Ausgebauert: Milch und Margeriten

Nr. 48 –

Warum die Leute aus der Stadt wissen sollten, was auf ihren Teller kommt. Weshalb sich die BäuerInnen nicht befreien lassen wollen. Und was die Dritte Welt damit zu tun hat.

WOZ: Was ist die Aufgabe der Landwirtschaft?

Maya Graf: Das steht in der Bundesverfassung, Artikel 104: Die Landwirtschaft soll die Versorgung der Bevölkerung sichern, die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten, die Kulturlandschaft pflegen und zur dezentralen Besiedlung beitragen. Dem kann ich zustimmen.

Raymond Gétaz: Die Hauptaufgabe ist die Ernährung der Menschen. Alle sollten einen Zugang zur eigenen Ernährung haben und eine gewisse Kontrolle, damit sie nichts essen müssen, was pestizidverseucht ist oder unter unmenschlichen Bedingungen hergestellt wurde. Die Landwirtschaft hat auch soziale, ökologische und kulturelle Aspekte.

Wie gross ist die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit global?

Marianne Hochuli: Seit der «Grünen Revolution» in den Ländern des Südens hofft man, durch eine rationellere, industrialisierte Landwirtschaft die Nahrungsmittelknappheit lindern zu können. Doch das hat mehr Schaden als Nutzen gebracht. Leider sind wir immer noch auf diesem Weg. In den WTO-Verhandlungen geht es hauptsächlich um den Marktzugang für Agrarkonzerne.

Und in der Schweiz?

Graf: Die grösste Diskrepanz ist, dass hier seit 1990 30000 Landwirtschaftsbetriebe verschwunden sind. Das Positive an der Entwicklung der letzten Jahre ist, dass es heute elf Prozent Biobetriebe gibt.

Jetzt hat der Thinktank der vierzehn grössten Schweizer Multis eine Studie veröffentlicht und will die Bauern und Bäuerinnen befreien. Freut es Sie, dass Sie befreit werden sollen?

Graf: Ich brauche dieses Buch nicht. Ich kenne die Avenir Suisse, ich habe nichts anderes erwartet als eine neoliberale Abhandlung, deren Ziel es ist, die Landwirtschaft in der Schweiz abzuschaffen. Weil man ja alles importieren kann. Das ist wahrscheinlich sowieso billiger, und was im Ausland geschieht, ist uns wurst.

Wir Biobäuerinnen produzieren schon lange für den Markt, wir verstehen uns bereits als Unternehmerinnen, aber in einem anderen Sinn als Avenir Suisse. Und wir erhalten Direktzahlungen für unsere Leistungen für Ökologie, Klima und Kulturlandschaft.

Avenir Suisse will Marktstützungen, Grenzschutz und Direktzahlungen radikal abbauen. Ist das nicht eine Chance für die Länder des Südens?

Hochuli: Was die Länder des Südens stört, sind vor allem die Exportsubventionen der Industrieländer. In erster Linie produzieren die EU und die USA zu viele Agrarprodukte, zum Beispiel Zucker oder Baumwolle, und werfen sie dann zu Dumpingpreisen auf den Weltmarkt. Sie sind so stark verbilligt, dass sie unter den Produktionspreisen der armen Bäuerinnen und Bauern liegen. Diese haben auf dem Weltmarkt keine Chance. Die Abschaffung der Exportsubventionen wurde an der letzten WTO-Ministerkonferenz bis 2013 versprochen. - Aber gegen unsere Direktzahlungen haben die Leute im Süden überhaupt nichts. Dass der Staat die Bauern unterstützt bei der nachhaltigen Grundversorgung des eigenen Landes, finden sie gut.

Was sollen wir denn jetzt importieren? Zucker zum Beispiel?

Hochuli: Der Zuckeranbau in Entwicklungsländern ist zum Teil sehr problematisch, etwa in Brasilien, wo in den letzten zehn Jahren der Anbau verdoppelt wurde - zulasten des Regenwaldes und kleinbäuerlicher Strukturen. Darum ist es nicht sinnvoll, den Zuckeranbau in der Schweiz abzuschaffen und alles zu importieren. Die Schweiz produziert einen relativ grossen Anteil ihres Zuckerbedarfs, den Rest könnten wir aus fairer, nachhaltiger Produktion aus südlichen Ländern importieren. Heute kommt der Hauptanteil aus der EU.

In der Schweiz steht bald die Ständeratsdebatte zur neuen Agrarpolitik an, zur sogenannten AP 2011. Longo Mai hat dagegen im Frühling eine Petition lanciert. Warum?

Gétaz: Wir sind überzeugt, dass die Landwirtschaftspolitik momentan in die falsche Richtung geht, nämlich total Richtung Markt. Alles andere wird auf die Seite gewischt. Die Hälfte der heute 65000 Bauernhöfe soll in den nächsten Jahren verschwinden. Die Hofgrösse soll sich verdoppeln von zwanzig auf vierzig Hektar. Das sind 32 000 Familien, die den Zugang zu ihrer Ernährungsgrundlage verlieren. In der industriellen Landwirtschaft zählt man nicht mehr auf lokale Ressourcen, sondern auf Input und Output. Für mich ist Landwirtschaft nach wie vor die Nutzung der lokalen Ressourcen, der Sonne, des Bodens und des Wassers und nicht das Produzieren von Tomaten auf Beton mit synthetischer Nährlösung. Was im Süden passiert, passiert hier auch, nur weniger krass.

Wie sehen Sie die AP 2011, Frau Graf?

Graf: Ich sehe sie nicht so negativ. Allerdings braucht es entscheidende Korrekturen. Vor allem bin ich gegen die in der AP 2011 vorgesehene Lockerung von Pachtrecht und Bodenrecht. Damit könnte man die Bauernhöfe nicht mehr in der Familie zu einem günstigen Preis weitergeben. Hof und Land würden zum Spekulationsobjekt, und Lebensmittel zu produzieren wäre viel zu teuer. Heute kommen immer noch sechzig Prozent der Lebensmittel, die wir verbrauchen, aus der Schweiz. Unsere Forderung ist klar: Die nachhaltige Landwirtschaft muss gefördert werden, und die industrielle Landwirtschaft darf keine Direktzahlungen bekommen.

Wo ist die Grenze zwischen bäuerlicher und industrieller Landwirtschaft?

Graf: Zum Beispiel bei der Anzahl der Tiere. Wir haben ja Höchstbestände, wie viele Tiere ein Hof halten darf. Im Vergleich zu Europa sind diese bei uns relativ niedrig. Es gibt immer wieder Versuche, sie zu erhöhen. Dagegen hat man sich bisher erfolgreich gewehrt.

Gétaz: Ich bin gegen diesen Strukturwandel, der von oben kommt. Die AP 2011 will die Jugendlichen entmutigen, Landwirtschaft zu lernen. Die Westschweizer Bauerngewerkschaft Uniterre sagt hingegen, wir brauchen mehr Bauern, mehr Leute in der Landwirtschaft. Wir können nicht akzeptieren, dass der Graben zwischen Stadt und Land immer grösser wird.

Graf: Der Strukturwandel ist nicht nur schlecht: Als ich ein Kind war, gab es zehn Bauern in meiner Nachbarschaft, die hatten knapp acht Hektaren Land, aber die Kühe waren das ganze Jahr im Stall, und die Wiesen wurden intensiv gedüngt. Heute sind wir noch drei, die Milch produzieren, aber unsere Tiere sind das ganze Jahr draussen, und es gibt wieder Blumenwiesen - als ich klein war, habe ich nie eine Margerite gesehen. Wir haben Hecken und Hochstämme gepflanzt, die hat die Generation meiner Eltern noch alle gefällt. Und übermorgen bin ich an der Aufrichte einer regionalen Molkerei. Damit unsere Milch aus der Region Basel nicht mehr nach Luzern oder Estavayer-le-Lac gefahren wird. Global passiert viel Schlechtes, aber es gibt auch gute regionale Ansätze mit vielen motivierten Leuten.

Zur Landwirtschaft gehört auch die ganze Sozialstruktur: Auf vielen Höfen ist sie noch sehr patriarchalisch; der Betriebsleiter ist fast immer ein Mann, die Familie hilft mit, dazu kommen Arbeitskräfte aus Osteuropa. Heute ist dieses Modell in der Krise, immer mehr Bäuerinnen lassen sich scheiden. Was gibt es für neue Modelle?

Graf: Wie macht es Longo Mai?

Gétaz: Wir versuchen die Arbeit genossenschaftlich zu organisieren. Wir bestimmen gemeinsam, was wir anbauen für unsere eigene Ernährung und für den Verkauf, teilen auch die Hausarbeit. Einen anderen Versuch gibt es in Genf: TourneRêve, eine Genossenschaft von Städtern und Landwirten. Sie legen gemeinsam fest, welche Lebensmittel sie brauchen. Die Bauern bauen sie an, die Städter helfen zum Teil mit. Sie übernehmen ihren Anteil der Produktion, keine festgelegte Menge. In einem guten Jahr bekommen sie vielleicht acht Liter Öl, in einem schlechten drei. Diesen Versuch finde ich interessant, weil er die Menschen von der Stadt wieder mit ihrer Nahrung verbindet.

Graf: Das kann ich nur unterstützen. Es ist sehr wichtig, neue Strukturen auszuprobieren. Ich bin auch dagegen, dass wir unsere Landwirtschaft so rationalisieren, dass ein Mann auf einem Betrieb mit fünfzig, hundert Hektaren alleine arbeiten kann und noch ein paar schlecht bezahlte Polen beschäftigt. Wie bringt man die Stadt dem Land wieder näher? Wir brauchen wieder regionale Märkte. Eigentlich sollten alle wissen, wenn sie etwas einkaufen, von welchem Bauern in der Region es ist, und diese Höfe kennen. Auch die Ausbildung ist ganz wichtig. Es gibt jetzt einen Lehrgang Biolandwirtschaft. Viele junge Leute aus der Stadt möchten Biobauer, Biobäuerin lernen. Wir müssen es einfach schaffen, dass diese Leute nachher auch Arbeit finden.

Und es reicht nicht, dass wir diese Produkte sorgfältig produzieren, es braucht auch eine regionale Struktur, die sie verarbeiten kann. Wo ist die Mühle noch, die das Biogetreide mahlt, wer kauft mir meine Kirschen ab, um Konfitüre zu machen?

Hochuli: Ich bin nicht so nahe an der Diskussion zur AP 2011. Aber mir scheint, der Druck seit 1995, als die WTO entstanden ist, hat auch Gutes bewirkt. Damals musste sich die Schweiz eingestehen: Wirklich exporttüchtig sind wir nicht. Und wir haben als erstes Land Direktzahlungen eingeführt, die Zahlungen entkoppelt von der Menge der Produktion. Das habe ich begrüsst, aber wenn ich heute die Voten für eine Verdoppelung der Hofgrösse höre oder dass man sich «dem Wettbewerb stellen» müsse, dann frage ich mich: Werden diese Gelder wirklich dorthin umgeleitet, wo ökologisch gewirtschaftet wird? Warum stellen wir nicht die ganze Landwirtschaft auf bio um?

Gétaz: Ich finde ein Bioland Schweiz nur interessant, wenn man sagt: Bionahrung für alle. Und nicht eine Zweiklassennahrung. Im Moment geht es aber in diese Richtung: Billigprodukte, Importwaren zu möglichst tiefen Preisen, und die Leute, die es sich leisten können, dürfen Bionahrung essen. Das ist ein falsches Konzept. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft in der Dritten Welt erzeugt man Billigprodukte für uns, und daneben verhungern die Menschen.

Graf: Diese Diskussion über die Lebensmittelpreise ist unsäglich. Es muss alles immer billiger sein, dabei haben wir noch nie in unserer Geschichte so wenig Geld ausgegeben für Lebensmittel: nur noch 8 Prozent der Haushaltsausgaben. 2004 haben die Bauernfamilien 24 Prozent weniger für ihre Produkte bekommen als 1992. Aber im Laden kosten sie 11 Prozent mehr. Der Zwischenhandel und die verarbeitende Industrie knöpfen sich immer mehr ab. Und bauen dann aus dem Ertrag neue, riesige Einkaufszentren im Grünen.

Gibt es im Süden Modelle, wie man die Landwirtschaft sozialer organisieren könnte?

Hochuli: Genau dieselbe Preisdrückerei wie in der Schweiz läuft weltweit. Hinter diesem WTO-Modell, das alles auf den Export setzt, stecken grosse Handels- und Verarbeitungsfirmen. Deshalb will die Bewegung für fairen Handel den Zwischenhandel ausschalten und faire Preise direkt an die Bauern und Bäuerinnen bezahlen. Aber der faire Handel macht nur wenige Prozente des Welthandels aus. Die Entwicklung geht im Moment immer noch in die falsche Richtung. Aber es gibt auch eine Gegenbewegung. Ein Beispiel aus den Philippinen: Eine Vertreterin einer NGO, die sich für die Biodiversität einsetzt, schilderte mir, wie ihre Leute nach den schlechten Erfahrungen mit der Exportlandwirtschaft in die Dörfer gehen und Bauern und Bäuerinnen darin unterrichten, alte Gemüsesorten wieder anzubauen.

Und in Indien planen 2007 Millionen von Kleinbauern und -bäuerinnen einen Marsch nach Delhi. Sie wollen die Regierung dazu bringen, die Zölle nicht zu senken. Denn dann würde Indien mit billigen Importlebensmitteln überschwemmt.

Es geschieht also beides. Es ist einfach die Frage, welche Bewegung am Schluss gewinnt. Als Konsumierende und in der Landwirtschaft Tätige müssen wir diesen alternativen Bewegungen und regionalen Entwicklungen zum Durchbruch verhelfen. Wir werden dann manchmal als protektionistisch und vormodern bezeichnet, aber wir sind realistisch, wenn es um Ressourcen geht. Wenn das Erdöl knapp wird und die Energiepreise steigen - was ich hoffe -, dann wird ein grosser Teil des Welthandels gar nicht mehr stattfinden können. Und es wird unweigerlich dazu kommen, dass wir wieder regionale Alternativen entwickeln. ·





Die DiskussionsteilnehmerInnen:

Marianne Hochuli ist seit mehr als acht Jahren bei der entwicklungspolitischen Organisation Erklärung von Bern (EvB) tätig. Sie beschäftigt sich mit Welthandel und der World Trade Organisation (WTO).

Maya Graf ist Nationalrätin der Grünen Baselland. Sie ist Sozialarbeiterin und bewirtschaftet in einer Hofgemeinschaft einen Biohof bei Sissach, wo Milch, Fleisch und Obst produziert werden. Sie ist aktiv gegen Agrogentechnologie.

Raymond Gétaz wohnt auf dem Schweizer Hof der Europäischen Kooperative Longo Mai in Undervelier JU. Longo Mai hat ein Dutzend Kooperativen in Europa und engagiert sich politisch unter anderem für Sans-Papiers und die LandarbeiterInnen in Südspanien, die Gemüse für Nordeuropa anbauen.

Dieser Beitrag basiert auf einer Diskussion im Rahmen der WOZ-Veranstaltung «Ausgebauert?» am 27. November 2006 in Winterthur.