IV-Revision: Welche Integration?

Nr. 11 –

Trotz des Grundsatzes «Eingliederung vor Rente» werden Unternehmen in der Schweiz nicht in die Pflicht genommen.

Rund eine Viertelmillion Menschen in der Schweiz im erwerbsfähigen Alter bekommen eine IV-Rente. Das sind sechs Prozent der Bevölkerung. Obwohl die Anzahl Neurenten von 19600 im vergangenen Jahr gegenüber dem Jahr 2003 um dreissig Prozent gesunken ist, bringt die 5. IV-Revision für die Versicherten eine weitere Verschärfung (siehe WOZ Nr. 7/06). Bereits heute liegt die Ablehnungsquote für den Erhalt einer IV-Rente bei 45 Prozent. Das sind jährlich etwa 16 000 Personen. Dies ist eine direkte Folge der Anfang 2004 in Kraft getretenen restriktiven 4. IV-Revision.

Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) erhebt keine Daten darüber, wie viele der IV-RentnerInnen arbeiten oder aber keine Stelle finden. «Man kann davon ausgehen, dass fast alle RentenbezügerInnen, die keine ganze Rente beziehen, eine Erwerbstätigkeit ausüben», sagt Markus Buri vom Bundesamt für Sozialversicherung. «Aber auch unter den 187000 Bezügern einer ganzen Rente gibt es viele Erwerbstätige.» Eine Vollrente beträgt durchschnittlich 1525 Franken monatlich.

Seit 1997 stieg die Zahl der IV-BezügerInnen in der Schweiz um über vierzig Prozent. Allerdings wehren sich viele Unternehmen mit Händen und Füssen, ihren Anteil an der Integration von physisch oder psychisch beeinträchtigten Menschen zu übernehmen, zum Beispiel über eine Quotenregelung. Der Schweizerische Arbeitgeberverband äusserte vergangenes Jahr in einem Pressecommuniqué, «eine solche Verpflichtung würde den Arbeitsmarkt unerträglich belasten und den Standort Schweiz für ausländische Investoren unattraktiv machen». In einigen EU-Staaten wie Frankreich (vgl. «Der französische Weg») gibt es allerdings eine solche Quotenregelung für Unternehmen. Das bürgerlich dominierte Schweizer Parlament lehnte die Einführung einer Behindertenquote bei der 5. IV-Revision jedoch ab.

In der Invalidenversicherung gilt seit ihrer Einführung im Jahr 1960 der Grundsatz «Eingliederung vor Rente». Für die Umsetzung verantwortlich wären seither die kantonalen IV-Stellen. Doch erst seit der 4. IV-Revision haben die Versicherten einen gesetzlichen Anspruch auf Arbeitsvermittlung durch die IV-Stellen.

Daneben gibt es mittlerweile eine ganze Reihe spezialisierter Vermittlungsfirmen. Die wohl älteste ist die seit 35 Jahren tätige Westschweizer Stiftung Intégration pour tous (itp). In der Deutschschweiz wurde die Behindertenorganisation Pro Infirmis im Jahr 2000 mit der Stiftung Profil - Arbeit und Handicap aktiv. «Nach einer Umfrage bei unseren KundInnen und auch in Unternehmen Ende der neunziger Jahre sahen wir einen dringenden Handlungsbedarf», sagt Bruno Schnellmann, Berater bei Profil in St. Gallen. «Auf den IV-Stellen ist die Hilfe bei der Stellensuche auf sechs Monate beschränkt, und die VermittlerInnen müssen teilweise bis zu 150 Fälle gleichzeitig bewältigen.» So eröffnete Pro Infirmis - mit der finanziellen Unterstützung des Bundes und der Standortkantone - seit dem Jahr 2000 Profil-Beratungsstellen in Bern, St. Gallen und Zug. Das Zürcher Office wird derzeit aufgebaut und soll Hauptsitz der Stiftung werden.

Profil hat zum Ziel, mit insgesamt zwanzig Vollzeitstellen und jährlich 500 Vermittlungsmandaten bis zum Jahr 2009 selbsttragend zu werden. Bruno Schnellmann vermittelt seit fünf Jahren Menschen mit physischen oder psychischen Einschränkungen an Unternehmen. Eine aufwendige Arbeit: «Die durchschnittliche Beratungszeit vom Erstgespräch bis zur Anstellung dauert bei Profil knapp acht Monate.» IV-Stellen bevölkerungsreicher Kantone haben jedoch häufig gar nicht genug Personal, um IV-BezügerInnen bei der Stellensuche zu helfen. Studien gehen von einem Integrationsberater pro 150000 EinwohnerInnen aus.

Doch auch in den kleinen Kantonen ist der Aufwand einer internen spezialisierten Arbeitsvermittlung im Vergleich zu der Anzahl IV-BezügerInnen sehr hoch. «Wir haben deshalb beispielsweise seit 2004 von der IV-Stelle des Kantons Appenzell Ausserrhoden ein entsprechendes Vermittlungsmandat», sagt Schnellmann. «Und wir verhandeln zurzeit mit anderen IV-Stellen über weitere Kooperationen.»

Die Vermittlungsarbeit sei schwieriger geworden in den letzten Jahren, sagt Schnellmann. So gibt es etwa immer weniger Nischenarbeitsplätze, das heisst für leistungsschwächere Personen geeignete Stellen. Auch habe die Bereitschaft, behinderte Menschen einzustellen, in vielen Unternehmen abgenommen. Die Begründung: Man sei bereits genug gefordert, die Arbeitsplätze bereits angestellter Personen zu erhalten.

Abstimmung 5. IV-Revision

Am 17. Juni stimmen die Schweizer StimmbürgerInnen über die 5. IV-Revision ab. Ihr Hauptziel ist, die Invalidenversicherung «gesund» zu sparen und deshalb die Zahl der Neurenten massiv zu senken. Doch diese sind im Jahr 2006 gegenüber 2003 bereits um dreissig Prozent gesunken, wie das Bundesamt für Sozialversicherung vergangenen Montag bekannt gab. Dafür verantwortlich ist die Anfang 2004 in Kraft getretene, bereits sehr restriktive 4. IV-Revision. Die fünfte soll eine weitere Verschärfung für die Versicherten bringen, aber weiterhin keine Verpflichtung für Unternehmen. Dagegen hatten das Zentrum für selbstbestimmtes Leben und die Westschweizer Organisation Cap Contact das Referendum ergriffen. Bei der Invalidenversicherung gilt zwar der Grundsatz «Eingliederung vor Rente», doch eine Quotenregelung, wie sie beispielsweise in Frankreich gehandhabt wird, hatte das Parlament im vergangenen Jahr abgelehnt.