Nonkonformismus: Sich ekeln reicht nicht aus

Nr. 5 –

Während des Kalten Krieges verweigerten sich die sogenannten Nonkonformisten dem Kampf zwischen Ost und West und wurden deshalb beschimpft. Was wäre Nonkonformismus heute?

In den hysterischen Zeiten des Kalten Krieges war es in den Schweizer Mediengeneralstäben üblich, Intellektuelle, die sich erlaubten, eine prononcierte eigene Meinung zum Ost-West-Konflikt und zur Position der Schweiz zu vertreten, verächtlich und gehässig als Nonkonformisten zu beschimpfen. Da wurde selbst von AkademikerInnen, ja von Professoren mit gutem Ruf als Diener der Wissenschaften gelegentlich gröbstes Geschütz aufgefahren.

So schrieb der Berner Historiker und Nationalrat Walther Hofer im Mai 1965 in der NZZ, die Gesellschaftskritik der sogenannten Nonkonformisten sei «böswillig, destruktiv, manchmal auch direkt verleumderisch, überheblich, unbelastet von Sachkenntnis, die vielmehr durch Frivolität und Unverfrorenheit ersetzt wird. Sie nennen sich Nonkonformisten [was nicht stimmt, sie wurden so benannt, A.K.] und bemühen sich, in jedem Fall das Gegenteil von dem zu vertreten, was vorherrschende Meinung ist, auch wenn es Wahrheit und Wirklichkeit direkt ins Gesicht schlägt». Diese Nonkonformisten seien gefangen von der Zwangsvorstellung, originell zu sein, eigentliche Gesellschaftszertrümmerer.

Aber so tönte es keineswegs nur auf der politischen Rechten. Der Berner Nationalökonom Fritz Marbach äusserte sich in der damaligen Smuv-Zeitschrift ebenso gehässig, und der führende Basler Sozialdemokrat Carl Miville schrieb in der Basler «Arbeiterzeitung» über die als Redaktoren bei bürgerlichen Blättern arbeitenden Autoren der Streitschrift «Expo 64 - Trugbild der Schweiz», diese «verbildeten und versnobten Kritiker» kultivierten einen «Nonkonformismus bis zur krampfhaften Gebärde». Es seien «Kritikaster …, die ihre Aggressionen und negativen Instinkte in den Zeitungen auslebten». (Die Beispiele stammen aus einem Vortrag, den der Historiker Roger Sidler letzten Herbst in Basel gehalten hat.)

«Konformismus», so lehrt mich das Wörterbuch, sei «eine stets um Anpassung bemühte Haltung». Nonkonformismus wäre demnach eine sich stets einer Anpassung verweigernde Haltung. Dieser Begriff unterstellt, dass ein Nonkonformist aus Prinzip oder wegen seines verqueren Charakters ein solcher ist, ungeachtet der realen Situation, an die er sich nicht anpassen will. Einmal Nonkonformist, immer Nonkonformist. Im Geiste derer, die politisch in einer bestimmten Situation eine von der grossen Mehrheit geteilte, gleichsam zur Staatsdoktrin promovierte Meinung vertreten, ist der Begriff Nonkonformist ein Totschlagbegriff, mit dessen Hilfe man jede Opposition mundtot zu machen versucht. Eine äusserst bequeme Art, sich von einer ernsthaften Diskussion mit Andersdenkenden zu dispensieren, ja, jede Opposition von vornherein zu diffamieren.

Dialektik der Demokratie

Damit wird das demokratisch-liberale Prinzip der Notwendigkeit eines -Dialogs zwischen Regierung und Opposition ausser Kraft gesetzt, damit die Dialektik der Demokratie. Die Argumente der Opposition werden nicht zur Kenntnis genommen, was einen der Aufgabe enthebt, die eigenen zu überprüfen. Mit der Stigmatisierung einer Opposition als offenbar bereits in den Genen ihrer Vertreter angelegten oder psychisch bedingten Protesthaltung begibt man sich auf den Weg zu jener Mehrheitstyrannei, die schon ein Alexis de Tocqueville als eine ernste Gefahr für den demokratischen Staat sah. Zur Zeit des Kalten Krieges wies die biedere Schweizer Demokratie, die sich - nicht ganz zu Recht - lobt, die älteste Demokratie der Welt zu sein, unverkennbar Züge einer solchen Mehrheitstyrannei auf. Im Juli 1968 schrieb Max Frisch in der «Weltwoche»: «Wir wollen keinen Totalitarismus, es fragt sich, ob es nicht auch einen Totalitarismus durch die Mehrheit gibt.»

Wie alle politischen Begriffe hat auch der Begriff Nonkonformismus seine Geschichte. So liest man etwa in Herman Melvilles ergreifendem Roman «Billy Budd» (posthum 1924 erschienen) von einem Matrosen, einem alten, nachdenklichen Seebären, dieser sei ein «überzeugter ‹nonconformist›» gewesen. In Max Frischs weitgehend autobiografisch inspirierter «Biografie. Ein Spiel» (1985), einer Reflexion über die innere Ambivalenz eines linken Intellektuellen zur Zeit des Kalten Krieges, begründet der erfolgreiche Wissenschaftler Kürmann, einem kommunistischen Gesprächspartner gegenüber, «warum ich keiner Partei beigetreten bin», mit den Worten: «Ich bin … ein bürgerlicher Intellektueller, der die herrschende Klasse einigermassen durchschaut, jedenfalls mit Entsetzen oder mindestens mit Ekel, ein sogenannter Nonkonformist, aber Ekel genügt ihm. Ab und zu unterzeichne ich einen Aufruf, eine Kundgebung für oder einen Protest gegen - solange Gewissen noch gestattet ist -, und im Übrigen arbeitet der Nonkonformist an seiner bürgerlichen Karriere. - Und Arbeit in der Partei, sagen Sie, ist das einzige Mittel, um die Gesellschaft zu ändern - um die Welt zu retten -, wobei der Zweck, meinen Sie, die Mittel heiligt. Das ist bekannt und genau der Grund, warum ich keiner Partei beitrete.»

Max Frischs Politik

Nun ist aber Max Frischs «Biografie» ein doppelbödiges Spiel: Kürmann darf sein Leben noch einmal leben und dieses zweite Leben aufgrund der Erfahrungen im ersten nach Belieben anders gestalten. Jetzt kommen Kürmann Zweifel am Sinn einer bloss «nonkonformistischen» Intellektuellenexistenz, er beklagt «die Ohnmacht der Intelligenz» einem Staat gegenüber, der zur Gewalt greift und auch vor dem Terror nicht zurückschreckt: «Die Quittung dafür, dass unsereiner nie gehandelt hat.» Schliesslich wagt er den Sprung: «Ich erkläre meinen Eintritt in die Partei.» Und «die» Partei, das war damals ein Vorposten des Sowjetkommunismus.

Dazu wäre zunächst zu sagen, dass Frischs Dramatisierung des Nonkonformismus der Wirklichkeit insofern nicht entsprach, als kaum einer der Stigmatisierten Sympathien für den Kommunismus, gar den sowjetischen, hegte oder erwog, einer kommunistischen Partei beizutreten, geschweige denn, nach Moskau zu emigrieren. Es war vielmehr so, dass die Nonkonformisten sich als wertkonservative Demokraten verstanden, die durch die «Mehrheitstyrannei» den Fortbestand der Demokratie gefährdet sahen.

Aber zurück zu Frischs «Biografie». Der Spielleiter auf der Bühne, auf der das Stück geprobt wird und auf der Kürmann sein zweites Leben entwerfen kann, macht sich die Argumente des Establishments zu eigen und kritisiert Kürmanns Verhalten im zweiten Leben als ein wesentlich bloss ichbezogenes, dem es weniger um die Sache als vielmehr um die eigene Identität geht: «Sie stehen unter dem Verdacht, dass Sie die Welt verändern wollen - niemand wird auf den Verdacht kommen, dass Sie bloss Ihre eigene Biografie ändern möchten.»

Frisch hat in diesem «Spiel» die Problematik des Nonkonformismus oder dessen, was man damals so zu nennen pflegte, auf originell-dichterische Weise zu thematisieren versucht. Aber das Resultat ist unbefriedigend. Was im Stück fehlt, ist eine Erörterung der doch gerade für einen Intellektuellen entscheidenden Frage nach der Gültigkeit der politischen Theorie und Philosophie der beiden sich bekämpfenden Lager und damit verbunden die Frage, inwieweit die beiden in ihrer Praxis ihrer lauthals verkündeten Philosophie denn auch treu blieben. Kürmann lebt im Westen und ist ein Demokrat, der von der erlebten Praxis seiner Demokratie zutiefst enttäuscht ist und der seine bürgerliche Gesellschaft als zutiefst verlogen empfindet.

Die Frage, wie es zu dieser Degenerierung kommen konnte, ob es im System als solchem lag oder etwa daran, dass die undemokratisch strukturierte kapitalistische Wirtschaft mit ihren Profitinteressen und ihrer Zementierung des Privateigentums an den Produktionsmitteln immer mehr auch das politische Geschehen dominierte, diese Frage wird ebenso wenig erörtert wie die nach der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Theorie und Praxis im Osten. Es bleibt bei Kürmanns Ablehnung der These, dass der Zweck die Mittel heilige, aber mit seiner Entscheidung, in die Partei einzutreten, verdrängt er diese Bedenken. Der einzige Grund, der Kürmann schliesslich bewegt, das Lager zu wechseln, ist die Überzeugung, dass man im Osten für eine bessere Welt kämpfe.

«Es hülfe nichts»

Die moralische Problematik von Kürmanns Nonkonformismus bleibt letztlich ebenso ungelöst wie die politische. Der «verirrte Bürger» und Künstler Tonio Kröger in Thomas Manns gleichnamiger Novelle: «Noch einmal anfangen? Aber es hülfe nichts. Es würde wieder so werden. Alles würde wieder so werden, wie es gekommen ist. Denn etliche gehen mit Notwendigkeit in die Irre, weil es einen rechten Weg für sie überhaupt nicht gibt.» Das konnte vielleicht noch 1913 geschrieben werden, vor den beiden Weltkriegen, vor Stalinismus, Faschismus, Nationalsozialismus. Das blutigste Jahrhundert der bisherigen Menschheitsgeschichte lässt eine solche Entschuldigung nicht mehr zu. Es zwang unerbittlich zu einer Entscheidung, und sei es einer für den Weg, den die Nonkonformisten gewählt -hatten.

Wie damals gerade die Sensibelsten mit der Kürmann-Problematik gerungen haben, dafür ist Walter Benjamin ein tragisches Beispiel. Kürmanns politische Abstinenz erinnert an diejenige Walter Benjamins, wie sie vor allem vor, während und nach seiner Moskau-Reise in den Jahren 1926 und 1927 in seinem «Moskauer Tagebuch» und seinen Briefen offenbar wurde. Falls es ihm nicht glücke, mit einem Verlag in eine engere Beziehung zu treten - für Benjamin damals ein Existenzproblem -, schrieb er, «so werde ich meine Beschäftigung mit marxistischer Politik wahrscheinlich beschleunigen und - mit der Aussicht in absehbarer Zeit vorübergehend nach Moskau zu kommen - in die Partei eintreten. Diesen Schritt werde ich über kurz oder lang auf alle Fälle tun.» Was er dann, nach seinen ernüchternden Erfahrungen in Moskau, die er vorsichtig als «zwiespältig» bezeichnete, freilich nicht getan hat.

Es sei völlig unabsehbar, «was in Russland zunächst herauskommen wird. Vielleicht eine wirkliche sozialis-tische Gemeinschaft, vielleicht etwas ganz anderes». Und auch er ist durch eine Verzweiflung über die Degenerierung der bürgerlichen Gesellschaft, wie er in der «Einbahnstrasse» schreibt, «die aus Dummheit und Feigheit zusammengeschweisste Lebensart des deutschen Bürgers», in die Nähe «der» Partei getrieben worden, hat sich aber, wie zunächst Kürmann, nicht entschliessen können, ihr beizutreten. Diese Unentschlossenheit war wesentlich bestimmt durch die Erkenntnis, dass man auch im anderen Lager unweigerlich in die Rolle eines Nonkonformisten gedrängt würde und man «drüben» mit derart Stigmatisierten kurzen Prozess zu machen pflegte, und zwar nicht nur verbal.

Heute stellt sich uns die Frage, ob es überhaupt noch Sinn macht, sich mit dieser Problematik des Nonkonformismus in der Zeit des Kalten Krieges auseinanderzusetzen, in einer Zeit, in der das «Anything goes» von Wissenschaften und Technik auch das politische Bewusstsein oder vielmehr Unbewusstsein erobert hat und das Leitwort der Massen «panem et circenses», Brot und Spiele, lautet. Aber man täusche sich nicht: Die Atombombenproliferation, die Möglichkeit, Massenvernichtungswaffen in Medikamentenform herzustellen, das Menetekel des Klimawandels, die neue Weltunordnung mit ihrem Wandel der Machtverhältnisse und so manches mehr lassen des kritischen Denkens noch Fähige erkennen, dass wir auf einem Vulkan tanzen.

Der 1919 geborene Philosoph und Publizist Arnold Künzli, ein der Aufklärung verpflichteter Verfechter des demokratischen Sozialismus, zählte in den sechziger Jahren zu einer Gruppe von schweizerischen Intellektuellen, die sich mit dem Vorwurf des «Nonkonformismus» konfrontiert sah. Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Peter Bichsel, Walter Matthias Diggelmann, Arnold Künzli und andere kritisierten in der geistigen Enge des Kalten Kriegs - unter anderem in der -«Weltwoche» - tabuisierte Säulen des helvetischen Selbstverständnisses wie etwa den Antikommunismus oder die Armee. Urs Hafner