Indien: Klima! Welches Klima?

Nr. 9 –

Der dritte Teil des Weltklimaberichts räumt der Menschheit eine Handlungsfrist von nur noch dreizehn Jahren ein. In Indien interessiert das aber nur wenige. Warum?

Die Schlagzeile war nicht zu übersehen. «Die globale Erwärmung fordert ihr erstes Opfer», titelte Ende Dezember eine Tageszeitung in Kalkutta, «Meer verschlingt bewohnte Insel». In dem Artikel berichtete das Blatt Ende Dezember über eine Studie der Jadavpur-Universität, derzufolge der steigende Meeresspiegel die Insel Lohachara in der Bucht von Bengalen dauerhaft überspült habe. Die ehemaligen BewohnerInnen der Insel, ihre Zahl wird auf 10 000 geschätzt, seien zwar die ersten, aber nicht die einzigen Vertriebenen: Aus Sicherheitsgründen hätten auch viele Menschen die nahegelegene Insel Ghoramara - sie ist ebenfalls Teil der Sundarbanen - verlassen. Damit, so die Zeitung, «sind die apokalyptischen Prognosen der Umweltschützer und Klimatologen eingetreten».

Seit der Veröffentlichung des Stern-Berichts in Britannien (die britische Regierung hatte den ehemaligen Weltbankökonomen Nicholas Stern die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels untersuchen lassen), nehmen allmählich auch die indischen Medien die Umweltveränderungen wahr. Stern warnt in seiner Untersuchung, die im Oktober 2006 veröffentlicht wurde, dass besonders arme Staaten wie Indien in ernsthafte Schwierigkeiten geraten werden. Das hat offenbar manche JournalistInnen hellhörig gemacht. Und so berichtete das Nachrichtenmagazin «India Today» im November, dass der Samudra Tapu, einer der längsten Gletscher im indischen Himalaja, seit 1962 um 862 Meter zurückgegangen sei: «In den letzten vierzig Jahren schrumpften die wichtigsten Himalajagletscher um 21 Prozent», schreibt das Blatt.

Die Zweifler

Es stützt sich dabei auf eine Untersuchung des Glaziologen Syed Iqbal Hasnain von der Universität Calicut im indischen Bundesstaat Kerala, der davon ausgeht, dass in den nächsten vier Jahrzehnten viele Gletscher verschwinden werden - mit gravierenden Folgen für die Trinkwasserversorgung, die Energiegewinnung aus Wasserkraft und die Landwirtschaft. In den letzten dreizehn Jahren, so auch eine Studie der nichtstaatlichen Organisation (NGO) Water Initiatives Orissa, habe die landwirtschaftlich kaum noch nutzbare Fläche des Bundesstaats Orissa um 136 Prozent zugenommen. Über die Hälfte der Gesamtfläche von Orissa sei mehr oder weniger erodiert. Wenn der Klimawandel nicht gestoppt werde, so die basisorientierte NGO, dann sei Orissa «in 150 Jahren eine Wüste».

Von solchen Warnungen wollen aber die meisten nichts wissen. «Wenn wir die Daten der Zyklone der letzten 115 Jahre miteinander vergleichen, stellen wir fest, dass in den Jahren 1893, 1926 und 1930 mehr Wirbelstürme das Land verwüsteten als heute», sagt beispielsweise Vasant Gowariker, ein renommierter Wissenschaftler und ehemaliger Berater der indischen Ministerpräsidenten. Auch die Überflutungen und heftigen Regenfälle der letzten Zeit seien kein Indiz für eine beunruhigende Entwicklung. So habe es zwar vor kurzem in der Stadtmitte von Bombay stark geregnet (94,4 Zentimeter an einem Tag), doch in Südbombay seien gleichentags nur 7,3 Zentimeter Regen gefallen.

«Wenn es wirklich eine globale Klimaerwärmung gäbe», so Gowariker, «müsste sich diese auch in lokalen Daten niederschlagen.» Das Katastrophengerede diene nur dazu, bestimmte Ideen, Techniken oder Projekte zu lancieren; ausserdem richte es sich gegen die Entwicklungsländer. Und falls doch etwas dran sei, dann sei der industrialisierte Westen verantwortlich, der sich demzufolge auch darum zu kümmern und dafür zu zahlen habe.

Gowariker ist nicht der Einzige, der so spricht. Viele wollen sich den wirtschaftlichen Aufschwung, von dem vor allem die 300 Millionen der indischen Mittelschicht profitieren, nicht zerreden lassen - und schon gar keine Auflagen hinnehmen. Auch die traditionelle Linke hängt noch vielfach am alten Industrialisierungsmodell von Jawaharlal Nehru, dem ersten Ministerpräsidenten des Landes. Nehru hatte sich - anders als Mahatma Gandhi - von einer Schwerindustrie sowjetischen Typs eine Entwicklung des Landes und die Beseitigung der Armut versprochen.

Die Armut und der Westen

Während also die Wohlhabenden die zunehmende Umweltverschmutzung, die Dürren und steigende Meeresspiegel als lästiges Nebenprodukt des Wirtschaftswachstums abtun, verstehen die über 700 Millionen Armen kaum, was da geschieht. Für die meisten sind die Folgen der Klimaveränderung den Göttern zuzuschreiben oder Launen der Natur; sie stecken zu sehr im täglichen Überlebenskampf, als dass sie sich Gedanken über die Zukunft machen könnten.

Und sie sehen manches aus einer ganz anderen Warte. Vor einiger Zeit erzählte eine Zeitung in einer kleinen Notiz von einem Wissenschaftler, der ein entlegenes Dorf besuchte, um die Bevölkerung über die Folgen der bevorstehenden Ressourcenknappheit zu informieren. «Wenn wir weiterhin so viel Benzin verbrauchen, müssen wir in vierzig Jahren alle zu Fuss gehen», warnte er - und schaute verdutzt, als seine ZuhörerInnen zu lachen begannen. «Wir gehen überall zu Fuss hin», klärte ihn dann ein alter Mann auf, «und haben nichts dagegen, wenn das die ganze Welt tut.»

Zu einem umweltbewussten Verhalten muss man die Armen nicht erziehen. Anders sieht es bei den PolitikerInnen, der Mittelschicht, den JournalistInnen aus - und bei denen, die den Westen für alles verantwortlich machen. Und das zum Teil zu Recht. «Der Westen hatte nie Skrupel, seine Ideen und sein System der ganzen Welt überzustülpen, und fürchtet nun die Konsequenzen von Überindustrialisierung, Überkonsumption und eines Lebensstils, der auf Ausbeutung beruht», sagt beispielsweise Leslie D’Souza, der für eine NGO in Bombay arbeitet.

«Wird es nicht Zeit, dass der Westen nun für seine Profitmacherei zahlt?» Vor einem Jahr war D’Souza in Gujarat gewesen, um dort gegen die Abwrackung des asbestverseuchten Flugzeugträgers Clemenceau zu protestieren, den Frankreich nach Indien geschickt hatte. Andere AktivistInnen werfen dem Westen die Kollaboration mit Konzernen wie Union Carbide vor, der in Bhopal für die gigantische Industriekatastrophe verantwortlich war (20 000 Menschen starben, Hunderttausende wurden verstümmelt, die Umwelt einer ganzen Region verseucht).

Die Glitzerwelt der Medien

Es gibt durchaus warnende Stimmen. So ist der Vorsitzende des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), das im Januar den Weltklimabericht herausgab und im dritten Teil seines Berichts Ende letzter Woche sofortiges Handeln anmahnte, ein Inder. R.K. Pachauri sprach sich für eine «Road Map» aus, die es Indien erlaube, etwas gegen den Klimawandel zu tun, ohne die Armutsbekämpfung zu gefährden. Und die Bombayer Zeitung «Daily News and Analysis» verglich Anfang Februar die Menschheit mit dem Mann, der auf dem Ast sitzt, den er gerade absägt - mit dem Unterschied, dass der nicht wusste, was er tat. Doch das Blatt ist mit seiner Berichterstattung eine Ausnahme unter den indischen Medien. Denn es publizierte - im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der anderen Zeitungen und Zeitschriften - die Kernaussagen des IPCC-Reports.

Selbst renommierte Blätter wie die «Times of India» halten die Warnungen für überstürzt und - ähnlich wie vor kurzem noch viele Regierungen, WissenschaftlerInnen und Medien im Westen - für wissenschaftlich nicht bewiesen. Die «ökologischen Angstmacher» wollten doch nur profitieren. Trotz der Tatsache, dass der CO2-Ausstoss in Indien zwischen 1993 und 2002 um ein Drittel zunahm (neuere Zahlen gibt es nicht) und Indien mittlerweile zu den grössten TreibhausgasproduzentInnen der Welt gehört, schildern die Zeitungen und TV-Anstalten weiterhin in leuchtenden Farben die boomende Wirtschaft, die steigenden Aktienkurse, die Glitzerwelt der Shoppingmalls und die vollen Regale der Supermärkte.

Und auch die Regierung in Delhi hat bis heute kein Wort über den IPCC-Bericht verlauten lassen.