So wächst Zürich: Aus der City, aus dem Sinn

Nr. 12 –

Seit es wieder sexy ist, urban im Stadtzentrum zu wohnen, stürmen gut verdienende Arbeitskräfte die vormaligen ArbeiterInnen- und MigrantInnenquartiere.

«Gegen die Gentrifizierung der Innenstädte kann man nichts machen – das Geld wird immer einen Weg finden!» Für Hansruedi Oetiker, den Leiter des Sozialzentrums Dorflinde in Zürich-Oerlikon, ist das die Naturwüchsigkeit der Globalisierung, vor der die Politik erstarrt wie das Mäuschen vor der Schlange. Er hat gerade keine Statistiken zum Zürcher Prekariat und deren bevorzugten Wohnorten zur Hand, aber er ist überzeugt, dass das Problem in Zürich nicht die Prekären sind, sondern die Arbeitslosen. Und dagegen hat die Sozialdepartementsvorsteherin Monika Stocker die Teillohnjobs eingeführt.

Aber die Stadt ist nicht das einzige «Unternehmen», das mit elaborierten Methoden die von der ArbeiterInnenbewegung hart erkämpften Mindestlöhne unterwandert. Längst gibt es in Zürich wie in anderen «global cities» jenen Arbeitsmarkt, der die Nachfrage der neuen Finanzwirtschaft nach unterbezahlten zudienenden Leistungen erfüllt. Seien dies illegalisierte Prostituierte oder Putzfrauen, von Kleinaufträgen überlebende GrafikerInnen, Bauarbeiter am Güterbahnhof, internationale Gastrobetriebe an der Langstrasse oder von Projektarbeit lebende AkademikerInnen – sie alle leben prekär, also unsicher, ohne Sozialversicherungen und in permanenter Exis­tenzangst. Mit einem Lächeln meint dazu Brigit Wehrli-Schindler, Direktorin der Zürcher Fachstelle Stadtentwicklung, dass auch in ihrem Amt viele Teilzeit arbeiten; das sei der neue Lifestyle, ermöglicht nicht zuletzt durch die hohen Löhne in Zürich.

An die gut bezahlten Mitarbeiter­Innen von städtischer Wirtschaftsförderung, Stadtentwicklung und Integration, die Teilzeit arbeiten, um länger bei ihren Familien zu sein, denkt man bei diesen Fragen allerdings nicht, vielmehr an jene Prekarisierten, die unter dem Damok­lesschwert der Langzeitarbeitslosigkeit in Beschäftigungsverhältnisse einwilligen, die sie sonst nie in Betracht gezogen hätten: unbezahlte Praktika (meist bei hochrentablen global tätigen Firmen), Teillohn- und Temporärjobs, hochflexibilisierte Teilzeitanstellungen. Sie hoffen auf den «Klebeeffekt», der ihnen eine Festanstellung mit Sozial- und Existenzsicherung verschaffen soll. Längst reden auch SozialforscherInnen von den materiellen Bedingungen bestimmter Lifestyles und sprechen damit an, dass ein solcher dabei nicht einfach auf der Suche nach Glück selbst gewählt ist, sondern wenigstens zum Teil von den materiellen Bedingungen aufgezwungen wird. Und dieser Lifestyle hat seinen gesundheitlichen Preis: Diskontinuität der Beschäftigung, Flexibilisierung, psychische und physische Dauerbelastung, Leistungsdruck, Beeinträchtigung des Privatlebens, Entspannungsunfähigkeit, permanenter Stress treiben viele in die IV, wo sie schlussendlich zu «Sozialschmarotzer­Innen» werden (frei nach der SVP).

Tiefstlöhne in der Suppenküche

Obwohl Brigit Wehrli-Schindler froh ist, dass «wir keine Verhältnisse haben wie in New York», wo die Prekarisierten und ihre Probleme sich in gewissen Stadtteilen ballen, gehört die Bekämpfung der Segregation zu den Legislaturschwerpunkten der Stadt Zürich – so unbetroffen von der schönen neoliberalen Weltordnung scheint Zürich also doch nicht zu sein. Offenbar ­schlagen sich nämlich «die Globalisierung und der Strukturwandel in der Arbeitswelt, die die Unterschiede bezüglich Einkommen und Qualifikation deutlich verschärfen» (so die Website des Sozialdepartements) auch sozialräumlich nieder. Die Forschungsgruppe sotomo am geografischen Institut der Uni Zürich stellte in verschiedenen Erhebungen klare sozialräumliche Verschiebungen fest, die den Trend der sechziger Jahre umkehren. Damals zogen jene, die es vermochten, aus der Stadt in die Agglomeration; in der Stadt blieben die berüchtigten A – Alte, AusländerInnen, Auszubildende, Arme. Seit den neunziger Jahren ist es dagegen wieder sexy, in der Innenstadt zu wohnen. Dies nicht zuletzt wegen der Aktivitäten genau dieser ungeliebten A: Multikulti-Lebensmittelgeschäfte und Restaurants, Clubs, illegale Bars, trendige Designgeschäfte, «subkulturelle» Galerien geben den Kreisen 3 bis 5 jenen globalen Touch, den die gesuchten, hoch qualifizierten, mobilen Arbeitskräfte suchen und finden. Jene Arbeitskräfte, die laut Zürcher Stadtentwicklung «bei ihrer Standortwahl auf eine hohe Wohn- und Arbeitsqualität achten».

Wie sehr die städtische Verwaltung dabei auf die StadtentwicklerInnen von unten angewiesen ist, zeigt das Desaster von Zürich-West: Bevor die sich in den Nischen der ehemaligen Industrieareale niederlassende Alternativwirtschaft richtig Fuss fassen konnte, nahmen die städtischen Angestellten und die Elitekultur die Stadtentwicklung im Industriequartier in ihre Hände. Das Quartier wurde mithilfe von Marketingstrategien gehypt, nachdem Christoph Marthaler (Schauspielhaus) und Kurt Aeschbacher (Fernsehmann) hohe Kultur und Unterhaltung in den Industriebrachen heimisch gemacht hatten.

Das Resultat ist ein hochmoderner, aber gähnend leerer Turbinenplatz und sinkende Wohnungspreise in den dortigen Immobilien, die die Investoren jetzt noch abstossen wollen, bevor sie gänzlich an Wert verlieren. Nicht einmal der künstlich initiierte Flohmarkt vermochte Leute in den blutleeren «Puls 5»-Komplex zu locken. Die Einöde stört kein Comestiblesladen und auch kein Velomech, und ob das riesige Hardturmeinkaufszentrum mit angeschlossenem Stadion ein wirklich trendiges Quartier schafft, ist zu bezweifeln. Pikante Details: Die Angestellten bei Aeschbachers Suppenküche waren zu so tiefen Löhnen angestellt, dass sie trotz Existenzdruck ausstiegen; die Angestellten von Marthalers Schauspielhaus sollten mit ihren tiefen Löhnen unter anderem die unrentable und superteure Schiffsbauhalle quersubventionieren und entschlossen sich zum Streik. Sie werden nie in die neuen Wohnungen auf dem Escher-Wyss- oder dem Steinfelsareal einziehen, die bis 4000 Franken monatlich kosten. Auch die Nischen für niederschwellige Existenzgründungen sind seit Anfang der neunziger Jahre verschwunden, als mit der Umzonung in die Wohnzone der Sturm auf die frei gewordenen Industriebrachen begann. Es sei, sagt Brigit Wehrli-Schindler, aber auch nicht Aufgabe der Stadt, Nischen dauerhaft zu erhalten.

Die Prekären gehören nicht zur Zielgruppe der Zürcher Stadtentwicklung. «Architektonisch hochstehende Schlüsselprojekte, die Impulse für die Stadtentwicklung auslösen» – wie der Stadtraum HB, das Maag-Hochhaus, das Hardturmstadion oder das Konferenzzentrum – sind für andere gedacht: Für «Unternehmen mit hoher Wertschöpfung», wie es im Strategiepapier der Zürcher Wirtschaftsförderung heisst, Unternehmen wie Banken und Versicherungen, «Branchen mit Zukunftspotenzial» wie Informations- oder Kommunikationstechnologie, Bio- oder Medizinaltechnologie und die «internationalen Headquarters multinationaler Unternehmen».

Nächste Station Altstetten

Nach dem Strategiepapier «Zürich 2025» und der Zürcher Wirtschaftsförderung zählen im Standortwettbewerb neben der laut Mercer-Umfrage weltweit höchsten Lebensqualität in Zürich ein tiefer Steuersatz, Sicherheit, die Pflicht zum Arbeitsfrieden, die trotz hohen Bildungsniveaus im internationalen Vergleich tiefen Lohnkosten, ein grosses Personalreservoir, ein flexibles Arbeitsrecht und ebenfalls flexible und hoch motivierte Arbeitskräfte.

Der Stadt, die sich beschreibt als «Dienstleisterin für die Unternehmen des Finanzplatzes, die gute Rahmenbedingungen schafft», und auch der Wirtschaft gereichen diese zum Vorteil. Anderen werden sie aus verschiedenen Gründen zum Verhängnis: Nicht überall ist die Verbindung von globalen Unternehmen und prekären Arbeitsbedingungen so direkt wie bei den von ihnen angebotenen unbezahlten Praktika. Oder bei den Zulieferern von Leistungen wie Reinigung, Catering, Werbung oder Sicherheit, die illegalisiert, unterbezahlt, von Auftrag zu Auftrag, Projekt zu Projekt, Teilzeit oder temporär arbeiten. Auch eine ganze Unterhaltungsindustrie deckt reproduktive Bedürfnisse ohne existenziellen Schutz. Und in einem grösseren Kontext geht es auch noch um den Wettbewerb zwischen schlecht bezahlten Arbeitskräften hier und anderswo auf der Welt, der in der Antiglobalisierungsdiskussion immer wieder auftaucht.

Die Schattenseite des Standortwettbewerbs, das neue Prekariat, soll nicht nur aus dem Sinn, sondern auch aus den Augen verschwinden: Die Gentrifizierung des Kreis 5, die mit der Räumung des besetzten Wohlgroth-Areals begann, mit der Bekämpfung der Drogenszene (die von der Polizei erst in diesen Kreis hineingetrieben wurde) und Investorenbauten wie den «Docks» weiterging und im totalen Umbau des oberen Industriequartiers mit seinen Industriebrachen einen vorläufigen Höhepunkt fand, ist nur der Anfang eines Prozesses, der auch die Kreise 3 und 4 ergreift. Aufwertung der Langstrasse durch «Langstrasse Pro», Aufwertung der Weststrasse zur verkehrsberuhigten Quartierstrasse, Stadtraum HB, Justiz- und Polizeizentrum oder Sihlcity, um nur einige Gentrifizierungsprojekte zu nennen, sollen durch lokale Interventionen die Stadtentwicklung steuern.

Die BewohnerInnen der so aufgewerteten traditionellen Arbeiterinnen- und Migrantenkreise werden wegen der steigenden Mieten wohl oder übel an die Stadtränder ziehen müssen, nach Schwamendingen, Oerlikon und Affoltern, wo es schön grün ist und die Sozialhilfe bereits mit verbesserten Angeboten auf ihre neue Kundschaft wartet, während die Stadtentwicklung mit der Schwamendinger Imagekampagne «Image» für den richtigen Groove sorgt. Oder sie müssen nach Altstetten, wohin leitende städtische Angestellte jetzt schon die Alternativ- und Kulturszene verweisen, die doch bitte schön auch dieses Quartier gentrifizieren soll. Damit dann die sozial Schwachen, Prekären, Alten, Migrant­Innen und sonstige Ungeliebte nach Spreitenbach, Schlieren und Dietikon weiterreisen können. Oder von Schwamendingen und Affoltern noch weiter hin­aus nach Rümlang und Oberglatt. Einfach raus aus der Stadt!