Übungsfirmen: Wir Ovomaltinebüchsen
Stellenlose Kaufleute verkaufen nicht existierende Produkte an stellensuchende Kaufleute in anderen virtuellen Firmen - ein Tagebuchblatt aus der Colorful Life AG.
Es war kurz nach halb zehn, als die Blumenstein doch noch aufgetaucht ist. Kommt rein und steuert wie gewöhnlich ohne zu grüssen ihr Pult an. Ich beachte sie hinter meiner angefangenen Rechnung auch nur zufälligerweise, weil ich aus den Augenwinkeln sehe, wie der Chef ihr in den Weg tritt, sie mitten im Grossraumbüro stellt und mit halblauter Stimme fragt, warum sie erst jetzt komme. Eigentlich nicht einmal unfreundlich.
Die Blumenstein schweigt eine Sekunde, gibt sich dann einen Ruck und sagt so laut, dass hinter den Bildschirmen reihenweise Köpfe auftauchen: Das hier bringe einfach nichts. Das sei doch Schwachsinn, was man hier tue. Eine Verarschung für jeden erwachsenen Menschen. Dann, lauter: Übungsfirma, wenn sie das nur schon höre. Was denn hier überhaupt geübt werde. Man warte mit anderen Arbeitslosen darauf, ausgesteuert und auf die Fürsorge - pardon - auf die Sozialhilfe geschickt zu werden. Was hier erzählt werde, sei Quatsch von A bis Z. Sie habe genug bis dahin! Dabei hat sie die rechte Hand vors Gesicht gehalten. Als sie sich gleich darauf ihre langen Haare aus dem Gesicht streicht, sehe ich die Augen hinter der Brille. Die muss schon eine ziemliche Zeit lang draussen herumgeheult haben, statt sich wie jeden Morgen an ihr Pult zu setzen, zu schweigen und bis zur Kaffeepause eine ruhige Kugel zu schieben.
Auch der Chef hat ihr ins Gesicht geschaut. Ihm war das offenbar peinlich, fast geflüstert hat er, sie solle sich beruhigen, er verstehe ihre schwierige Situation als Erwerbslose durchaus. Aber für die anderen hier sei es auch nicht einfach, die seien ja in der gleichen Situation. Und zu seinem Auftrag gehöre es halt nun einmal, zu kontrollieren, dass man hier pünktlich zur Arbeit erscheine.
Arbeit? Nun schrie die Blumenstein tatsächlich. Dass sie nicht lache! Verkauf, Einkauf, Buchhaltung, alles sei doch hier Theater: Produkte, die es nicht gibt; Rechnungen, die bloss virtuell sind; Löhne, mit denen man nichts kaufen kann, nichts als nicht existierenden Schrott aus anderen solchen Theatern, in denen die gleichen Trottel sitzen wie die da. Damit zeigte sie unbestimmt in unsere Richtung. Einfach durchgeknallt sei das! Dabei sei sie nicht durchgeknallt, sondern arbeitslos, sie brauche eine richtige Arbeit, sie brauche einen ganzen Lohn, sonst ... Dann hat sie losgeheult, dass es sie geschüttelt hat, und der Chef hat sie ziemlich ungeschickt am Ellbogen gefasst und nach hinten ins Geschäftsleitungsbüro geführt. Rindlisbacher hat hinter seinem Bildschirm gesagt: Läuft das jetzt noch unter Krisenmanagement oder schon unter sexueller Belästigung am Arbeitsplatz? Und dann hat er eben beigefügt: Voll krass, das.
Nun ja. Und ich habe also über die halbfertige Rechnung dieses Tagebuchblatt auf den Bildschirm geklickt. Wenn ich derart aus der Konzentration gerissen werde, kann ich bis zur Kaffeepause geradeso gut ein bisschen irgendwas vor mich hin tippen. Tun als ob passt sowieso nicht schlecht hierher.
Denn in einem Punkt hat die Blumenstein natürlich schon Recht: Ob man in dieser Firma die Rechnung heute oder morgen oder gar nicht schreibt, ist auch dem Chef wurst. Zwar tut er so, als ob das anders wäre. Aber man merkt ja sofort, ob einer nervös wird wie, sagen wir, ein gestresster Abteilungsleiter oder eben wie ein gelangweilter Korporal. Und der hier wird nur nervös wie ein Korporal, weil wir hier ja auch nur im Manöver sind und nicht im Krieg. Und nur im Manöver sind wir, weil wir alle arbeitslos sind und uns bloss bereitzuhalten haben für den richtigen Arbeitsmarkt, falls dort einer plötzlich nach uns pfeifen sollte. Bloss pfeift dort so schnell keiner nach uns. Es gibt Bessere und Billigere. Und vor allem gibt es viel zu viel solche, wie wir hier sind, verunsichert bis ins Mark, Verlierertypen, die sich Mühe geben, damit man nicht merken soll, dass sie Mühe haben. Und auch ich werde heute meine nächste sinnlose Bewerbung schreiben.
Auf der anderen Seite hat die Blumenstein trotz ihrer bemerkenswerten Beine einfach einen Flick weg. Herumbrüllen und herumheulen ist unprofessionell, das hätte ich ihr gratis gesagt, wenn sie mich gefragt hätte. Und was sie gegen unsere Colorful Life AG gesagt hat ... So geht das einfach nicht.
Ich sage, was der Chef sagt: Eine Übungsfirma bringt genau so viel, wie ich selbst daraus mache. Das ist die Hauptregel. Arbeitslose, die nur hierherkommen, weil sie von ihren Beratungsfritzen oder -fritzinnen im RAV geschickt worden sind, profitieren nichts. Das ist die zweite Hauptregel. Der Impuls muss von innen kommen. Die Einsicht, dass man sich bemühen muss, so zu werden, dass der Arbeitsmarkt einen wieder will. Man muss sich interessieren, muss sich aktiv beteiligen, sich in diese virtuelle kaufmännische Welt hier hineindenken. Dann ist es, wie wenn man tatsächlich arbeiten würde. Wer sieht denn in einem richtigen Geschäft die Waren, für die er die Rechnungen schreibt, mit eigenen Augen? In Grossraumbüros stehen nun einmal Bildschirme und keine Paletten. Und abgesehen davon, sitzen wir hier unsere vierzig Stunden pro Woche ab so gut wie jene, die richtig angestellt sind.
Jetzt nervt Rindlisbacher schon wieder. Während ich hier vor mich hintippe, surft er im Netz herum und quatscht plötzlich herüber, was ich davon halte. Da schreibe so eine gelehrte Sozialtante von einer Fachhochschule, wer in Übungsfirmen mitmache, der bewähre sich - und dann beginnt er vorzulesen -, der bewähre sich gleichsam nur ex negativo, indem er beweise, dass er im Prinzip als Arbeitskraft noch verwendbar und vom Arbeitsmarkt nicht völlig disqualifiziert worden sei. Ob ich das kapiere. Ob ich mir hier auch ex negativo vorkäme, und ob man dagegen etwas tun könne. Lass mich in Ruhe, habe ich gezischt, ich arbeite.
Was der Chef wohl der Blumenstein hinten in seinem Büro erzählt? Zehn Minuten sind das jetzt mindestens schon. Aber eigentlich weiss ich ja so gut wie er, was in einem solchen Fall ungefähr zu sagen ist: Frau Blumenstein, sagt man da, man muss gegen die negativen Impulse in sich selbst ankämpfen. Diese Impulse sind schlimmer als die Erwerbslosigkeit. Sie sind der eigentliche Grund für die Situation! Aber wer hier bereit ist, an sich zu arbeiten, der profitiert auf jeden Fall: seis in Bezug auf die Sozialkompetenz, seis bei einer neuen Computeranwendung, seis beim Frisieren des eigenen Lebenslaufs zur Erfolgsstory. Hier kann man neue Fähigkeiten erwerben. Hier kann man Anregungen sammeln. Hier kann man sehen, wie sich andere verkaufen. Hier trifft man Leute, die schon bedeutend mehr Bewerbungen geschrieben haben. Hier sieht man, dass es anderen gleich geht. Hier lernt man, dass man zwar Defizite hat, aber dass andere auch Defizite haben. Dass wir zusammen an uns arbeiten müssen, dass der Arbeitsmarkt zwar hart ist, aber gerecht. Nichts für Weicheier, Frau Blumenstein, aber das sind wir ja auch nicht, oder? So etwas wird der Chef jetzt sagen dort hinten.
Oder das, was unser Bewerbungstrainer letzthin gesagt hat: Stell dir vor, du bist eine Ovomaltinebüchse. Das musst du dir beim Schreiben der Bewerbungen und vor Vorstellungsgesprächen intensiv vorstellen, autosuggestiv sozusagen. Wie wenn wir Ovomaltinebüchsen wären, so müssten wir uns verkaufen. Als Büchsen Eindruck machen mit einem raffinierten Schriftzug, einer packenden Illustration, mit spontan einnehmenden Farben. Personalchefs seien wie andere Kunden, die müssten neugierig gemacht werden, die müssten die Büchse öffnen wollen, um zu sehen, was drin ist. Nur, wer hinter die Verpackung will, bezahlt, sagte er. Und dann legte er noch einen Zacken zu: Wer heute nicht begriffen hat, dass es nicht mehr nur um die Arbeitskraft, sondern um den ganzen Menschen geht, hat schon verloren. So ist das, Karin, müsste jetzt auch der Chef sagen, du musst die Kunden dazu verlocken, hinter die Verpackung zu wollen. Wenn es um die ganze Person geht, Karin, so darfst du dich doch wirklich zeigen. Nur wer den Inhalt will, lässt den Rubel rollen. Nur dann holt er den Arbeitsvertrag hervor.
Und das heisse, würde ich fortfahren: Wenn es um die ganze Person geht, geht es nicht nur um die acht Stunden in der Firma und dann adieu merci, dann geht es um Identifikation, um Engagement, um Kreativität! Die Fliessbandarbeit mit Rein-in-den-Stollen, Raus-aus-dem-Stollen sei endgültig passé. Heute gehe es um die Selbstentfaltung am Arbeitsplatz, um individuelle Leistungsziele, weil es um das Persönliche gehe, um den ganz besonderen Beitrag, den nur du bringen kannst. Was du auf dem Arbeitsmarkt zu bieten hast, muss so unverwechselbar Karin sein, wie der Ovomaltinegeschmack unverwechselbar Ovomaltine ist.
So müsste der Chef reden, Stil Papi, offen und direkt, weil besorgt, dass da ein Kind vom richtigen Weg abzukommen drohe. Und dann, gegen Schluss, den Ton heruntercoolen auf mitfühlenden Chef: Verstehen Sie, Frau Blumenstein, wir wollen doch hier nur Ihr Bestes, auch für Ihr allerliebstes Töchterchen, das ich den Akten entnehme und dem wir nur das Beste wünschen: eine glückliche Mutter und dass sie bald wieder einen tollen Vater für das Kind findet. Komm, Karin, würde ich sagen, wenn ich der Chef wäre, Schwamm drüber, gehen wir einen Kaffee trinken, und danach setzt du dich an deinen Computer, und wir vergessen deinen heutigen Auftritt. Ich würde ihr andeutungsweise den Arm um die Schulter legen, natürlich nicht anzüglich, mehr so ironisch, und würde sagen: Noch ist nicht alles simuliert auf der Welt. Die hat doch nicht nur gerade Beine, irgendwo muss die doch auch ein Lächeln haben für einen, ders gut meint mit ihr.
Noch knapp zehn Minuten bis zur Kaffeepause. Der Chef übertreibts. Was tut der eigentlich dort hinten mit der Blumenstein? Der soll nur nicht seine Machtposition ausnützen gegenüber einer wehrlosen Untergebenen. Das kennen wir, den menschlichen Führungsstil heraushängen, bis es zur Sache geht. Aber die Blumenstein kriegt er nie herum, hoffe ich. Und überhaupt: Jedes Kind sieht ja, wie die Wirklichkeit tatsächlich ist. Man lebt nur besser, wenn mans möglichst schnell wieder vergisst: dass wir hier sind, weil uns das Regionale Arbeitsvermittlungsbüro hierhergeschickt hat. Dass wir uns haben schicken lassen, weil uns die Fritzen und Fritzinnen dort sonst für Tage oder Wochen das Arbeitslosengeld streichen. Und dass das hier alles verzweifelt nach einem Abstellgeleise aussieht, auf dem man uns nicht in Ruhe lässt, sondern Männchen üben lässt, falls doch noch ein neues Herrchen auftaucht.
Erpressung ist das, Zwang. Glasklarer Zwang, Chef! Warum zahlt eigentlich die Arbeitslosenversicherung nur dann, wenn ich mich zwingen lasse, so zu tun, als ob ich arbeiten würde? Wenn ich krank bin, zahlt die Krankenversicherung doch auch nicht nur dann, wenn ich mich zwingen lasse, in einem Rehabilitationszentrum so zu tun, wie wenn ich gesund wäre. Ach, weil man gegen Krankheit nichts tun könne, sagst du? Aber was kann ich denn gegen die Arbeitslosigkeit tun, wenn mich keiner anstellt, Chef?
Jetzt beginnt es mir schon zu blumensteinern. Cool, Mann. Ich sage: Immer professionell bleiben. Dazu gehören zwei Binsenwahrheiten. Erstens: Chefs sind dazu da, Druck zu machen. Und wers nicht zum Chef bringt, ist dazu da, gedrückt zu werden. Und zweitens: Was geht es mich an, ob ich vom Morgen bis zum Abend arbeite oder nur so tue, als ob ich arbeite? Was geht es mich an, ob andere sagen, ich hätte eine Arbeitsleistung erbracht oder ich sei bloss so ein Exnegativo? Klar bin ich ein dressierter Joggel. Aber wer ist das nicht? Hauptsache ist, es wird Abend ohne Lämpen. Denn richtiges Geld muss sein, richtige Arbeit nicht.
Nun ist der Chef mit der Blumenstein doch noch aus dem Geschäftsleitungsbüro gekommen. Er hat sich mit ihr neben den Schreibtischen aufgebaut, hat Luft geholt und salbungsvoll gesagt, Frau Karin Blumenstein beende heute ihre Mitarbeit in der Colorful Life AG. Er danke ihr für alles, was sie für die Firma geleistet habe, und er sei überzeugt, dass er ihr auch im Namen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter alles Gute wünschen dürfe. Die Blumenstein ist reglos daneben gestanden. Käsebleich. Und als sie sich zum Gehen gewandt hat - kein Gruss, kein Nicken, nichts. Der junge Rindlisbacher hat Recht, die hat was Krasses.
Der Chef hat sie hinausbegleitet. Als er zurückkam, rief er, er mache im Aufenthaltsraum drüben schon mal Kaffee, wir sollten in zwei, drei Minuten herüberkommen. Dem ist die Sache mit der Blumenstein offensichtlich nicht recht. Ist ja auch nicht die feine Tour, eine Alleinerziehende schon vor dem Kaffee in die Bredouille zu schicken. Dafür hat er seinen ordentlichen Arbeitsvertrag und einen richtigen Lohn. Sicher ist, dass die Blumenstein jetzt schnurstracks aufs RAV marschiert und dort als Erstes ihre Einstelltage kassiert. War deine Show hier wirklich so viel wert, Karin? Wenn du mich gefragt hättest, hätte ich dir einen Gratistipp gegeben: Machen können wir hier sowieso nichts. Jetzt kannst du das sinnvolle Leben jenseits der Erwerbsarbeit üben. Am besten setzt du dich mit dem Hut gleich in die Bahnhofunterführung. Vielleicht bringen dir die roten Augen was. Oder die geraden Beine.
Und jetzt soll der Chef erst einmal zeigen, was er an der Kaffeemaschine zustande gebracht hat. Danach tippe ich an der Rechnung weiter. Oder ich mache eine Bewerbung.
Beenden? Ja. Speichern? Nein, danke! Solches Zeug aufzuschreiben, ist fast so unprofessionell wie heulen.
Die Übungsfirma
Laut den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) «ist die Übungsfirma ein virtuelles Unternehmen, in dem die üblichen kaufmännischen Tätigkeiten eines echten Unternehmens wie Einkauf, Verkauf, Buchhaltung, Personalverwaltung und so weiter ausgeübt werden». Vor allem jugendliche Arbeitslose und WiedereinsteigerInnen werden von den RAV im Durchschnitt sechs Monate zum Üben geschickt.
Arbeitslosenprojekte dürfen gemäss Artikel 72 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes die private Wirtschaft nicht unmittelbar konkurrenzieren. Sie handeln deswegen mit virtuellen Produkten. Rund 50 Übungsfirmen gibt es in der Schweiz, weltweit sind es etwa 4500.
Der Text von Fredi Lerch basiert auf Recherchen in der Übungsfirma Colorful Alps AG in Thun sowie einem Informationsgespräch mit der Sozialwissenschaftlerin Eva Nadai über Arbeitssimulation als staatliche Aktivierung von Arbeitslosen. Die Colorful Alps verkaufte nicht existierende Boutiqueartikel und virtuelle Dienstleistungen. Die Anfang 2005 gegründete Firma wurde im Dezember 2006 wieder geschlossen, nachdem das Berner Amt für Wirtschaft Beco in Thun den Auftrag an eine andere Firma vergeben hatte - diese hatte eine günstigere Offerte eingereicht. Der ehemalige Leiter und Gründer von Colorful ist unterdessen wieder arbeitslos. Sina Bühler