit höher als der landwirtschaftliche Ertragswert, soweit dieser überhaupt noch positiv ist. Dies verunmöglicht eine Ausdehnung der Produktionsfläche und damit Betriebsgrössen wie in den USA oder Australien.
Doch auch in den Exportländern hat die Landwirtschaft den erwähnten Wettbewerbsnachteil gegenüber der Industrie. Deshalb ist sie darauf angewiesen, die Produktionssteigerung zu forcieren. Dazu genügt die Ausweitung des Binnenmarkts nicht. Auch der Export muss erhöht werden. Die nötige Zunahme des Exports ist nur möglich, wenn er die Eigenproduktion in den Importländern verdrängt. Dafür genügen die tieferen Produktionspreise nicht, die sich aus der Verfügbarkeit billigen Bodens ergeben. Vielmehr wird durch staatliche Exportsubventionen nachgeholfen, um den Wettbewerbsnachteil der Landwirtschaft auszugleichen. Dies bedeutet, dass die Weltmarktpreise noch unter den Produktionspreisen in den Exportländern zu liegen kommen.
Fazit: Ohne die Schutzmassnahmen, die die Schweiz als Industrieland zugunsten der Landwirtschaft eingeführt hat, würde diese gegen null schrumpfen. Nun kann man darüber diskutieren, ob der bestehende Mix aus Schutzmassnahmen der richtige ist. Aber alle Umorientierungen werden nicht dazu führen, dass die Landwirtschaft in der Schweiz ohne Schutz aufrechterhalten werden kann.
Das Prinzip Spielbank
Für mich besteht kein Zweifel: Die Landwirtschaft in der Schweiz aufzugeben, ist lebensgefährlich. Die Landwirtschaft in der Schweiz kann zwar im Expansions- und Wachstumstrend nicht mithalten, doch sie ist notwendig für die Sicherung der Nahrungsgrundlage. In den Agrarexportländern wird die Bebauung des Bodens immer mehr auf höchst riskante Weise betrieben: Monokulturen, massiver Chemieeinsatz, Hochzüchtung von Nutztieren, in Zukunft vor allem Einsatz von Gentechnologie. Die Bodenerosion durch Ausräumung der Agrarlandschaft, einseitige Fruchtfolgen, Versalzung der Böden und klimatisch nicht angepasste Bewässerungsmethoden schreitet voran. In den USA ist ein Fünftel der gesamten Anbaufläche durch Bodenerosion gefährdet. Die Erreger von Pflanzenkrankheiten werden gegen Pestizide und Insektizide zunehmend immun. Hochgezüchtete Tiere sind krankheitsanfällig. Gentechnologische Freilandexperimente können unvorhergesehene Folgen haben. Um die Versorgung mit gesunden Nahrungsmitteln zu sichern, ist es notwendig, eine konsumnahe Produktion aufrechtzuerhalten, und zwar eine Produktion, bei der grösseres Gewicht auf Qualität als auf Quantität gelegt wird und die Qualität auch kontrolliert werden kann.
Alles auf das Wachstum des Bruttosozialprodukts zu setzen, ist ein Roulettespiel, bei dem man mit Sicherheit verliert. Es ist bekannt, dass man auf den einfachen Chancen im Roulette im Prinzip alle Verluste ausgleichen kann, wenn man bei jedem Verlust den Einsatz verdoppelt. Damit es nicht dazu kommt, erlaubt die Spielbank die Erhöhung des Einsatzes nur bis zu einem bestimmten Betrag. In der äusseren Realität der Welt gibt es zwar keine Spielbank, die die Einsätze beschränkt. Trotzdem gibt es diese Beschränkung. Sie ergibt sich aus der Begrenzung der Welt selbst. Die Natur und die natürlichen Schranken der Nahrungsmittelproduktion können nicht einfach überspielt werden, ohne entsprechende Verluste zu riskieren.
Allerdings geht es nicht nur um die Existenzsicherung, sondern auch um die Aufrechterhaltung der Kulturlandschaft und der Besiedlung in der Bergwelt, die das Gesicht der Schweiz wesentlich prägt. Dabei muss auf die ökologischen Erfordernisse Rücksicht genommen werden, insbesondere auf die Erhaltung der Artenvielfalt. Dies wird sowohl durch eine forcierte Produktion wie durch Verbuschung und Verwaldung gefährdet.
Halb so viele Bauern?
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Feststellungen für die Agrarpolitik unseres Landes? Es sei nur so viel gesagt: Die AP 2011 ist darauf angelegt, die «Gesundschrumpfung» der Landwirtschaft gegen null zu verzögern. Aber sie hat sie trotzdem im Visier. Dies wird deutlich durch die vorgesehene Lockerung der Bestimmungen des bäuerlichen Bodenrechts - Erhöhung der Gewerbegrenzen, Aufhebung von Preis- und Pachtzinsvorschriften und Entlassung der Bauzone aus dem landwirtschaftlichen Pachtgesetz - sowie die Aufweichung der Beschränkungen für das Bauen in der Landwirtschaftszone.
Die landwirtschaftliche Produktion ist auch gefährdet durch eine zu starke Ausrichtung auf Direktzahlungen. Die Einführung der Direktzahlungen war durchaus sinnvoll. Früher lief die Einkommensstützung ausschliesslich über die Preise, was zu einer Überschussproduktion führte. Aber die Direktzahlungen dürfen nicht ein solches Gewicht erhalten, dass nur noch die minimale Pflege des Bodens garantiert ist, nicht aber die landwirtschaftliche Produktion.
Ausserdem sollen - das ist das Ziel der AP 2011 - die Zahl der Bauernhöfe halbiert und die Betriebsgrösse auf 40 Hektaren erhöht werden. Die dadurch ermöglichten Kostensenkungen sollen den Bauern ein Einkommen bringen, das die Landwirtschaft auch bei sinkenden Preisen noch genügend attraktiv macht. Sicher wird die Strukturbereinigung weitergehen. Warum aber sollen 40 Hektaren für die Erzielung eines ausreichenden Einkommens genügen, wenn im Ausland die Betriebe über Flächen von 1000 Hektaren und mehr verfügen? Wird es dann, wenn die Durchschnittsgrösse von 40 Hektaren erreicht ist, nicht heissen, jetzt müssten Grössen von 50, 60, 70 Hektaren anvisiert werden? Solche Grössen sind in der zersiedelten Schweiz gar nicht erreichbar.
Allerdings sind auch Marktverbesserungen im Blickfeld. Spezialitäten sollen eine höhere Wertschöpfung möglich machen. Zum Beispiel Käsesorten, die auch im Ausland verkauft werden können. Es geht vor allem um den deutschen Markt. Mehr und mehr ist aber die Konkurrenz durch französischen und holländischen Käse zu spüren, der ebenfalls auf den deutschen Markt drängt. Die Erwartungen dürfen daher nicht zu hoch geschraubt werden. Auch die biologische Landwirtschaft bietet Chancen. Ein Teil der Bevölkerung ist bereit, für Bioprodukte höhere Preise zu bezahlen. Aber auch der Ausweitung der biologischen Landwirtschaft sind Grenzen gesetzt. Wenn der KundInnenkreis genügend gross bleiben soll, ist nur eine geringe Preisdifferenz zwischen biologischen und konventionellen Produkten zulässig. Diese muss zudem höhere Produktionskosten ausgleichen. Weitere Möglichkeiten zur Steigerung der Wertschöpfung ergeben sich aus der Ausweitung der Direktvermarktung und der Förderung regionaler Produkte. Nützlich ist auch die Einführung des Labels Suisse Garantie.
Aber alle diese Massnahmen können in keiner Weise genügen, um die Benachteiligung der Schweizer Landwirtschaft gegenüber den Agarexportländern und erst recht nicht gegenüber der Industrie auszugleichen.
Wenn man die Landwirtschaft in der Schweiz aufgeben will, ist die AP 2011 ein guter Weg dazu. Wenn man sie aber aufrechterhalten will, müssen wesentliche Teile des Programms revidiert werden. Insbesondere muss auf die Lockerung des bäuerlichen Bodenrechts verzichtet werden, ebenso auf die Aufweichung der Bestimmungen über die Landwirtschaftszone. Die allgemeinen und ökologischen Direktzahlungen müssen beibehalten werden. Über ihre optimale Ausgestaltung, auch im Hinblick auf ihre Auswirkung auf die Produktionsaufgabe der Landwirtschaft, sollte nochmals diskutiert werden.
Die Existenzfrage ist gestellt.
Hans Christoph Binswanger, geboren 1929, ist Ökonom. Er lehrte bis 1994 an der Universität St. Gallen. Binswanger beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Gefährdung der Natur durch Wirtschaftswachstum. Kürzlich ist sein Buch «Die Wachstumsspirale» (Metropolis-Verlag, Marburg) erschienen.
Der abgedruckte Text basiert auf einem Vortrag, den Binswanger im August an einer Tagung der Schweizerischen Vereinigung Industrie und Landwirtschaft gehalten hat. Die Originalversion und weitere Vorträge sind auf www.svil.ch zu finden.