Sihlcity: Kinos, Bars, Shops und Platzangst

Nr. 12 –

Am Erscheinungstag dieser WOZ wird dort, wo die ehemalige Zürcher Sihlpapier stand, eine Grossüberbauung der Credit Suisse mit Wohnungen, Grossdisco, Geschäften, 5-D-Kino und Kappelle eröffnet. Wir baten den ehemaligen Sihlpapier-Besetzer Mark Divo, sich schon vor der Eröffnung umzusehen.

Charme einer Tiefgarage: Ein Viertel der Fläche von Sihlcity besteht aus Büros, die kaum jemand je brauchen wird. Foto: Ursula Häne

Die Sihlpapier ist umgebolzt, es steht der neuste Klotz des Architekten Theo Hotz. Mit Sihlcity ist im Süden von ­Zürich ein «neuer Stadtteil» entstanden, «welcher die ursprüngliche Idee von Urbani­tät umsetzt». Doch dieser Betonklumpen ist noch öder als die biederen Computer­animationen, die man vor zwei Jahren auf der Homepage des Architekten be­s­taunen konnte. Sihlcity ist eine Gross­überbauung der Credit Suisse (CS) auf dem Areal der ehemaligen Sihlpapier­fabrik in Zürich. Hier finden sich Platzangst und gähnende Leere auf 100 000 Quadratmetern Mietfläche: achtzig Geschäfte, dreizehn Restaurants, ein Hotel, ein Kino, eine Disco, ein «Kulturhaus», eine Kapelle, sechzehn Wohnungen «mit dem gewissen Etwas für anspruchsvolle Individualisten». Das Hotel hat vier Sterne und Aussicht auf eine Beton­mauer. Es ist ein imposantes Denkmal, das sich die Credit Suisse und die Karl Steiner AG hier errichtet haben. 24 000 Quadrat­meter davon sind Büros, die kaum jemand je brauchen wird. Wie wir schon aus den Medien erfahren konnten, mietet sich die CS bei sich selbst ein, zieht sich mit einer Wuchermiete das Fell selbst über die Ohren und setzt so ein bisschen was von der Steuer ab.

Beim Rundgang versprüht Sihlcity den Charme einer Tiefgarage und verschmilzt so fast mit dem Autobahnzubringer über der Sihl. Das Vordach der Shoppingmall, getragen von zwei zwanzig Meter hohen Betonstelzen, macht den Shopper zum Zwerg. Modernes Fengshui nach Zürcher Art – damit sich die KonsumentInnen in die Starbucks-Filialen flüchten, weil sie die Architektur das Fürchten lehrt. Die wenigen Reste der alten Sihlpapier, die bewusst stehengelassen wurden, sind von aussen so aufgemotzt, dass sie als Zeugen der Industriegeschichte kaum wiederzuerkennen sind. Sie haben das Flair von Modellbauhäuschen aus Plastik. Früher frei stehende Gebäude sind nun umzingelt von modernen Büroblocks. Es entstehen dunkle Ecken und Klaustrophobie erzeugende Gassen, die den provinziellen Geist der Zürcher Stadtplanung unterstreichen. Hier würde ich nachts nicht spazieren gehen, ausser ich hätte einen Beutel Koks zu verticken.

Dadafestwochen

Die Zürcher Papierfabrik an der Giesshübelstrasse im Stadtteil Wiedikon war über zweihundert Jahre lang das wichtigste Industrieensemble an der Sihl auf Stadtzürcher Gebiet. Mitte der achtziger Jahre wurde die Produktion eingestellt, das Areal stand seit dieser Zeit weitgehend leer. 1990 war das Gelände zum ers­ten Mal von Polit- und Kulturaktivist­Innen besetzt worden. Die Polizei marschierte noch am selben Abend auf und räumte. KünstlerInnen schrieben darauf immer wieder Konzepte für Sihlcity und reichten diese bei der Verwaltung ein. Alle bissen sie auf Granit. Die Karl Steiner AG war an künstlerischen Projekten nicht interessiert und stattdessen sauer auf Ursula Koch, die Vorsteherin des Bauamts, die die geplante Überbauung «Utopark» nicht bewilligte – sie fand das vorgelegte Projekt zu hässlich. Als im Sommer 1998 eine Gruppe Politaktivist­Innen in eins der vielen leer stehenden Gebäude einzog, liess man nicht nur die Bewohner­Innen rausschmeissen, sondern auch eini­ge Häuser sofort plattwalzen. In einem Gerichtsverfahren wurde versucht, den BesetzerInnen die Abrisskosten von über 100 000 Franken aufzubrummen. 2003 wurde das Gelände erneut besetzt: Zwischen Februar und Juni fanden die zweiten «Internationalen Zürcher Dadafestwochen» statt, die im Jahr davor das legendäre Cabaret Voltaire im Zürcher Niederdorf wiederbelebt hatten. Ab dann wurde die Sihlpapierfabrik für kurze Zeit zu einem Kulturzentrum von internationaler Ausstrahlung, in dem Ausstellungen, Konzerte, Performances, Lesungen und Theateraufführungen stattfanden. Die ehemalige Papierfabrik stand plötzlich für Dada. Nicht alle waren glücklich dar­über. Der «Tages-Anzeiger» schrieb über «Dada-Vandalismus», und die Karl Steiner AG versuchte, der Stadt Zürich eine gepfefferte Rechnung unterzujubeln. Vorwand hierfür waren Graffitisprühereien an den verlassenen Gebäuden und Müllberge, die angeblich erst während der letzten Monate eines fünfzehnjährigen Leerstands entstanden sein sollen. Ein Teil dieser «Schmierereien» ist nun aber von der Karl Steiner AG kon­serviert worden und fungiert im aktuellen Hochglanzwerbeprospekt der Credit ­Suisse an prominenter Stelle als Indiz für die besonderen «Bohème-Akzente» von Sihlcity.

Wenn die Sessel wackeln

Sihlcity ist nicht mehr als ein Abklatsch des Shoppylands in Spreitenbach, und es ist nicht minder hässlich. Die vielen Shops, auf die wir uns freuen dürfen, sind fast alle Ableger internationaler Ketten, für die Fressbuden gilt dasselbe. Nichts in diesem Areal ist authentisch, alles ist Ramsch von der Stange, Massenprodukte, die man in jeder Einkaufsmeile auf der Welt finden kann. Punkto Einkaufen hat Sihlcity nichts Neues zu bieten, und lokales Gewerbe sucht man vergeblich. Die Mischung aus Hochpreis- und Mittelpreisläden soll eine «Spannung» erzeugen, heisst es bei der CS. Das Multiplexkino Arenacity, betrieben von Pornokinobesitzer Eduard Stöckli, bietet unter anderem ein Erlebniskino in «5d». Das erinnert – wohl eher unfreiwillig – an die «Feelies» aus Aldous Huxleys Roman «Schöne neue Welt», jene Filme, die einen das Gesehene fühlen lassen und mit denen die Menschen paralysiert und in Schach gehalten werden. «5d» bedeutet in Sihlcity, dass während eines Films der Sessel dann und wann zu wackeln beginnt und ab und zu parfümierte Luft versprüht wird, um Gerüche zu vermitteln.

Die neuerdings grösste Diskothek in Zürich heisst Platins und ist der «neue Trend-Club». Allein der Name des Etablissements ist dermassen anmassend, dass dieser Ort eigentlich nur ein Magnet für Glanz-und-Gloria- und Ballermann-Partys werden kann. Zugekokste und betrunkene IdiotInnen von überall werden dann – nach der aktuellen Überflutung der «neuen Kulturmeile Zürich-West» im Kreis 5 – auch in Wiedikon anzutreffen zu sein. Das Quartier wird sich bedanken. Hoffentlich sind genug Entsorgungsangestellte am Start, um nach der Houseparty das Erbrochene aufzuwischen.

Im Sihlcity-Prospekt von Sihlcity wird Kunst grossgeschrieben und dient als Lockvogel für die besser verdienende Klientel. In der Realität kommt sie in Gestalt von penisförmigen Plastikbänken in schreienden Farben daher. Die Installation des St. Galler Künstlers Roman Sig­ner hingegen ist so winzig, dass man sie leicht übersieht. Später sollen AbgängerInnen von Kunstschulen eingeladen werden, die Fassaden zu dekorieren.

Und im «Kulturhaus» wartet eine besondere Überraschung: eine Stanley-Kubrik-Ausstellung, die bereits an fünf verschiedenen Orten auf der Welt gezeigt wurde. Die Ausstellung, in der hauptsächlich Filmplakate, ein paar Skizzen und Nachbauten von Filmkulissen zu sehen sind, dauert fünf Monate. Weiter oben im «Papiersaal» waltet ein gewisser Frederik Born, der im April 2005 einen «Alpäsplash-Surf-Event» auf der Engstligenalp organisiert hat. Hier präsentiert er Bands, die sonst vornehmlich auf Dorffesten auftreten. Immerhin entspricht der Eintrittspreis von bis zu saftigen dreissig Franken dem internationalen Standard.

Beten neben der Asiasauna

Diese zufällige Aneinanderreihung von Ladenhütern und Möchtegern-Kulturinstitutionen aus der Dose braucht ein spirituelles Pendant, und was wäre da passender als ein Gotteshaus, ein Raum der Stille, eine «Kapelle mit Seelsorgeangebot». Sicher werden die Gläubigen hier in Scharen hinpilgern, da die Zürcher Kirchen bekanntlich aus allen Nähten platzen und man besonders an Sonntagen kaum einen ruhigen Platz zum Beten findet. Und danach ein Wellness­program: Das Asiaspa verspricht dem gestressten Konsumenten Balsam nach einer anstrengenden Einkaufstour. Wer bereit ist, 250 Franken hinzublättern, darf eine Stunde lang im privaten Spa die spektakuläre Aussicht auf das Einkaufszentrum Brunaupark und den Auto­bahnzubringer West geniessen. Dass es in Asien nie eine Saunakultur gegeben hat und die «Jasminsaunas» und «Himalayasalzsaunas» Konzepte sind, die von lokalen EventmanagerInnen erfunden wurden, ist ein Detail. Ethnokitsch ist in. Und erlaubt ist, was an den Haaren herbeigezogen wird.

Eine Gesellschaft, die ihren ­Zenit überschritten hat und sich verzweifelt bemüht, den Status quo zu erhalten, flüchtet sich in das Abkupfern von alternativen Lebens­entwürfen, hingelatzt von ideenlosen WerberInnen. Ideenklau prägt Sihlcity. Das Konzept der hier zelebrierten Arbeiten-Wohnen-Party wurde schon vor Jahren von HausbesetzerInnen postuliert und in die Tat umgesetzt.

Dass die InvestorInnen Sinn und Zweck dieser Idee nicht verstanden haben, beweist die Umsetzung: Mit nur sechzehn Wohneinheiten – mehr seien aufgrund der Lage nicht möglich gewesen – ist der Wohnbereich so notdürftig abgedeckt, dass niemals echtes Leben in Sihlcity entstehen wird. Bei dieser Handvoll BewohnerInnen wird deutlich, dass der Werbespruch «Die kleinste Grossstadt» ein anmassender, dummer Scherz ist.

Vielleicht kommen ja die Massen. Vielleicht auch nicht. «Puls 5» im trendigen Zürich-West – ein ähnliches Konsumprojekt aus der Städtebauretorte und verkehrstechnisch wesentlich günstiger gelegen als Sihlcity – ist ausser über Mittag total leer und wirkt wie ausgestorben. Doch letztlich kann den Sihlcity-Eigentümern die Zahl der BesucherInnen, der leer stehenden Büros und die Verschandelung des Stadtbilds egal sein; Hauptsache, die 620 Millionen Franken Investitionsvolumen wurden rechtzeitig verlocht. Angehäuftes Kapital muss in Bewegung bleiben. Und so hat Zürich ein volkswirtschaftlich unsinniges Prestigeprojekt mehr, das völlig an den Bedürfnissen der StadtbewohnerInnen vorbeizielt. Die Folgen dieses Grössenwahns sind steigende Mieten und die Verdrängung des lokalen Gewerbes. Diese Umstrukturierung mündet letztendlich in der Zerschlagung langsam gewachsener Quartierstrukturen. Das Projekt wirkt wie eine zynische Hommage an den Dadaismus.

Zum Autor

Mark Divo, Initiant diverser Kunstprojekte in Berlin, London, Zürich und New York, besetzte im Winter 2002 zusammen mit anderen Kunstschaffenden das Cabaret Voltaire in Zürich, was ein Jahr später zur Gründung des Dadamuseums führte. Er pendelt zurzeit zwischen Prag und Zürich.