Palästina: Fata Morgana der Freiheit

Nr. 45 –

Hilflos gegenüber den Bedürfnissen der palästinensischen Bevölkerung klammert sich die Hamas an ihre demokratisch erworbene Macht.

In ganz Palästina trauert man dieser Tage um die zwanzig Toten, die am Mittwochmorgen in Beit Jahun im Artilleriefeuer der israelischen Armee starben. Dutzende von Verletzten liegen noch immer in den Krankenhäusern. Alle Fortschritte der letzten Tage zur Bildung einer neuen nationalen Regierung sind, wieder einmal in letzter Minute, zunichte gemacht worden. Die Hamas hat inzwischen die Waffenruhe mit Israel für beendet erklärt.

Für den elfjährigen Alaa hat in diesem Jahr das Schuljahr nicht, wie gewohnt, zum Ende des Sommers begonnen. Alle LehrerInnen der staatlichen palästinensischen Schulen waren im Streik, weil sie seit den palästinensischen Wahlen im Januar keinen regelmässigen Lohn mehr erhalten hatten. Erst Anfang dieser Woche, nachdem der Streik aufgehoben wurde, konnten die Kinder nach zwei Monaten versäumten Unterrichts wieder in ihre Schulen zurück.

Von Jerusalem nach Dschenin fährt man auf direktem Weg eineinhalb Stunden mit dem Auto, vorausgesetzt, man darf die historische Strasse von Jerusalem in den Norden Richtung Damaskus nutzen. Das ist nur mit der Erlaubnis möglich, die zahlreichen Checkpoints passieren zu dürfen. Ohne Kontrolle können nur noch israelische SiedlerInnen oder Diplomatenautos durchfahren. Alle anderen brauchen bis zu sechs Stunden für den Weg, der vor allem aus Umwegen und Warteperioden an festen und an mobilen Checkpoints besteht. Frei bewegen kann sich kaum noch jemand; Zeitplanung ist ein Ding der Unmöglichkeit. So müssen Studenten und Professorinnen in Nablus spätestens um drei Uhr nachmittags los, um bis zum Abend ihre Dörfer erreichen zu können respektive noch durch die israelischen Armeesperren gelassen zu werden. Dasselbe am Morgen. Immer wieder werden Student-Innen auch stundenlang von der Armee aufgehalten. So verpasst man wichtige Termine, zum Beispiel ein Examen oder ein Interview für ein Stipendium, ein Vorstellungsgespräch - und manchmal auch die Möglichkeit, für einen lebensnotwendigen Eingriff rechtzeitig im Krankenhaus anzukommen. Das ist der Alltag im besetzten Westjordanland.

In Hebron herrscht Alarmzustand. Der wichtigste Clan der Stadt hat mit seinen bewaffneten Truppen alle Polizisten in der Stadt verhaftet und die zentrale Polizeistation in Brand gesteckt. Der Grund: Eine Polizeipatrouille hatte ein Mitglied dieses Clans nach einem Autodiebstahl zu verhaften versucht. Dabei wurde dieser von einer Kugel getroffen und war gestorben. Seither herrscht in Hebron zwischen dem Clan und der Polizei «Krieg». Hamas, die «Regierungspartei» im Lande, hat damit nichts zu tun. Allerdings ist sie auch nicht in der Lage, die Polizei bei der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung zu unterstützen; sie hat auch keinen Einfluss auf den Clan. Ohne Geld kann nun mal kein Land regiert werden. Und die Polizei wird noch immer von der in den Wahlen unterlegenen Opposition kontrolliert. Das ist die Lokalpolitik unter der Besatzung. Im Gasastreifen sterben innerhalb weniger Tage Dutzende von PalästinenserInnen bei Angriffen der israelischen Armee gegen den Ort Beit Jahun. Palästinensische Freischärler ihrerseits schiessen immer wieder selbstgebastelte Geschosse, die sogenannten Kassam-Raketen, in Richtung Israel. Meist fliegen sie gar nicht über die Grenze, sondern landen irgendwo auf einem Feld. Manchmal erreichen sie die Randgebiete von israelischen Dörfern oder Städten. Doch nur in wenigen Fällen trafen oder treffen sie Gebäude oder gar Menschen.

Die israelische Armee hingegen greift den Gasastreifen immer wieder mit massiven Artilleriegeschützen an. Seit Juni sind Hunderte von PalästinenserInnen dabei getötet worden, immer wieder auch Kinder, Jugendliche und Frauen. Zwar ist die Armee seit Ende 2005 aus dem Gasastreifen abgezogen, doch noch immer kontrolliert sie das Gebiet. Und sie überwacht, wer ein- oder ausreisen darf. Meis-tens darf das niemand. So ist auch der einzige für PalästinenserInnen noch benutzbare Grenzübergang Rafah im Süden des Landes mehr geschlossen als offen.

Inzwischen hat die Armee Beit Jahun wieder verlassen. Doch die Menschen in Gasa leben in einem permanenten Ausnahmezustand. Leben heisst nur noch Überleben. Die Wahlen vom Januar 2006 hatten damals eine Fata Morgana der Freiheit vorgespiegelt. Doch die gewählte Regierung kann und soll nicht regieren. Dafür sorgen die USA, sekundiert von der Europäischen Union und lokal unterstützt von der unterlegenen ehemaligen Regierungspartei Fatah. Diese hatte in den Jahren nach den Friedensverhandlungen von Oslo auch nicht viel Spielraum zum Regieren erhalten.

Derzeit läuft die x-te Runde der Verhandlungen zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit auf der Basis des Gefangenendokuments. Darauf hatten sich die beiden wichtigsten politischen Bewegungen im Lande - Hamas und Fatah - geeinigt. Doch immer, wenn eine Einigung zwischen Präsident Mahmud Abbas von der Fatah und Premierminister Ismail Haniyeh von der Hamas zustande zu kommen scheint, tischen die USA neue Forderungen auf, mal offen, mal hinter verschlossenen Türen. Es scheint, dass es keinen innerpalästinensischen Fortschritt geben soll. Es scheint auch, dass der innere Zerfall und damit der Niedergang der palästinensischen Politik immer weitergehen sollen. Und es scheint die Hauptsache zu sein, dass die israelische Siedlungspolitik in Ostjerusalem und im Westjordanland ungestört fortgesetzt werden kann.

Immer deutlicher zeigt sich, dass keine politische Kraft im Lande in der Lage ist, die Probleme zu lösen. Stattdessen klammert sich die Hamas an ihre demokratisch erworbene politische Macht, ohne in der Lage zu sein, diese auch auszuüben. Deshalb ist die palästinensische Politik heute ein selbstzerfleischender und hasserfüllter Konflikt zwischen Fatah und Hamas. Die israelische Besatzung muss nur noch etwas nachhelfen, um die Zerstörung voranzutreiben. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Und kaum jemand in der internationalen Gemeinschaft schert sich darum.


Fabrikgespräche

Helga Baumgarten lebt in Ostjerusalem, lehrt Politologie an der palästinensischen Universität Bir Seit und schreibt regelmässig für die WOZ. Am 15. November stellt sie in der Roten Fabrik Zürich die Hamas-Bewegung vor. Siehe www.rotefabrik.ch/portal/kalender/event.php?id=1389.