Agrarpolitik: Geld schmeckt nicht
Die Landwirtschaft wird immer industrialisierter - auch die schweizerische, die vorgibt, umweltfreundlich zu sein. Eine Stellungnahme gegen den bundesrätlichen Bericht «Agrarpolitik 2011».
Die Kampagne von Longo maï trägt den Titel «Das Essen kommt nicht aus dem Supermarkt». «Eine Warnung mehr», werden viele sagen. Es stimmt: Nicht erst seit heute machen wir auf die Konsequenzen einer Landwirtschaftspolitik aufmerksam, die völlig den globalisierten Märkten unterworfen ist. Diese Politik geht einher mit der Notwendigkeit, die Betriebe zu vergrössern, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen - mit dem Einsatz von familienfremden, billigen Arbeitskräften, mit einer starken Spezialisierung und einer extremen Mechanisierung der Produktionsmethoden. Dieses Konzept einer «produktivistischen» Landwirtschaft stand am Ursprung der technologischen Revolution in der Landwirtschaft, die schon in den sechziger Jahren in Mode kam.
Bald wurde die berühmte Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) für Europa geboren. Die Anzahl der Bauernbetriebe wurde drastisch reduziert. Dies sollte den verbleibenden LandwirtInnen einen grösseren Teil vom Kuchen des landwirtschaftlichen Einkommens sichern. Der Kuchen selbst sollte gleich bleiben.
Der strengen Anwendung dieser Politik entkam die Schweiz damals noch dank eines Ausnahmestatus, den sie im Rahmen des Gatt (der Vorläuferorganisation der Welthandelsorganisation WTO) aushandelte. Die Schweiz konnte also ihre Landwirtschaft «schützen». Dadurch schaffte sie es, den LandwirtInnen vorübergehend relativ kostendeckende Agrarpreise zu garantieren. War dieser Protektionismus, der vor allem von der exportorientierten Industrie stark kritisiert wurde, wirklich eine solch untragbare Bremse für unsere Wirtschaft? Die Bauernfamilien hatten immerhin das nötige Geld zur Hand, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, um in die Modernisierung ihrer Produktionsmittel zu investieren, und pflegten somit einen kommerziellen Austausch mit dem Bau- und Mechanisierungssektor der Wirtschaft. (...)
Jetzt, vierzig Jahre danach, dominiert die Logik des Konkurrenzdenkens. Dies bewirkte eine weniger protektionistische Politik, was wiederum Auswirkungen auf das Preisniveau und das Einkommen der Bäuerinnen und Bauern hat. Um eine zu grosse Krise zu vermeiden, wurden zur Kompensation die Direktzahlungen eingeführt. Um die Höhe der Ausgaben - ein paar Milliarden Franken pro Jahr - zu rechtfertigen und um das Einverständnis der Bevölkerung zu erlangen, setzte man den LandwirtInnen die Bedingung, sich vom Produktivismus zu verabschieden und die Landwirtschaft umweltgerechter zu gestalten. Doch durch wiederholte und hinterlistige Angriffe auch auf dieses Konzept - mithilfe der Agrarpolitik AP 2007 und jetzt mit der AP 2011 (vgl. Kasten) - will man den wirtschaftlichen Imperativen die alleinige Macht übertragen. Dies würde einen Rückschritt bedeuten in die sechziger Jahre und zu denselben Fehlern, die zum Bankrott der europäischen Agrarpolitik geführt hatten. Welch eine Verschwendung! Wie kann man solche Albernheiten schreiben, wie es einige Mitarbeiter des Wirtschaftsdepartements mit Rückendeckung ihrer Chefs taten: «Zur Erleichterung des Strukturwandels sollen der Anreiz zum Einstieg in die Landwirtschaft reduziert und Regelungen, die den Ausstieg aus der Landwirtschaft erschweren, gelockert werden» (Zitat von Seite 80 im Bericht AP 2011).
Der Markt regelt nicht alles
Wie kann jemand so etwas schreiben, ohne bei dem Schwund der ländlichen Bevölkerung an die Konsequenzen für die regionale Wirtschaft zu denken, an das soziale Leben, an die Instandhaltung des ländlichen Raums - ganz zu schweigen davon, dass die AP 2011 gegen die Verfassung verstösst, die eine harmonische Besiedlung des ganzen Landes vorschreibt?
Es ist schon frappant: Seit langem kennen wir die Nachteile einer globalen Wirtschaftspolitik, die nur nach dem Markt orientiert ist. Angeblich kann sie alle Probleme regeln, doch wir wissen, dass dies nicht stimmt. Trotzdem rollt die Dampfwalze der Wirtschaftsglobalisierung, die sich mehr und mehr nur noch nach finanziellen Kriterien richtet, unerbittlich weiter. Bald wird es zu spät sein! Wir müssen alles dafür tun, um die AP 2011 zu verhindern und den Bericht an seine Verfasser zurückzuweisen. Doch wir dürfen nicht dabei stehen bleiben; wir müssen uns vielmehr an eine schwierige und sehr komplexe Aufgabe machen gegen die Einfältigkeit des derzeit herrschenden Wirtschaftsmodells. Es geht darum, eine Landwirtschaftspolitik aufgrund der Bedingungen zu entwerfen, die uns die Natur vorgibt. Die Ökonomen haben vergessen, dass die landwirtschaftliche Produktion von der Natur abhängig und daher ungleichmässig ist.
Professor Jean Vallat war Direktor des Instituts für Agrarwirtschaft der ETH Zürich.
AP 2011 und Longo maï
Die «Agrarpolitik 2011» (AP 2011) ist ein Strategiebericht und zeichnet vor, wie der Bund die Schweizer Landwirtschaft in den Jahren 2008 bis 2011 gestalten will. Konkret sollen die LandwirtInnen in diesem Zeitraum vom Staat noch 13,46 Milliarden Franken erhalten, das sind 634 Millionen weniger, als ihnen für die laufenden vier Jahre zur Verfügung stehen. Zölle für Futtermittel sollen gesenkt und Boden- wie Pachtrecht gelockert werden.
Die europäische Kooperative Longo maï wehrt sich gegen den bundesrätlichen Strategiebericht AP 2011, weil die vorgeschlagene Agrarpolitik nicht ökologisch sei, die Industrialisierung der Lebensmittelindustrie weiter vorantreibe und sich nicht um die langfristige Versorgung der Bevölkerung sorge. Longo maï wurde Anfang der siebziger Jahre in Basel gegründet, betreibt in verschiedenen Ländern Landwirtschaftskooperativen, ist aber auch in der Flüchtlingspolitik aktiv und gründete 1990 das Europäische Bürgerforum, das den Austausch zwischen Ost und West pflegt.
www.blw.admin.ch (vollständiger Bericht AP 2011)
Stoppt die Landflucht: Das undemokratische Bauernsterben
Auszüge aus der Broschüre «Das Essen kommt nicht aus dem Supermarkt» gegen die Agrarpolitik 2011.
Im Durchschnitt verfügt ein Schweizer Bauernhof über zwanzig Hektaren Land; die Mehrheit dieser Höfe liegt in Bergregionen, und es fehlt ihnen an Arbeitskräften. Dennoch beabsichtigt der Strategiebericht «Agrarpolitik 2011» (AP 2011) die Anzahl der Betriebe um mehr als die Hälfte zu verringern - von 65 000 auf 32 000. Mit diesem Rhythmus wird es in einigen Jahren keine bäuerliche Landwirtschaft mehr geben, und nur wenige ProduzentInnen werden sich in speziellen Marktlücken behaupten können. Die Ernährung der Bevölkerung soll dann wohl hauptsächlich durch die industrielle Produktion, Hors-sol-Anbau und durch Monokulturen in riesigen Latifundien in Afrika oder Lateinamerika gewährleistet werden.
Die Verfasser der AP 2011 schreiben: «Zur Erleichterung des Strukturwandels soll der Anreiz zum Einstieg in die Landwirtschaft reduziert werden.» Dies bedeutet, dass in Zukunft Jugendliche davon abgehalten werden sollen, einen Beruf in der Landwirtschaft zu erlernen, dass Landwirtschaftsschulen geschlossen werden und dass keine Unterstützung mehr zu erwarten ist, wenn jemand BäuerIn werden will. Eine solche Politik würde zur Folge haben, dass ein während Generationen erworbenes Wissen und Können langsam ausstirbt. (...)
Boden als Spekulationsobjekt
Die kleinen Höfe, welche die Pfeiler der lokalen und regionalen Wirtschaft bilden, sind die schwarzen Schafe der AP 2011. Der neue Gesetzesentwurf will ihnen mit einem Schlag den sozialen und wirtschaftlichen Status als Landwirtschaftsbetrieb entziehen. Alle bisher garantierten Rechte und Schutzbestimmungen, welche die Pacht und die Bodenspekulation regelten, sollen für diese Höfe aufgehoben werden. Im Bericht AP 2011 steht dazu: «Das bäuerliche Bodenrecht und das landwirtschaftliche Pachtrecht sind dahingehend zu ändern, dass der öffentlich-rechtliche Schutz eines Hofes als Betriebseinheit nur noch besteht, wenn er mindestens 1,25 Standardarbeitskräfte zu beschäftigen vermag. Die Preisbegrenzung im Bodenrecht und die Pachtzinskontrolle für einzelne Grundstücke im Pachtrecht sind abzuschaffen. Damit steigt die Attraktivität, ganze Betriebe parzellenweise zu verkaufen beziehungsweise zu verpachten, was die Wachstumsmöglichkeiten der verbleibenden Betriebe erhöht.» Zudem ist zu lesen: «Durch die Aufhebung der Belastungsgrenze werden individuell aushandelbare Kreditvolumen und Konditionen möglich.» Die AP 2011 öffnet so die Schleusen für eine völlig ungehemmte Bodenspekulation. Doch der Boden ist ein nicht vermehrbares Gut. Er muss vor dem Markt und vor übermässiger Belehnung geschützt werden. Der wahnwitzigen Bodenspekulation der achtziger Jahre wurde mit dem Bundesgesetz über das bäuerliche Bodenrecht Einhalt geboten, das den verbliebenen landwirtschaftlichen Boden faktisch unter Schutz stellte.
WTO befiehlt
Nach der AP 2011 würde dieses Gesetz für die Hälfte der Betriebe nicht mehr gelten. Die andere Hälfte dürfte einen Grossteil ihres Schutzes verlieren, weil die Höchstlimite des Verkaufspreises sowie die Belastungsgrenze abgeschafft werden sollen. Die Frage des Eigentums an Grund und Boden ist ein zentraler Punkt, auch für künftige Generationen. (...)
Die Schweiz hat bereits in den früheren Gatt-Runden (Vorgängerorganisation der Welthandelsorganisation WTO) eingewilligt, ihre Landwirtschaft in die Verhandlungen über eine weltweite Liberalisierung des Handels mit einzubeziehen. Sie hat damit die eigene Entscheidungsgewalt in diesem lebenswichtigen Bereich aufgegeben. Dies ist im Widerspruch zur Bundesverfassung, wo in Artikel 10 steht: «Der Bund sorgt dafür, dass die Landwirtschaft durch eine nachhaltige und auf den Markt ausgerichtete Produktion einen wesentlichen Beitrag leistet zur sicheren Versorgung der Bevölkerung, zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und Pflege der Kulturlandschaft und zur dezentralen Besiedelung des Landes.»
Die fortschreitende Deregulierung auf dem Weltmarkt dient vor allem den Interessen der transnationalen Unternehmen und der Finanzgesellschaften der Industrieländer. Die Bundesbehörden haben es tunlichst vermieden, die Bevölkerung zu befragen, ob sie überhaupt bereit ist, die Konsequenzen der WTO-Politik mitzutragen. Die demokratischen Spielregeln in diesem Prozess wurden völlig ausgeschaltet. So konnte niemand kritisch hinterfragen, wie in einem Hochlohnland mit entsprechenden Produktionskosten eine landwirtschaftliche Nahrungsmittelproduktion zu konkurrenzfähigen, billigsten Weltmarktpreisen möglich sein soll. (...)
Abhängigkeiten
Die LandwirtInnen werden ständig beschuldigt, sie kämen den Staat zu teuer. Die Direktzahlungen, die sie vom Staat erhalten, fliessen jedoch zum grossen Teil in die Rück- und Zinszahlungen der Hypothekarschulden, welche die Betriebe für Maschinen und andere Investitionen aufnehmen mussten. Dank der Direktzahlungen an die BäuerInnen konnten die Grossverteiler während der letzten Jahre die Preise der ProduzentInnen stark nach unten drücken. Der Bericht AP 2011 bemerkt, dass die Produzentenpreise zwischen 1990/92 und 2003 um 24 Prozent gesunken sind. Dies betrifft vor allem die Milch und verschiedene Feldfrüchte. Die VerbraucherInnenpreise sind im selben Zeitraum um 11 Prozent gestiegen. Fazit: Die KonsumentInnen zahlen mehr, und die ProduzentInnen bekommen weniger. Wohin geht die Differenz? Die Grossverteiler haben die hohen Kosten der künstlich niedrig gehaltenen ProduzentInnenpreise zu den SteuerzahlerInnen verlagert. (...)
Longo maï
Die Broschüre und die Petition sind zu finden unter: www.stoppt-die-landflucht.org