Migration: Der Korridor des Todes

Nr. 5 –

Zehntausende Haitianer:innen sind unterwegs von Südamerika in die USA. Die gefährlichsten achtzig Kilometer führen von Kolumbien nach Panama. Dort lauern Wegelagerer, Paramilitärs und Geschäftemacherinnen.

  • Haitianer:innen auf dem Weg in die USA: Hier, auf der kolumbianischen Seite, lässt sich Sicherheit mit viel Geld kaufen, in Panama sind die Migrant:innen Überfällen dann schutzlos ausgeliefert.
  • Was muss man mitnehmen, was kann hierbleiben? Oft ist die Entscheidung schwer.
  • Gummistiefel, Wanderschuhe und Campingkocher: Am Strand von Necoclí am Golf von Urabá gibt es alles, was man für die Dschungeldurchquerung angeblich braucht.
  • An der für Migrant:innen vor­gesehenen Mole in Necoclí: Ha­itia­ner:in­nen werden durch­gelassen, Venezo­la­ner:innen nicht.
  • Viele der Migrant:innen, die sich auf den Weg machen, sind schwanger oder haben Kinder.

500 Milliarden Pesos sind viel Geld – das ist eine Fünf mit elf Nullen dahinter. Kolumbianer:innen sind es gewohnt, mit grossen Summen zu jonglieren, aber 500 Milliarden sind selbst für sie zu viel. Man drückt es leichter in US-Dollar aus, dann sind es gut 120 Millionen. So viel Geld haben Migrant:innen auf dem Weg von Necoclí an der karibischen Küste von Kolumbien bis zur Grenze mit Panama allein im Jahr 2021 ausgegeben. Mindestens. Vielleicht waren es auch 150 oder 180 Millionen, genau weiss das niemand. Das meiste davon wurde in Dollars bezahlt und wanderte in schwarze Kassen, vor allem in die der rechten paramilitärischen Truppe der Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC). Die beherrscht das Gebiet zwischen Necoclí und der Grenze mit Panama, und sie verlangt viel Geld von allen, die es passieren wollen.

Von Necoclí bis Panama sind es eineinhalb Stunden mit einem Schnellboot über den Golf von Urabá nach Acandí. Dann folgen zwei Tage Fussmarsch. Am ersten Tag über fast schattenlose Viehweiden, am zweiten durch dichten Dschungel. Ungeübte Wander:innen brauchen dafür auch drei oder gar vier Tage, vor allem, wenn sie Kinder dabeihaben. Rund fünfzig Kilometer übers Meer und beschwerliche knapp dreissig Kilometer über Land. Die achtzig Kilometer gehören zu den teuersten auf einer Reise von rund 16 000 Kilometern. So weit ist es auf dem Landweg von Santiago de Chile bis in die Gegend um New York. Die meisten der Migrant:innen sind Haitianer:innen. Sie haben oft viele Jahre in Chile gelebt und gearbeitet. Nun sind sie auf dem Weg in die USA. Fast eine Million ihrer Landsleute leben in der Gegend von New York. Nur mexikanische Schlepper verlangen für den illegalen Grenzübertritt in die USA vielleicht noch mehr Geld als die Paramilitärs für den Weg von Necoclí bis zur Grenze mit Panama.

Angst vor dem Dschungel

Dafür sind diese achtzig Kilometer vergleichsweise sicher. Das gefährlichste Stück der Reise beginnt an der Grenze: der feuchtheisse Regenwald des Darién-Nationalparks. Man geht auf glitschigen Pfaden, klettert steile Anstiege hinauf und überquert Wasserläufe, die nach einem tropischen Sturzregen schnell zu reissenden Flüssen werden. Am Wegesrand lauern bewaffnete Banden. Viele Migrant:innen werden überfallen und ausgeraubt, viele Frauen vergewaltigt. Trainierte junge Leute schaffen die Strecke in drei Tagen, Familien mit Kindern brauchen bis zu sechs. Hinter dem Nationalpark beginnt der nördliche Teil der panamerikanischen Strasse, die durch den Darién-Dschungel vom südlichen Teil getrennt ist. Ab hier ist das Weiterkommen einfacher. Doch viele bleiben für immer im Darién. Sie ertrinken, verletzen sich bei einem Sturz und können nicht mehr weiter, oder sie sterben einfach an Erschöpfung.

Necoclí ist ein heruntergekommener Badeort am Golf von Urabá. Im Hinterland reiht sich eine Bananenplantage an die nächste, nur unterbrochen von schmalen Landepisten, auf denen kleine, gelbe Sprühflugzeuge, die ein bisschen an Sturzkampfbomber aus dem Zweiten Weltkrieg erinnern, auf ihren nächsten Chemieeinsatz warten. Das 70 000-Einwohner:innen-Städtchen hat nichts Attraktives. Breite staubige Strassen, schmucklose ein- und zweigeschossige Häuser. Die Läden sind dunkel und wirken eher wie Garagen. Es gibt kein historisches Zentrum mit kolonialen Gebäuden. Selbst die Kirche ist schlicht und sieht so aus, als wäre sie in den fünfziger Jahren möglichst kostengünstig errichtet worden.

Was Necoclí Urlauber:innen zu bieten hat, sind schwüle karibische Hitze und ein zwei Kilometer langer, schmaler Strand. Hier reiht sich ein Kiosk an den anderen, jeder macht mit seiner Musikanlage dem Nachbarn Konkurrenz. An Wochenenden wummern die Bässe bis in den Morgen hinein. Noch im Oktober vergangenen Jahres lagerten an diesem Strand mehr als 20 000 Migrant:innen. Heute stehen dort Schilder: «Campieren verboten». Nur eine Handvoll Familien hält sich nicht daran und hat, meist hinter einem Kiosk versteckt, kleine Zelte aufgebaut.

Zwischen August und Oktober vergangenen Jahres kamen in Necoclí jeden Tag mehr Migrant:innen an, als auf die andere Seite des Golfs verfrachtet werden konnten. Das Problem ist inzwischen behoben. Das Geld, das die Durchreisenden ausgegeben hatten, wurde von Geschäftsleuten in eine gewinnbringende Infrastruktur investiert. Neben dem zentral gelegenen touristischen Hafen gibt es nun eine zweite, einfache Mole ganz am Ende des Strands. Diese ist ausschliesslich für Migrant:innen da. Der Zutritt zum Hafen für Tourist:innen ist ihnen untersagt. Urlauber:innen bezahlen 75 000 Pesos, um auf die andere Seite des Golfs zu kommen. Von Migrant:innen verlangt man einen Kilometer weiter 180 000, an manchen Tagen auch 200 000 Pesos. Drei oder vier Schnellboote mit einer ganzen Reihe dicker Aussenbordmotoren am Heck legen dort jeden Morgen mit jeweils neunzig Passagier:innen ab.

Die Menschen haben sich zuvor am Strand von Necoclí mit allem eingedeckt, was man für die Dschungeldurchquerung angeblich braucht. Der Fussweg vor den Kiosken ist mit improvisierten Verkaufsständen zugestellt, die einfache Zelte und Schlafmatten aus Plastik anbieten, Gummistiefel und Wanderschuhe, Campingkocher samt Gaskartuschen und Aluminiumtöpfen, sogar Fertiggerichte mit Spaghetti. Fast alles ist «Made in China». Die kleinen dunklen Plastikfläschchen, die den Migrant:innen in grösserer Anzahl aufgeschwatzt werden, enthalten Ammoniak. Es soll, um das Nachtlager verschüttet, angeblich giftige Schlangen auf Distanz halten.

Gefährliche Route (grosse Ansicht der Karte) Karte: WOZ

Die Geschäfte an diesen Ständen laufen glänzend. «Nach der Coronakrise mit den entsprechend ausbleibenden Touristen sind die Haitianer ein Segen für Necoclí», sagt die vielleicht zwanzigjährige Leydis, die an einem der Stände all die genannten Waren im Angebot hat. Ihren Nachnamen behält sie für sich. Sie ist Verkäuferin, der Stand gehört einem örtlichen Geschäftsmann, und der soll nicht wissen, was sie so ausplaudert. Sie verdient 20 000 Pesos am Tag, ein bisschen mehr als fünf Dollar. Wenn sie Mitleid mit einem Migranten habe und ihm ein bisschen Rabatt gewähre, «dann wird das von meinem Lohn abgezogen». Ihr Chef aber baue derzeit ein neues Haus und habe sich ein neues Auto gekauft.

Michel, ein rund vierzigjähriger Haitianer aus der Provinzstadt Gonaïves, deckt sich an diesem Stand mit allem ein, was Leydis ihm für den Marsch durch den Darién empfiehlt. Er hat viele Geschichten vom Leiden im Wald und von den Gefahren gehört. Er handelt nicht und bezahlt den verlangten Betrag in Dollar. Er ist gross und feingliedrig, mit schütterem Haar und sanftem Händedruck. Auch er will beim Vornamen bleiben – und keine Fotos. Irgendwann, hofft er, werde er in den USA sein, und da sei er, zumindest zunächst, ohne die nötigen Papiere. Da sei es besser, wenn man ihn nicht identifizieren könne. «Ich habe Angst vor dem Dschungel», sagt er leise. «Grosse Angst.»

Zuerst eingeladen, dann verdrängt

Die Geschichte von Michel ist die von vielen haitianischen Migrant:innen. 2013 flog er von Port-au-Prince nach São Paulo. Dort gab es Arbeit. Man brauchte Handwerker auf dem Bau, die Fussballweltmeisterschaft stand an. In der durch die Coronapandemie ausgelösten Wirtschaftskrise wurde er entlassen. «Man muss Miete bezahlen, man braucht etwas zu essen, aber man hat kein Geld», sagt er. Aber er hat Verwandte in den USA, und denen gehe es gut. So verkaufte er das wenige, das er besass, und machte sich mit seiner Frau und der dreizehnjährigen Tochter auf den Weg. Für die paar Tage, die er in Necoclí auf die Überfahrt übers Meer wartet, ist er in einem Rohbau ohne fliessendes Wasser untergekommen. Davon gibt es derzeit viele. Überall in Strandnähe entstehen neue Unterkünfte für Tourist:innen. Michel bezahlt für das Zimmerchen, in dem gerade ein paar Kajütenbetten stehen und eine nackte Glühlampe an der Decke hängt, für einen Schlafplatz acht Dollar pro Nacht.

Die Geschichten, die die Migrant:innen erzählen, gleichen sich. Schneider – in Haiti auch ein Vorname – erzählt eine ähnliche aus Chile. Der drahtige Dreissigjährige aus Port-au-Prince hat in der Hauptstadt Santiago in einem Supermarkt gearbeitet. «Es gab Arbeit», sagt er. «Bis zur Pandemie.» Und was erschwerend hinzukomme: «Die Regierung verbietet, dass man die Familie nachholt.» Seine Frau, seine Schwester und seine Mutter leben in Port-au-Prince, und es gehe ihnen schlecht. Deshalb will er es jetzt in den USA versuchen.

Nach dem verheerenden Erdbeben in Port-au-Prince, bei dem im Januar 2010 rund 300 000 Menschen zu Tode gekommen waren, legten die damaligen Mitte-links-Regierungen in Brasilien und Chile humanitäre Programme auf: Haitianer:innen bekamen eine Aufenthalts- und eine Arbeitserlaubnis. Nach den Zahlen der haitianischen Migrationsbehörde sind in der Folgezeit 236 912 Haitianer:innen nach Chile und 32 796 nach Brasilien ausgewandert. Seit 2016 gibt es in Brasilien, seit 2018 in Chile eine rechte Regierung. Die humanitären Programme liefen aus. Zudem kamen Zehntausende Migrant:innen aus Venezuela. Diese waren nicht nur besser ausgebildet und mit Sprache und Kultur vertraut, sie hatten auch keine schwarze Haut. Sie haben die Migrant:innen schnell aus dem Arbeitsmarkt verdrängt. Der grosse Treck nach Norden begann.

Zunächst waren es nur wenige. Doch dann stürzte im Frühjahr 2020 Lateinamerika im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie in eine tiefe Wirtschaftskrise. Es gab Massenentlassungen. Die Haitianer:innen gehörten immer zu den Ersten, die ihre Arbeit verloren, und es gab kein soziales Netz, das sie hätte auffangen können. Zudem wurden überall die Grenzen geschlossen. Die Haitianer:innen sassen auf der Strasse, und sie sassen fest. Doch kaum wurden die Grenzen wieder geöffnet, begann die Massenwanderung in die USA. Allein 2021 haben nach Angaben der panamaischen Grenzbehörden rund 130 000 Menschen den Dschungel des Darién durchwandert – so viele wie zusammengenommen in den zwölf Jahren zuvor.

In Kolumbien halten sich die Migrant:innen nur wenige Tage auf. Es gibt private Busunternehmen, die an der Südgrenze mit Ecuador warten und die Ankommenden in knapp zwei Tagen Fahrt nach Necoclí bringen. «Das ist alles ein grosses Geschäft», sagt Schneider. «Wer Geld hat, kommt schnell voran.» Er selbst hat nur zehn Tage gebraucht, um von Santiago bis an die kolumbianische Karibikküste zu kommen. Nun wartet er auf die Überfahrt nach Acandí. An der Mole begegnet er zum letzten Mal einem Vertreter des kolumbianischen Staats: Ein Grenzer kontrolliert die Pässe der Migrant:innen, die aufs Schiff wollen. Haitianer:innen werden durchgelassen, genauso wie die wenigen Kubanerinnen, Senegalesen oder Kamerunerinnen, die auf dieser Strecke unterwegs sind. Venezolaner:innen werden aufgehalten.

Die Regierungen von Kolumbien und Panama haben ein Abkommen miteinander geschlossen, nach dem Haitianer:innen, Kubaner:innen und Bürger:innen afrikanischer Länder möglichst schnell durchgeschleust werden. Venezolaner:innen aber dürfen die Grenze nicht passieren. Allein in Kolumbien gibt es mindestens eineinhalb Millionen Armutsflüchtlinge aus dem seit Jahren von einer schweren Wirtschaftskrise gebeutelten östlichen Nachbarland. Die wollen nicht unbedingt in die USA, und die Regierung von Panama befürchtet, viele von ihnen würden im Land bleiben. Die kolumbianische Regierung nennt die schnelle Abfertigung der Haitianer:innen einen «humanitären Korridor». Henry Lopera dagegen nennt es einen «Korridor des Todes».

Lopera, ein entschlossen wirkender untersetzter Mann mit kurzgeschorenem Haar, ist Pfarrer der katholischen Gemeinde Nuestra Señora del Carmen. Die Garage seines Pfarrhauses ist eine Anlaufstelle für Haitianer:innen, die mittellos in Necoclí angekommen sind. «Jeden Tag kommen ein paar Familien vorbei», sagt er. Sie werden von der Gemeinde mit Lebensmitteln und Kleidern versorgt und wenn nötig ins Krankenhaus begleitet. Für Kinder gibt es Spielnachmittage, «damit sie sich ein paar Stunden lang nicht wie Migranten fühlen». Den Erwachsenen zeigt der Pfarrer auf seinem Mobiltelefon Videos vom Marsch durch den Dschungel, die ihm von anderen Migrant:innen zugeschickt worden sind. Darauf kann man nackte Frauenleichen am Rand von Flüssen sehen und von wilden Tieren angefressene tote Körper von Kindern. Eine Schocktherapie, die nicht wirkt. «Wer einmal unterwegs ist, den kann nichts und niemand mehr aufhalten», sagt Lopera.

288 Frauen, denen sexuelle Gewalt angetan wurde, sind in den Monaten Januar bis Oktober 2021 in einer Notfallstation von Ärzte ohne Grenzen auf der panamaischen Seite des Darién behandelt worden. Die Dunkelziffer, heisst es in einer Erklärung der Hilfsorganisation, sei wahrscheinlich um ein Vielfaches höher. Von den 288 erfassten Straftaten wurde kaum eine bei der Polizei angezeigt. Die Migrantinnen wollen keine langwierigen Ermittlungen, sie wollen weiter. Die panamaische Polizei hat im selben Zeitraum die Leichen von fünfzig Frauen, Männern und Kindern aus dem Regenwald geborgen und in Massengräbern beigesetzt. Das sei eine lächerliche Zahl, sagt Pfarrer Lopera. «Ich wage zu behaupten, dass es jede Woche fünfzig Tote gibt.»

Ein Clan, der sich politisch gibt

Das Schnellboot legt von der Migrant:innenmole in Necoclí ab. Alle neunzig Passagier:innen tragen Schwimmwesten. Die vier Aussenbordmotoren lärmen, hart schlagen die beiden Rümpfe des Katamarans auf die Wellen. In den Sitzreihen unter dem Sonnendach wird es still. Die Männer sind in sich gekehrt, denken an das, was kommen mag. Die Frauen streicheln ihre Kinder, um sie ruhig zu halten. Nur einmal bremst das Boot scharf ab. Draussen auf dem Meer wartet ein kleines Fischerboot mit sechs Mann Besatzung. Vier davon sind Venezolaner. Sie werden vom grossen Boot aufgenommen. Wie viel sie bezahlt haben? Jedenfalls viel mehr als die legalen Passagier:innen.

Jede Nacht stechen kleine Fischerboote mit Venezolaner:innen vom Strand in Necoclí aus in See. Oft sind sie völlig überladen, für die Passagier:innen gibt es keine Schwimmwesten. Draussen auf dem Meer kann ein tropisches Gewitter mit Sturmböen und hohen Wellen solche Kähne schnell zum Kentern bringen. Es gibt keine Statistik darüber, wie viele Migrant:innen bei solchen Unfällen ertrunken sind. Die lokalen Medien erwähnen nur wenige Einzelfälle. So wurden am 12. Oktober vergangenen Jahres 21 Menschen gerettet und die Leichen von 3 Frauen geborgen. 5 Passagier:innen des völlig überladenen Boots sind im Meer verschwunden; darunter 3 Kinder, das jüngste gerade acht Monate alt.

Auf der anderen Seite des Golfs von Urabá haben illegale Passagier:innen nichts zu befürchten. Der Küstenlandstrich gehört zwar zu Kolumbien, den Staat aber gibt es dort nicht. Das Dorf Acandí und sein Hinterland sind fest in der Hand der Autodefensas Gaitanistas. Der Strand vor Acandí ist flach. Das Schnellboot ankert gut hundert Meter vom Ufer entfernt, kleine Schaluppen bringen die Passagiere an eine Landestelle. Dort warten schon die Schlepper der Paramilitärs. Auf jedes zweite Haus ist ihr Kürzel gesprüht: AGC. Ansonsten gibt es nichts Bemerkenswertes im Dorf. Nur wenige Strassen sind gepflastert, die meisten sind von Pfützen und Schlammlöchern übersät. Die heisse, stickige Luft wird durch den Geruch von Brackwasser und verbranntem Müll noch drückender.

Bekannt geworden sind die Gaitanistas als der «Golf-Clan», weil die Gegend rund um den Golf von Urabá ihr Stammland ist. Den Namen des 1948 ermordeten populistischen damaligen Präsidentschaftskandidaten Eliécer Gaitán haben sie sich nur zugelegt, um sich einen politischen Anstrich zu geben. Tatsächlich aber sind sie das mächtigste Verbrechersyndikat Kolumbiens, haben rund 2000 Männer unter Waffen und operieren heute weit über ihr Stammland hinaus. Der Staat lässt sie weitgehend in Ruhe, weil sie Kleinbäuer:innen von Ländereien verjagen, die für grosse Viehzüchter, Agrarunternehmen und Minenkonzerne interessant sind. Ihre hauptsächliche Einnahmequelle aber ist der Drogenhandel – und neuerdings die Migrant:innen.

Der Chef der Schlepper stellt sich als «El Topo» vor – der Maulwurf. Er ist klein, trägt zu schlabbrigen Sporthosen Gummistiefel und das Trikot eines kolumbianischen Fussballvereins. Das kurz geschorene lichte Haar hat er knallig orangerot gefärbt, die Geldbündel steckt er in einen kleinen Rucksack. Wenn er mit Frauen verhandelt, leckt er sich langsam mit der Zunge über die Oberlippe. Mit Männern macht er sexistische Witze. Er hat zwei Transportmöglichkeiten im Angebot: Jeweils vier Migrant:innen können mit ihrem Gepäck auf einen von einem Pferd gezogenen Karren. Dann dauert der Weg bis ins erste Camp rund fünf Stunden. Jede Person bezahlt 25 Dollar. Die teurere Variante ist ein Motorrad. Das schafft den Weg für 40 Dollar in zwei Stunden. Journalist:innen, die sich vorher bei den Gaitanistas eine Genehmigung eingeholt haben, steht nur diese Variante offen, und sie müssen am selben Tag – für noch einmal 40 Dollar – wieder zurück nach Acandí.

Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, und die ist kostenlos: ein Fussmarsch, der sieben bis neun Stunden dauert und in tropischer Schwüle über fast schattenlose Viehweiden führt. Sieben Flüsse müssen dabei überquert werden. Wer die seichten Stellen kennt, wird dabei nur bis zur Hüfte nass und ist ein bisschen erfrischt. Das Wasser ist klar, aber trinken sollte man es nicht. Es ist hochgradig mit Quecksilber verseucht. Weiter oben an den Flussläufen betreiben die Gaitanistas illegale Goldminen. Je weiter der Weg ins Landesinnere führt, desto schwieriger wird er. Die Anstiege sind von den Regenfällen der letzten Tage glitschig geworden, oft bleiben Pferdekarren und Motorräder in tiefen Schlammlöchern stecken, die gross wie Teiche sind. Dann müssen die Passagier:innen absteigen und zu Fuss weiterwaten. Die Migrant:innen nehmen ihr Gepäck auf den Kopf und die Kinder in den Arm oder auf den Rücken.

Auf dem Weg zum Camp gibt es an Viehgattern zwei Sperren der Paramilitärs. Dunkelhäutige Menschen werden problemlos durchgelassen. Hellhäutige werden aufgehalten und ausgefragt, bis sie den Satz sagen, der das Gatter öffnet: «El Topo schickt uns.» Nach dem zweiten Gatter beginnt der kurze Anstieg zum Camp.

Fünfzig Dollar Eintritt für eine Wiese

Das Lager heisst «Las Tecas» – das Teakholz –, weil gleich dahinter der Regenwald beginnt. Einst war es ein Landgut, doch die Bewohner:innen wurden von den Paramilitärs vertrieben. Von ihren Häusern sind nur ein paar wenige Ruinen geblieben. Das Land wird heute von einem mit den Gaitanistas verbandelten Viehzüchter als Weide genutzt. Das Camp ist eine leicht ansteigende grosse Wiese, die mit leeren Plastikflaschen, Kartontellern und anderem Abfall zugemüllt ist. Es gibt ein paar aus Ästen und Plastikplanen gebaute Unterstände, unter denen die kleinen Zelte der Migrant:innen vor tropischen Sturzregen geschützt sind.

Rund um diese Wiese stehen kurzfristig zusammengezimmerte Verkaufsstände, an denen noch einmal Ausrüstung für den Marsch durch den Darién angeboten wird. Dazu Wasserflaschen, Knabberzeug und Gerichte. Für ein sehr einfaches Mahl – rote Bohnenkerne, Reis und etwas Fleisch auf einem Plastikteller – werden Preise verlangt, für die man in einem besseren Restaurant in der Hauptstadt Bogotá ein feines Menü vorgesetzt bekommt.

Wer den Dschungelpfad durch den Darién erreichen will, muss über diese Wiese. Rund 130 000 Migrant:innen sind im vergangenen Jahr für eine Nacht dort gewesen. Die Paramilitärs verlangen von jedem und jeder fünfzig US-Dollar Eintritt. Fünfzig Dollar, um eine Wiese betreten zu dürfen. Das ergibt für das Verbrechersyndikat einen satten Gewinn von 6,5 Millionen Dollar. Selbst mit dem Kind, das von einer Haitianerin in «Las Tecas» zur Welt gebracht wurde, versuchen die Gaitanistas noch Geld zu machen. Sie bieten Journalist:innen die Kopie eines mit einem Mobiltelefon aufgenommenen Videos von der Geburt für hundert Dollar an.

«Las Tecas» ist die Endstation für Journalist:innen. Die Paramilitärs wollen nicht, dass man die Migrant:innen weiter begleitet, und es ist sicherer, wenn man sich daran hält. Für Migrant:innen aber beginnt am nächsten Tag früh am Morgen der Marsch durch die grüne Hölle des Darién. Sie beginnt mit einem steilen Aufstieg gleich hinter dem Camp.

Padre Henry Lopera

Nachbemerkung: Nach unseren Berechnungen gibt jedeR Migrant:in auf den achtzig Kilometern von Necoclí bis zur Grenze mit Panama zwischen 1000 und 1500 Dollar aus – für Übernachtungen, Ausrüstung, Lebensmittel, Transport, Schlepper und erpressten Wegzoll. Ein Flug wäre nicht nur viel ungefährlicher, schneller und bequemer, er wäre auch viel billiger. Von Santiago de Chile nach Mexiko-Stadt bezahlt man gut 400, bis New York etwas mehr als 450 Dollar. Warum macht das niemand? Weil bei der Einreise über einen Flughafen von Haitianer:innen ein Visum verlangt wird, das sie nicht bekommen. Wenn sie über Land reisen, gewährt man ihnen an der Grenze ein kurzfristiges Durchreisevisum. Wie nannte das die kolumbianische Regierung? Einen «humanitären Korridor».

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen