«Das kleine Kielschwein»: Nasse Tatsachen

Nr. 12 –

Es wird gehörig Seemannsgarn gesponnen, und die zu ewiger Fahrt verdammten Kapitäne kreuzen vor dem Wind.

Wer «Das kleine Kielschwein» nicht liest, wird weder erfahren, wie man Seeigel künstlich befruchtet noch wie man Feuertöpfe und Stinkbomben für Seeschlachten herstellt. Ob Hobbysegler, Schwimmerin, U-Boot-Fahrer oder angehende Piratin, das «Handbuch allererster Kajüte» inspiriert, denn es versammelt die Glanztaten der Seefahrt, und nicht zuletzt enthält es Flaschenpostgeschichten sowie anschauliche Berichte über Meeresungeheuer, Schiffsgespenster und etwa den kühnsten Fluchtversuch von der Gefängnisinsel Alcatraz, nämlich den des armseligen John Paul Scott.

Scott hatte sich am 12. Dezember 1962 gemeinsam mit einem Kumpan durch die Gitter des Vorratsraumes gezwängt, sie hatten sich zuvor mit Öl eingeschmiert und aus Handschuhen eine Art Luftmatratze gebaut. Das kalte Wasser bewegte seinen Kumpan bald zur Rückkehr. John Paul Scott aber gab nicht auf, schaffte es gegen die Strömung in der Bucht bis zum rettenden Ufer, war dann aber so erschöpft, dass er auf einem Felsen unter der Golden Gate Bridge einschlief. Er wurde von zwei Jungen aufgefunden, die ihn für einen versehrten Selbstmörder hielten. Sie holten die Polizei herbei.

Der italienische Soldat Jean Marie Saletti durchschwamm 1815 als Erster den Ärmelkanal, wird in den Geschichtsbüchern für seine kühne Tat aber nicht aufgeführt. Saletti war nämlich von einem britischen Schiff aus ins Wasser gesprungen, anschliessend zurück zur französischen Küste geschwommen, wo ihn auch noch ein Fischerboot aufnahm. Da er also nicht von Land zu Land gekrault ist, führte die Channel Swimming Association Saletti nicht in ihren Annalen. Über extreme Schicksale berichtet auch die Flaschenpost. Ein Fund liest sich: «Bitte helfen Sie, Präsident Bru, oder wir sind verloren. Richard Dresel.» Jüdische Flüchtlinge aus Deutschland irrten 1939 auf der «St. Louis» über die Meere. Für jeden der 847 Passagiere wurde eine Flaschenpost ins Meer geworfen, darunter die Bitte an den kubanischen Präsidenten, die Flüchtlinge einreisen zu lassen. Gefunden wurde einer dieser Appelle 2003 von John Moore, als er auf einer Auktion im englischen Bath das Buch «Voyage of the Damned» erwarb, das über die Irrfahrt der «St. Louis» berichtet. Wie der Brief aus der Flasche in das Buch gelangte, ist Zilla Coorsh, Tochter Richard Dresels, bis heute ein Rätsel.

Die MIBs (Messages in the Bottle) zeugen vom Glauben der Geschlagenen an eine höhere Gerechtigkeit - oder an Zufall. 1979 wurde der chinesische Dissident Wei Jingshen verhaftet, elf Jahre später wurde die Nachricht seiner Festnahme in einer Flasche am Strand von Vancouver Island in Kanada gefunden.

Das launische Meer, das mit dem Schicksal spielt, ist die Heldin dieses kleinen, mit viel Witz verfassten Buches des Reisejournalisten und Weltumradlers Lorenz Schröter. Nackte Tatsachen, wie tabellarisch angeführte Rekorde im Angeln, folgen auf amüsante und gruselige Abenteuer auf Salz- und Süsswasser. Die Geschichten folgen spielerisch aufeinander, wie kleine Wellen, einmal werden die grössten Fischmärkte der Welt vermerkt, dann wieder die exklusivsten Badeorte oder weit abgelegene Unterwasserrestaurants. Einmal wird man mit Exklusivwissen zum beiläufigen Aufschneiden ausgestattet, wie etwa über Goethes Neptunismus, dann wieder erfährt man, wie viel Watt das Meer erzeugt oder in welchen Filmen Elvis Presley in Badehose auftritt.

Als Kielschwein, das im Titel des Buches figuriert, wird im Rudersport der zusätzliche Passagier bezeichnet, der weder auf einem Steuer- noch auf einem Ruderplatz sitzt und somit an Bord keine Funktion erfüllt. Das Handbuch gibt sich damit betont unnütz, ist in Wahrheit aber nicht nur für Gestrandete eine äusserst unterhaltsame Lektüre.

Lorenz Schröter: Das kleine Kielschwein. Ein Handbuch allererster Kajüte. Mare Verlag. Hamburg 2006. 176 Seiten. Fr. 23.50