Fathi Triki: «Ich denke, also zerstöre ich!»

Nr. 18 –

Was die Revolution in Tunesien bewirkt hat und warum das zerstörerische Potenzial der westlichen Gesellschaft beträchtlich ist: Der tunesische Philosoph Fathi Triki im Gespräch über falsche Wahrnehmungen des Islam und die Modernität der arabischen Philosophie.

Der Philosoph Fathi Triki in Tunis: «Wenn die Nomaden einen ‹Ankommenden› mit aller Gastfreundschaft aufnehmen, dann fragen sie weder nach seinem Namen noch, woher er kommt und wohin er geht, noch, wie lange er bleiben wird. Sie nehmen ihn auf als radikal ‹Anderen›.»

WOZ: Fathi Triki, vor sechs Jahren brach der Arabische Frühling aus. Ausser in Tunesien sind die Aufstände brutal unterdrückt worden. Was war in Tunesien anders?
Fathi Triki: Es gibt drei Faktoren, die den Weg Tunesiens zur Demokratie erklären. Zunächst die Stärke und Widerstandsfähigkeit der Zivilgesellschaft: Unter den Präsidenten Habib Bourguiba und Zine al-Abidine Ben Ali bestand die Regierung aus einer einzigen Partei. Diese erzeugte dialektisch als Gegenmacht eine starke Zivilgesellschaft mit NGOs und einer Gewerkschaft, die sich immer wieder mit den wechselnden Gegnern des Regimes – Kommunisten, Sozialisten, Arabisten und Islamisten – zusammenschloss. Trotz mehrerer Versuche hat es das Ben-Ali-Regime nie ganz geschafft, die Zivilgesellschaft zu brechen, die wiederum zusammen mit der Gewerkschaft den Arabischen Frühling organisierte.

Und die weiteren Faktoren?
Ein zweiter Faktor ist die Bildung. Nach der Unabhängigkeit 1956 hat das Regime von Bourguiba viel in Bildung investiert, was zu einer kultivierten und gebildeten Jugend geführt hat – aber auch zu einer wachsenden Arbeitslosigkeit von Diplomierten. Diese Arbeitslosen haben bei der tunesischen Revolution eine Schlüsselrolle gespielt. Als Drittes kommt die allgemeine Ausrichtung des Landes seit der Unabhängigkeit hinzu. Mit Ausnahme des Zeitraums zwischen 1963 und 1969, in dem versucht wurde, den Sozialismus aufzubauen, hat das tunesische Regime immer auf den Kapitalismus gesetzt. Dies führte zu einer ungleichen Verteilung des nationalen Reichtums und zu ungleicher Entwicklung der Regionen – was wiederum zu Aufständen führte, die sowohl von Bourguiba als auch von Ben Ali brutal niedergeschlagen wurden.

Jedes Mal war die junge Generation massgeblich beteiligt. Ist Tunesiens Frühling vergleichbar mit dem Pariser Mai von 1968?
Nein. Wahr ist, dass junge Tunesier zuerst an den Universitäten eine wichtige Rolle gespielt hatten, bevor sie diese geschlossenen Räume verliessen und sich auf die Strasse wagten – was einem politischen Tabubruch gleichkam. Die Strasse war der Ort, an dem die Freude explodierte: überall Musik, Graffiti, Diskussionen – ein wenig wie 1968. Der Unterschied ist, dass der Mai 1968 bei Revolte und Protest stehen blieb, während die tunesischen Revolutionäre ihre Vorstellungen von Freiheit, freier Meinungsäusserung, Gewissens- und Glaubensfreiheit sofort umgesetzt sehen wollten – und nicht erst in dreissig Jahren mit einem Marsch durch die Institutionen.

Manche glauben, auch der tunesische Frühling sei mehr Revolte als Revolution gewesen.
Es gibt zwei Theorien, die die Ereignisse in Tunesien auf eine Revolte reduzieren wollen: Die Verfechter des Interventionismus behaupten, die US-Amerikaner hätten über Facebook und ihre Geheimdienste einen Regimewechsel herbeiführen wollen. Mit deren Hilfe hätten Elemente der tunesischen Präsidentengarde, der Polizei und der Armee ein Komplott eingeleitet. Diese These halte ich für falsch – auch wenn die Amerikaner durchaus den Wunsch hatten, die Revolution umzulenken. Die zweite These ist die einiger tunesischer Linker, die nach wie vor in einem marxistisch-leninistischen Rahmen denken, wonach es nur dort Revolution geben kann, wo auch eine Theorie dahintersteht. Auch das halte ich für völlig falsch. Für mich ist die tunesische Revolution eines jener neueren «Grossereignisse», die die geopolitische Situation ins Wanken gebracht haben. Die Kriege in Teilen der arabischen Welt, die verschiedenen Manifestationen sozialer und politischer Gewalt, die sogenannte Flüchtlingskrise sowie der Terrorismus sind mehr oder weniger direkt oder indirekt Folgen dieser «Grossereignisse».

Also war der tunesische Frühling eine Revolution?
Die Revolution begann bereits 2008 mit dem Bergarbeiterstreik in der Gafsaregion, der sich trotz Repressionen ausbreiten und zum ersten Mal konsolidieren konnte. Damals konnten grosse Teile der lokalen Bevölkerung mobilisiert werden. Was bis anhin undenkbar gewesen war, trat nun ein: Ein sechs Monate langer Streik betraf alle Regionen im Süden und Südwesten Tunesiens.

Welche Rolle spielten die Gewerkschaften, die von Ben Ali doch streng überwacht wurden?
Sie waren wohl oder übel gezwungen, aus ihrer forcierten Zurückhaltung zu kommen und die Arbeiter, Bergleute und arbeitslosen Hochschulabsolventen zu begleiten. Dann kamen Anwälte aus Tunis hinzu, um die Rechte der Verhafteten zu verteidigen. Ben Ali versuchte alles, um die sich ausbreitende Bewegung zu unterdrücken – bis sich schliesslich am 17. Dezember 2010 der junge Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in Brand setzte. Das war das Fanal. Der schwierigste Moment für das Regime war die Demonstration am 12. Januar 2011 in der Stadt Sfax, dem Zentrum der tunesischen Industrie. Nicht nur Arbeiter, Bauern und Arbeitslose forderten das Regime heraus, sondern nun auch die nationale Bourgeoisie, die sich gegen die Ben Ali stützende Wirtschaftsclique wehrte. Zum ersten Mal in der Geschichte Tunesiens gingen Firmenchefs und Beamte überhaupt auf die Strasse. Ben Ali wurde schnell klar, dass für ihn die Stunde geschlagen hatte.

Hatten Sie Angst, dass die Revolution durch den Einfluss der islamistischen Ennahdapartei abgewürgt würde?
Natürlich hatten wir Angst, dass der politische Islam an Macht gewänne und es einen direkten Einfluss auf die Verfassung gäbe, um die Menschen zu den Grundsätzen der Scharia zu führen. Deshalb schlug ich vor, die alte Verfassung zu überarbeiten: hin zu mehr Freiheit. Die revolutionäre Bewegung hielt davon nicht viel, für sie war die Revolution mit dem Ende des alten Systems vorbei. So begannen wir, ein Übergangsparlament einzurichten, dessen Mitglied ich war, und trafen Vorbereitungen für die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung.

Die Ennahdapartei war von Anfang an Teil des Prozesses?
Ja, das Übergangsparlament wollte alle politischen Parteien berücksichtigen. Es war ziemlich repräsentativ für die tunesische Gesellschaft, ich erlebte ausserordentliche Debatten.

Wird sich die Ennahdapartei längerfristig normalisieren wie die christlichen Parteien im Europa des frühen 19. Jahrhunderts, die damals auch sehr fundamentalistisch daherkamen?
Als ihr Anführer Rachid al-Ghannouchi aus dem Exil nach Tunesien zurückkam, gab es zwei Reaktionen: Die einen behandelten ihn als Antinationalisten, weil er ein Kalifat und eine internationale muslimische Gemeinschaft begründen wolle. Die anderen waren mit Recht der Ansicht, Demokratie sei ein runder Tisch, wo alles innerhalb eines demokratischen Rahmens diskutiert werde. Letztere obsiegten zum Glück, weil die Menschen in dieser revolutionären Phase jede Form der Ausgrenzung vermeiden wollten.

Neokonservative Kreise führen an, dass wir in einer Art «Kampf der Kulturen» zwischen Okzident und Orient seien. Was halten Sie davon?
Diese These des US-Politologen Samuel Huntington ist völlig essenzialistisch – als gäbe es auf der einen Seite einen «Orient» und auf der anderen einen «Okzident», als zwei separate Identitäten, die einander bekämpfen und auf zwei unterschiedlichen Prinzipien fussen: hier Glauben, dort Wissen. Dies ist eine völlig falsche Sicht auf die Geschichte. Und gerade jetzt gibt es Bürgerkriege in arabischen Ländern, wo Muslime gegen Muslime kämpfen. Bereits die «abendländische» Idee, dass Europa auf dem Wissen der griechischen Antike gründe, ist recht abstrakt – so als ob die Griechen nicht auch ihrerseits von den Iranern, Indern und asiatischen Kulturen beeinflusst und also auch ein Teil des «Orients» wären. Historisch hatten wir also immer schon Phänomene einer übergreifenden Transkulturalität. Heute können wir die arabische Welt nicht von dem trennen, was wir vormals «Dritte Welt» nannten. Wir erleben das Gleiche: Unterdrückung, Ausbeutung, den früheren Kolonialismus und heute Neokolonialismus. Wohl gab es politische Unabhängigkeit, aber keine in wirtschaftlichen Belangen. Ist es wirklich der Glaube oder der Islam, der diese Länder daran hindert vorwärtszukommen? Ich glaube nicht, dass der Islam gegen die Moderne spricht. Dies behauptet bloss eine bestimmte, westliche Interpretation des Islam.

Sie gehen also mit dem Orientalisten Maxime Rodinson einig, der eine ähnliche Schubkraft im Islam ausmacht wie Max Weber im Protestantismus für die Entwicklung des Kapitalismus?
Genau, und ich präzisiere, dass «Orient» wie «Okzident» Mythen sind. Es gibt mehrere «Oriente», wie es verschiedene Arten des Islam, des Islamismus gibt. Der Wahhabismus ist eine besondere, ja falsche, weil verkürzende Auslegung, was den Menschen und die Rolle des Individuums betrifft. Denn der Islam fördert diese Rolle gerade. Das ist auch der Mangel in der Theorie der Muslimbrüder, die nicht an den Einzelnen, sondern an die Gemeinschaft glauben. Es ist Zeit, dass der Westen seine Vorstellung des Islam und der muslimischen Länder revidiert. Sowohl in Algerien und Marokko, wo der Islam ziemlich bestimmend ist, als auch in Tunesien, wo er sehr moderat auftritt, gibt es eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Und nicht zu vergessen, dass das sehr fromme Indonesien wirtschaftlich hoch entwickelt ist. Hingegen wurde der Irak, einst ein säkularer Staat, vom US-Imperialismus völlig zerstört.

Naomi Klein betont mit ihrer These von der «Schocktherapie», dass die USA ihre Politik der «verbrannten Erde» jedes Mal benutzten, um Neoliberalismus und also Privatisierung einzuführen – früher in Lateinamerika, jetzt in den arabischen Ländern.
Gewiss, aber die Sache ist philosophisch noch komplexer und dauert schon länger an. Als René Descartes mit dem Satz «Ich denke, also bin ich» die Moderne vorbereitete, gab es nicht zufällig und zeitgleich diese Politik der «verbrannten Erde» in Amerika. Ich spreche von den Massakern an den Indianern. Die westliche Moderne ist nicht nur die helle Aufklärung! Sie hat nicht nur ihre rationale, sondern auch ihre zerstörerische Seite, und sie hängt philosophisch wesentlich von einer gewissen Vergötzung des Bewusstseins und der Vorherrschaft des Ich ab. Diese Politik der verbrannten Erde, die die Cowboys gegen die wirklichen Eigentümer des Landes von Amerika verfolgten, wiederholt sich heute im Nahen Osten, wobei ihre Modernität sich auf den Satz bringen lässt: «Ich denke, also zerstöre ich!» Es ist letztlich die Logik des Liberalismus, aber dessen Freiheit meint nur die des Handels und des Kapitals, nicht die des Menschen. In dieser Perspektive war der Irak kein Land, das es vor seinem Diktator zu retten galt, sondern eine Quelle des Öls und des Geldes. Wir haben es hier mit einer «primären Akkumulation» zu tun, mit Karl Marx gesprochen. Statt freien Handels Annexion durch Destruktion. Der gesamte Nahe Osten ist heute instabil, und der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist sein Grundmuster.

Sie kritisieren Israel, weil es Palästina nicht anerkennen will?
Ja. Israel will nicht nur den Staat nicht anerkennen, sondern überhaupt das palästinensische Volk als solches, wie übrigens einige europäische Intellektuelle auch. Der frühe Michel Foucault sagte oft, dass die Palästinenser keine Schwierigkeiten hätten, in den benachbarten arabischen Ländern aufgenommen zu werden.

Sie spielen auf den berühmten Satz des Zionismus an: «Ein Volk ohne Land trifft auf ein Land ohne Volk»?
Jean-Paul Sartre befürwortete diesen Satz auch mehr oder weniger. Das war der fatale Fehler, der so lange anhalten wird, wie es in Palästina zu keiner wirklichen Lösung kommt. Falls Palästina und seine Bevölkerung in einer fairen und gerechten Weise anerkannt werden, wird Israel von allen arabischen Ländern akzeptiert werden. Und nicht zu vergessen: Am Gipfel von Taba im Jahr 2001 bekräftigten die arabischen Länder ja die Anerkennung Israels. Donald Trump hat jetzt das Problem nochmals verschärft durch seine Weigerung, die Zweistaatenlösung als einzig mögliche anzuerkennen. Wie auch immer, Kapitalismus und Imperialismus leben vom Krieg, eine friedliche Lösung wird unter diesen Bedingungen sehr schwierig sein. Alles hängt vom internationalen Willen ab, Druck auf Israel und seine illegale Besiedlung der Westbank zu machen.

Ihrer Meinung nach waren Sartre und Foucault unfähig, das Problem des Nahen Ostens in seiner ganzen Komplexität zu verstehen? Hannah Arendt und Walter Benjamin waren dagegen sehr skeptisch gegenüber dem Zionismus.
Ich verstehe, dass Sartre hier nicht wirklich neutral sein konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die ganze intellektuelle Gemeinschaft, ob links oder rechts, traumatisiert und musste angesichts des unglaublichen Leids und Schicksals, das der jüdischen Gemeinschaft widerfahren war, erkennen, dass der Mensch nicht so menschlich ist, wie man dachte. Dies ist auch einer der Gründe, warum Sartre den Existenzialismus zum Humanismus erklären musste. Sartre war so sehr ein Gefangener seines Denkens und der Philosophie des Bewusstseins, dass er den Anderen nicht denken konnte. Daher sein berühmter Satz: «Die Hölle, das sind die andern.» Im Gegensatz dazu entstammten Benjamin und Arendt einer anderen Kultur, denn sie waren Opfer. Und in der Regel öffnen sich Intellektuelle, die in ihrem Leben zu Opfern wurden, hin zu einem Denken der Andersheit. Benjamin und Arendt haben für ein «Zusammenleben» geworben, das in der Folge nicht weitergedacht, sondern während des Kalten Kriegs durch den politischen Begriff der friedlichen Koexistenz ersetzt wurde. Erst mit dem Fall der Berliner Mauer taucht das transkulturelle Konzept des Zusammenlebens wieder auf, etwa bei Jacques Derrida.

Derrida wuchs in Algerien auf, damals noch eine französische Kolonie. Hat ihn dieser Hintergrund zu seiner Philosophie des Anderen geführt?
Derrida kommt aus einer jüdisch-sephardischen Familie, erlebte eine doppelte Unterdrückung: durch den französischen Kolonialismus und den Antisemitismus. Er wurde vor Ort von französischen Schulen ausgeschlossen, aber von einer muslimischen Schule aufgenommen. Er studierte so mit der anderen Kultur. Dies hat ihn geprägt, er weiss also sehr genau, worüber er redet, wenn er vom Anderen spricht.

Foucault ist ein weiteres Beispiel: Er wurde völlig im Rahmen westlichen Denkens sozialisiert. Zu einem engagierten Intellektuellen wurde er erst nach seinem ersten Aufenthalt in Tunesien 1966. Er traf dort auf eine andere Kultur, auf eine andere Art und Weise, die Welt zu sehen. Nach zwei Jahren kehrte er nach Frankreich zurück mit dem Willen, gegen alle Formen von Verwahrung und Ausschluss zu kämpfen. Foucault ändert als Folge dieser Begegnung seine politische Praxis und sein Denken. Seine Philosophie wird viel praxisbezogener und geht auf eine Ethik der Existenz hinaus. Es ist die Begegnung mit einer anderen Kultur, die dem Menschen sein wirkliches Leben gibt!

Was könnte der Beitrag der arabischen Kultur und Philosophie für eine gelingende transkulturelle Begegnung im Sinne des «Zusammenlebens in Würde» sein, wie Sie es entwerfen?
Die arabische Philosophie hat das «Zusammenleben» als eine subtile Ehe zwischen Theorie und Praxis, zwischen Vernunft und Affekt gedacht. Der Wissenschaftshistoriker Alexandre Koyré hat mit Blick auf die arabische Philosophie gesagt, sie sei es gewesen, die die «Einheit des Geistes» gedacht habe, die notwendige Bedingung von Menschlichkeit und Universalität. In meiner Philosophie denke ich sie als «Vernünftigkeit», wie es die grossen arabischen Philosophen wie al-Farabi im 10. und Ibn Chaldun im 14. Jahrhundert vorgezeichnet haben. Al-Farabi betont ganz explizit deren soziale Dimension. Sie ist nach ihm ein Ensemble theoretischer Kriterien und praktischer Dispositionen.

Al-Farabi und Ibn Chaldun wären also die Ersten gewesen, die das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis überdacht hätten – viel früher also als etwa Jürgen Habermas, der genau dies als Antwort auf die globale «Kolonialisierung der Lebenswelt» getan hat?
Al-Farabi war in der Tat der erste Philosoph, der die theoretische mit der praktischen Vernunft verband. Die westliche Philosophie ist in diesem Fall die Tochter der arabischen Philosophie und diese wiederum die der griechischen. Die Blüte der arabischen und islamischen Zivilisation hatte den Effekt, dem lateinischen Westen die Sorge um Universalität und Einheit des Geistes zu vermitteln. Deshalb ist es zu bedauern, dass die westliche Philosophie sich nicht mehr der arabischen und islamischen Denker wie al-Kindi, al-Farabi, Avicenna, Averroës annimmt. Deren Philosophie war entscheidend für die Renaissance, den Klassizismus und die Aufklärung. Ihnen verdanke ich die Idee eines «Zusammenlebens in Würde».

Sie verstehen diese Idee als Antwort auf die Globalisierung, die ja eigentlich eine Globalisierung der Waren auf Kosten einer Weltgesellschaft ist.
Die Philosophie des Zusammenlebens fusst auf zwei Einsichten: Die erste bestärkt die Bedeutung der Vielfalt als Antwort auf die Globalisierung, ganz im Gegensatz zur traditionellen Philosophie, deren Fokus immer das «Eine» und «Identität» waren. Die zweite betont das Individuum als solches und seine Freiheit, und zwar radikal als die des Individuums und nicht nur als die des Bürgers verstanden. Ohne diese gibt es kein Zusammenleben. Ich bringe diese Philosophie der Vielfalt in der Idee eines Zusammenlebens in Würde auf den Punkt. Sie beruht auf dem Konzept der Transkulturalität, die in ihrer gelungenen Version das Resultat einer gastfreundschaftlichen Begegnung ist. Transkulturalität als aufgeklärte Disposition verhindert jegliche Stereotype, weil sie andere Kulturen entdecken will und diese nicht als identitäre, also abgeschlossene, sondern als sich wechselseitig beeinflussende und bedingende Grössen begreift.

Kommunitaristen wie der US-Philosoph Michael Walzer behaupten dagegen, dass ein jeder Gefangener seines eigenen Horizonts sei, wir also nicht über den Rand unserer kulturellen Gemeinschaft hinaussehen könnten. Von da ist es nicht weit zu den Worten Trumps: «Amerika zuerst!»
Der amerikanische Kommunitarismus ist ganz klar der Widerhall internationaler Konflikte. Die Gewalt setzt sich fort, um die neue wirtschaftliche und politische Ordnung zu verewigen. So ist es nicht verwunderlich, dass eine neue Kommunikation aufkommt, eine des Krieges, basierend auf der angeblich unmöglichen Verständigung zwischen den Kulturen. Diese Ideologen – weniger Philosophen – fördern identitäre Lösungen, indem sie Differenzen unterdrücken, während sie gleichzeitig mit allen Mitteln versuchen, kulturelle Einheit und sozialen Zusammenhalt zu bekräftigen, um den Preis von Rassismus. Ich spreche nicht mal vom «Melting Pot», der für mich ein ideologischer Versuch war, die Fusion von koexistierenden Kulturen zu erhalten, einen «Block» ohne Differenzen im Namen einer entsprechenden einsinnigen Zivilität. Ich spreche vielmehr von diesem neuen Trend des Neoliberalismus, dieser bizarren Philosophie, die den Totalitarismus auf Kosten sozialer Gerechtigkeit verhindern will. Einige Kommunitaristen wie Walzer gehen deshalb so weit, dass sie mit ihrer Theorie eines gerechten Präventivkriegs Massaker legitimieren.

Natürlich ist die Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen an sich interessant. In ihr liegt der Wunsch, eine Form der Würde des Menschen zu erhalten. Die Liberalen betonen die Idee der Zivilität von gemeinsamen Werten und Verpflichtungen, während Kommunitaristen Anerkennung und Authentizität stark machen. Ich persönlich denke, der Begriff der Transkulturalität ist jedoch in globalen Zeiten vernünftiger. Nur er kann die unterschiedlichsten kulturellen Horizonte vermitteln, und nur er hat überhaupt diesen Willen dazu.

Aber wie kommt in dieser Philosophie des Zusammenlebens der Andere in den Blick? Die bisherige Philosophie kam doch nie über das Ich hinaus, das den Anderen nur dachte.
Es stimmt, es ist unmöglich, das cartesianische Ich loszuwerden, wenn ich den Anderen nur denke. Die Lösung ist die Praxis selber: Radikale Anerkennung des Anderen meint die Begegnung mit dem konkret Anderen. Es ist eine Anstrengung, die das Denken überschreitet und gleichzeitig dessen Ergebnis ist. Ein Beispiel: Wenn die Nomaden einen «Ankommenden», wie Derrida sagen würde, mit aller Gastfreundschaft aufnehmen, dann fragen sie weder nach seinem Namen noch, woher er kommt und wohin er geht, noch, wie lange er bleiben wird. Sie nehmen ihn auf als radikal «Anderen».

Aber gibt es für diesen Fall so etwas wie Regeln?
Ja, und die erste Regel ist, das Anderssein des Anderen zu respektieren. Wer Gastfreundschaft so ausspricht, bekräftigt die Würde des Ankommenden wie seine eigene, eigentlich die Würde des Menschen an sich. Aber drei Tage später muss er seinen Namen angeben, woher er kommt und wohin er geht – falls er bleiben will. Dieser Gedanke ist grundlegend für die Beziehung zwischen Menschen und Kulturen, das ist der Kern der Transkulturalität, die sich jenseits herrschaftlicher Beziehungen ansiedelt: eine Erfahrung oder Begegnung mit dem Anderen, die, weil sie symmetrisch erfahren wird, den Weg ebnet, gemeinsam universelle Werte ins Visier zu nehmen. Transkulturalität meint eine kritische Arbeit an jeder Kultur, um über sie hinaus auf gemeinsame Werte der Menschheit zu stossen, stets erneuerbar und stets im Fluss. Dieses wechselseitig beglaubigte Zusammenleben geht über soziale Gerechtigkeit hinaus, meint die mögliche Verständigung zwischen den Menschen. Das ist wahrhaft geteilter Humanismus, eine echte Konvivialität.

Wie ist das möglich in diesen Zeiten, die von machiavellistischem Machtstreben durchdrungen sind?
Ihre Frage ist kein Einwand gegen Philosophie und Vernunft an sich. Ganz im Gegenteil, sie ist ein Einwand gegen diese Zeiten! Philosophisch ist es notwendig, zwischen der Vernunft und ihren jeweiligen Ausprägungen zu unterscheiden. Westliche Rationalität wurde zum Kalkül, zum Instrument der Industrie und kann daher als Folge ihrer Geschichte zu einem Werkzeug der Zerstörung werden. Diese Kultur wurde nihilistisch, das sahen bereits Nietzsche und Heidegger. Wir müssen eine andere Vernunft zur Geltung bringen, eben die des Transkulturellen. Zwar gibt es schon bei Jürgen Habermas ein kosmopolitisches Streben, aber bei ihm bleibt der dialogische Raum westlich geprägt. Echtes «kommunikatives Handeln» auf der Höhe unserer globalen Gesellschaft muss dagegen durch die Transkulturalität hindurchgegangen sein, also alle Kulturen durchquert haben. Hier liegt die eigentliche Herausforderung.

Roland Merk (50) lebt als Schriftsteller in Basel und Paris. Zuletzt erschienen: «Arabesken der Revolution. Zornige Tage in Tunis und Kairo …» (edition 8, 2011) und, mit Stéphane Hessel, «An die Empörten dieser Erde! Vom Protest zum Handeln» (Aufbau Verlag, 2012).

Transkultureller Denker

Der 69-jährige Philosoph Fathi Triki ist in der tunesischen Hafenstadt Sfax geboren und hat an der Pariser Sorbonne unter anderem bei Michel Foucault studiert. Er ist emeritierter Professor der Philosophie an der Universität Tunis und seit 1997 Inhaber des Unesco-Lehrstuhls für Philosophie in der arabischen Welt. 2011 gehörte er der Verfassunggebenden Versammlung Tunesiens an. Von Fathi Triki ist zuletzt auf Deutsch erschienen: «Demokratische Ethik und Politik im Islam. Arabische Studien zur transkulturellen Philosophie des Zusammenlebens» (Velbrück Verlag, 2011).