Begleitete Wiedereingliederung: «Das isch hinenume vo dr IV zahlt»

Nr. 12 –

Ein Job Coach begleitet in Bern IV-TeilrentnerInnen an Arbeitsplätzen in der freien Wirtschaft. Die teilnehmenden Betriebe werden grosszügig entschädigt. Doch warum sind die Verträge nicht dem Arbeitsrecht unterstellt?

Am Telefon gibt sich die Sachbearbeiterin sofort genervt, nachdem ich ihr den Namen eines mir vertrauten IV-Bezügers genannt habe: «Damit kann ich nichts anfangen. Sagen sie mir die Nummer.» Erst beim Aufsagen der dreizehnstelligen Zahlenfolge bestätigt sie, dass sich mein vor fünf Wochen eingeschrieben eingereichtes «Wiedererwägungsgesuch betreffend Verfügung zur Aufhebung der Ergänzungsleistungen zur IV-Teilrente» noch in Bearbeitung befinde. Mit leiser Stimme bittet sie um Geduld. Auf meinen Einwand, der IV-Bezüger sei seit zwei Jahren stellenlos und müsse seit Anfang 2015 mit 1650 Franken pro Monat leben, meint sie bloss, wie gesagt, das Gesuch werde geprüft.

Vor zehn Jahren wurde der damals schon erwerbslose Mann, nennen wir ihn A. B., psychisch krank und IV-Teilrentner. Eine wichtige Voraussetzung, damit ihm die Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) Bern im Rahmen des «Job Coach Placement»-Programms (JCP) den ersehnten Antritt einer festen Stelle im sogenannten ersten Arbeitsmarkt hätten vermitteln können. Nach umfangreichen Abklärungen, ob er sich für einen Arbeitsplatz in der freien Wirtschaft eignen würde, hätte es zu einem von einem Coach begleiteten Jobversuch in einem Unternehmen oder in einer öffentlichen Verwaltung kommen müssen. Denn, wie ein JCP-Flyer erklärt, jedem Patienten wird ein «individuell massgeschneiderter Arbeitsplatz mit Leistungslohn» inklusive «zeitlich nicht limitierter» Betreuung durch einen Coach angeboten. Bei positivem Verlauf würde das Ziel, die nachhaltige Eingliederung in die Arbeitsgesellschaft, erreicht. Doch dazu kam es nie. A. B. wurde acht Jahre lang nur in «Diensten und Betrieben» der UPD beschäftigt. Gemäss Arbeitszeugnis wurde er vom Reinigungslager über die Wareneingangskontrolle, die Lagerbewirtschaftung, die Ordnung und Sauberkeit in allen Lagern, den verantwortlichen und ehrlichen Umgang mit Waren, Geräten, Maschinen und Fahrzeugen bis zur aktiven Teilnahme an Rapporten und Sitzungen herumgeschoben, eingesetzt und wieder abgesetzt. Er kündigte seinen Vertrag mit dem Job Coach Placement sofort, als man ihm Anfang 2013 eine feste Stelle in einer Sozialfirma für einen Drittel seines früheren regulären Lohns als Hilfsarbeiter angebot.

Die aufgekündigte Zusammenarbeitsvereinbarung zwischen A. B. und dem Job Coach Placement ist ein merkwürdiges Dokument. Auf jeder Seite fällt einem zunächst links unten angebracht ein Logo auf: «EFQM Committed to excellence». Auf Seite eins steht da unter anderem: «Sie gilt nicht als Arbeitsverhältnis im Sinn der Artikel 319 ff. des Schweizerischen Obligationenrechts und ist dementsprechend nicht dem Arbeitsrecht unterstellt.»

Die Vereinbarung enthält einige weitere sonderbare Bestimmungen: Wenn für A. B. keine Arbeitsstelle zu finden ist, hat er selbst danach zu suchen. A. B. wird auch verpflichtet, über «vertrauliche Angelegenheiten», «Geschäftsgeheimnisse» oder «Wiedereingliederungsmassnahmen» Stillschweigen zu bewahren. Weder Alkohol noch Drogen sind erlaubt und er kann vom Job Coach zwecks Urinprobe kostenpflichtig zum Arzt geschickt werden. Bei «Schwierigkeiten» wie Überforderung, Desintegration oder Demotivation kann ihm sofort gekündigt werden. Vermutlich ist er im letzten Moment der Anwendung dieser Bestimmung zuvorgekommen. A. B. hat in seinen eigenen Worten «acht verlorene Jahre im offenen Strafvollzug» verbracht.

Lohnsparen mit Beeinträchtigten

Was A. B. entgangen ist, weil er nicht die Chance bekam, von einem Job Coach begleitet versuchsweise eine Stelle in der Privatwirtschaft anzutreten, zeigen Dokumente eines anderen Patienten – nennen wir ihn C. D.

Für alle durch das JCP zu reintegrierende PatientInnen gibt es eine Leistungsvereinbarung der Eidgenössischen Invalidenversicherung (IV) beziehungsweise der zuständigen kantonalen IV-Stelle mit den UPD Bern. Für die IV geht es darum, «eine versicherte Person für den 1. Arbeitsmarkt vorzubereiten», und zwar durch erfolgreiche berufliche Ausbildung oder Umschulung. Bis zu 153 200 Franken vergütet die IV dem Leistungserbringer respektive dem Arbeitgeber je nach Fall und bei einer angenommenen Dauer von achtzehn Monaten. Die Leistung umfasst Eignungsabklärung, Einarbeitung, Anlehre sowie Grundbildung bis und mit der beruflichen Begleitung im ersten Arbeitsmarkt. Das Finanzierungsmodell wird von der IV so beschrieben: «Die Finanzierung erfolgt nach dem Prinzip der subjektorientierten Objektfinanzierung mit Fallpauschalen, Tages- bzw. Monatspauschalen und auf Basis der Vollkostenrechnung der einzelnen Kostenträger, also inkl. Infrastrukturkosten.» Mit andern Worten: Der Arbeitsplatz wird praktisch von der IV finanziert.

Der Patient C. D. hatte mehr Glück als A. B. Eines Tages erhielt er einen Arbeitsvertrag, den das JCP für ihn mit der mittelgrossen Kommunikationsagentur X in der Nähe von Bern unterschrieben hatte. Er wurde als niedrig qualifizierter IT-Mitarbeiter zu fünfzig Prozent angestellt. Sein Arbeitsvertrag basiert seinerseits auf einem Zusammenarbeitsvertrag zwischen dem Personalverleiher JCP und der «externen Einsatzfirma», eben der Agentur X. Auch in diesem auf höchstens vier Jahre befristeten Arbeitsvertrag werden die Rechte der PatientInnen/ArbeitnehmerInnen nochmals grosszügig beschnitten. So etwa der Kündigungsschutz und der Datenschutz. Hinzu kommt der Lohn. Für einen niedrig qualifizierten IT-Mitarbeiter liegt der tiefste Stundenlohn in der Branche bei 48 Franken. Für C. D. gilt jedoch ein vertraglicher Bruttolohn von 34 Franken. Die Agentur X würde sich somit einen Drittel der Lohnkosten mit einem psychisch beeinträchtigten Menschen einsparen. Aber auch die Lohnkosten spielen keine Rolle. Denn die Agentur X erhält mit dem Arbeitsvertrag gratis einen für die ergonomischen Bedürfnisse des Patienten eingerichteten Arbeitsplatz sowie eine betreute Arbeitskraft. Für alle anfallenden Kosten darf die Agentur X der kantonalen IV Rechnung stellen, wie deren Geschäftsleiter am Telefon bestätigt. Selbst der – miserable – Lohn «isch hinenume vo dr IV zahlt», wie er zugibt.

«Wirtschaftsorientiertes Produkt»

Das Job Placement wird auch sozialindustriell vermarktet. Jährlich erhält ein bernisches Unternehmen, das mit seiner Teilnahme am JCP «besonders für die berufliche Integration von Menschen mit einer psychischen Leistungseinschränkung» gesorgt hat, den Berner Sozialstern: ein «Wanderpreis» in der Höhe von 10 000 Franken.

Gemäss der Kandidatenliste für den Preis beschäftigen gegen hundert Betriebe in der Region Bern JCP-PatientInnen. Wenn das System funktioniert, dann also vorab zugunsten der Wirtschaft. Aber auch zulasten der PatientInnen, wie ein früherer UPD-Kadermann berichtet. Er bezeichnet das JCP als «wirtschaftsorientiertes Produkt» und die IV als Investor. Doch er sieht in dieser Orientierung nicht nur Nachteile: Wenigstens sei – im Unterschied zu den Beschäftigungsprogrammen in Sozialfirmen – der Praxisbezug beim JCP ganz klar vorhanden.

Unter den Kandidaten für den Berner Sozialstern fehlt der grösste Arbeitgeber: die Bundesverwaltung. Laut Auskunft des Eidgenössischen Personalamts arbeitet der Bund nur ausnahmsweise mit dem JCP zusammen. Für die berufliche Integration von psychisch behinderten Menschen mache man bessere Erfahrungen mit drei- bis sechsmonatigen Arbeitsversuchen. Die Bundesämter werden über Förderprämien zu den Versuchen motiviert. Die ProbandInnen werden zwar mit IV-Taggeldern entschädigt, hingegen gelten auch für sie die normalen arbeitsrechtlichen Bestimmungen. Für die Mehrkosten solcher Arbeitsplätze schickt der Bund die Rechnung nicht einfach der IV. Er verfügt über einen Sonderkredit von sechs Millionen Franken, den die Departemente beanspruchen dürfen. Sein Zweck ist derjenige des Behindertengleichstellungsgesetzes: «Es setzt Rahmenbedingungen, die es Menschen mit Behinderungen erleichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und insbesondere selbstständig soziale Kontakte zu pflegen, sich aus- und fortzubilden und eine Erwerbstätigkeit auszuüben.»

Gestern erst kam die Antwort der IV-Ausgleichskasse des Kantons Bern betr. A. B.: «Aus grundsätzlichen Überlegungen können wir auf die rechtskräftige Verfügung vom 6. Juni 2014 nicht zurückkommen. Auf Ihr Wiedererwägungsgesuch kann deshalb nicht eingetreten werden. Wir bedauern, Ihnen keinen besseren Bescheid geben zu können.» Und vorgestern noch las man im «Bund», die IV scheitere oft bei der Integration psychisch kranker Menschen. Und ausgerechnet der Chefarzt der Psychiatrischen Universitätsklinik Bern spricht dort von einem «kranken System». Fürwahr.

Oswald Sigg (70) war Bundesratssprecher und arbeitet seit seiner Pensionierung in der Redaktion der «Hälfte» mit, des «Unabhängigen Mediendienstes zur Arbeit und 
zur Erwerbslosigkeit» (www.haelfte.ch).

Interview mit dem Berner Psychiater Henrique Schenkel : «Man würde ja eher einen Roboter einstellen»

WOZ: Herr Schenkel, spielt bei Ihren Patienten der Stress am Arbeitsplatz eine Rolle?
Henrique Schenkel: Ja, aber nicht nur. Meistens sind es Leute, die von ihrer Biografie her enorm leistungsorientiert sind und die ihr Selbstwertgefühl aus der Arbeit beziehen. Häufig sind sie überidentifiziert mit dem Arbeitsplatz und wollen alles super und bestens machen. Dann geht es irgendwann nicht mehr weiter. So jemand kann vorerst nicht mehr arbeiten, und wir versuchen es mit einer deutlichen Abgrenzung zur Arbeit. Nach einer solchen Aufarbeitung ist es dann oft möglich, dass diese Leute wieder in den Alltag einsteigen können.

Es gibt doch auch Burn-outs, von denen sich die Patienten nicht mehr gänzlich erholen, sodass sie später mit einer reduzierten Beschäftigung vorliebnehmen müssen.
Solche Fälle gibt es sicher. Aber ich kenne auch Beispiele, wo es zu einem Konflikt mit dem Arbeitgeber kommt, verbunden mit einer Kündigung. Sobald sich die Person gesundheitlich erholt hat, findet sie in einem anderen Unternehmen ihren Platz, und nicht zu schlechteren Konditionen. Qualifizierte Leute können durch das Erleiden eines Burn-out wachsen, sich selbst besser kennenlernen und damit in einer gleichwertigen Qualifikationsstufe wieder einsteigen. Wenn zum Beispiel Swisscom-Chef Carsten Schloter den Zugang zu einer Psychotherapie gehabt hätte, wäre es vielleicht nicht zu einem Suizid gekommen.

Das Job Coach Placement der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern vermittelt Psychiatriepatienten mit einer IV-Teilrente einen Arbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt – mit einer angeblichen Erfolgsquote von 65 Prozent …
Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen, weil ich nur Einzelfallerfahrungen habe. Aber es geht oft weniger um Rehabilitation als um Habilitation. Viele junge Leute haben noch nie einen richtigen Job gehabt. Die waren noch nie im Arbeitsmarkt drin. Meine Erfahrung ist es auch, dass sowohl bei Arbeitgebern wie auch bei der IV ein gewisses Unverständnis gegenüber psychischen Problemen vorhanden ist. Man glaubt, sie seien Krankheiten wie andere auch, wie eine Lungenentzündung. Da geht es einem eine Zeit lang schlecht, und dann kommt man wieder und ist gesund.

Bei den schweren psychischen Störungen, um die es beim JCP meistens geht, ist man nach den Behandlungen nicht einfach gesund. Da kommt ein Auf und Ab von besseren und schlechteren Phasen auf einen zu. An so jemanden muss man sich anpassen. Ein Arbeitgeber müsste dafür Verständnis haben. Das ist beim heutigen Renditendruck nicht mehr der Fall. Entweder wird die Leistung erbracht, oder der Arbeitgeber sagt: «Nicht zu gebrauchen.» Auch bei der IV ist das so. Sie probiert es mit dem Aufgleisen von Rehabilitationen, und wenn dann wieder ein Einbruch kommt, schreibt die IV die Schuld dem angeblichen Unwillen des Patienten zu.

Liegt das Unverständnis gegenüber psychisch Erkrankten nicht schon fast in unserer Kultur …?
Einerseits in der Kultur, andererseits in der Entwicklung der Arbeitswelt in den letzten fünfzig Jahren mit ihren wahnsinnigen Arbeitsprozessoptimierungen, deren Opfer die Arbeitenden sind. Das ist tragisch. Man würde ja eher einen Roboter als einen psychisch kranken Menschen anstellen.

Interview: Oswald Sigg

Henrique Schenkel (71) ist Psychiater und Psychoanalytiker in Bern.