Finanzkapitalismus: Gepriesen sei der Finanzpatriotismus
Geld ist eine Glaubensfrage. Damit dieser Glaube nicht ins Wanken gerät, gibt es «SF Börse» und Umfragen der Bankiervereinigung.
«SF Börse» ist die überflüssigste Sendung des Schweizer Fernsehens. In zweieinhalb Minuten, täglich zwischen «Schweiz aktuell» und den Hauptnachrichten, servieren SprecherInnen lächelnd die Börsenkurse, picken ein Unternehmen heraus, zu dem ein Experte eine Banalität absondert, und schliessen mit einem Witzchen. Seit ihrer Einführung im August 2006 hat die Sendung noch nie einen Primeur geliefert; wenn etwas Spektakuläres passiert, wie die Börsenkrise in China oder Raiderangriffe auf Schweizer Firmen (Saurer, Sulzer, Implenia), muss das in den Hauptnachrichten behandelt werden. Für BörsenspezialistInnen ist die Sendung sowieso nicht gedacht.
So überflüssig «SF Börse» sein mag, behauptet die Sendung ihren Sinn – und zwar in dreifacher Weise: Sie macht die Börse zur alltäglichen Nachricht, demonstriert, wie man dort Geld verdienen kann, und unterstellt, dass sich deren unergründliche Gesetze allen Steuerungen entziehen.
«SF Börse» reagiert aber auch auf eine Entwicklung, die vor knapp zwei Jahrzehnten begann. 1990 besassen 12 Prozent der Schweizer Bevölkerung Aktien, dann kam eine neue Goldgräberzeit mitsamt den Versprechungen von Martin Ebner, dem Mann mit der Fliege, und im Jahr 2000 war jeder dritte Schweizer Aktienbesitzer. Doch mit dem Börsencrash geriet der «Volkskapitalismus» in die Krise. Seit 2004 stagniert der Aktienbesitz bei 20 Prozent, wobei Männer doppelt so stark vertreten sind wie Frauen. Zusammen mit Einlagen in Anlagefonds besitzen heute 34,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung an der Börse gehandelte Wertpapiere, doppelt so viele wie in Deutschland und mehr als in den USA.
Das Kreditgewerbe
Der Volkssport Börse überspielt die Tatsache, dass der Beitrag des Bankgewerbes zur Schweizer Wirtschaft tendenziell überschätzt wird. Der Anteil der Beschäftigten im Kredit- und Versicherungswesen ist seit 1991 zurückgegangen, von 6,5 auf 5,7 Prozent. Über den Anteil der Banken und Versicherungen am Bruttoinlandsprodukt kann man sich nicht einigen: Während es beim Bundesamt für Statistik und bei der Bankiervereinigung 9 Prozent sind, dürfen es in einer soeben publizierten NZZ-Sonderbeilage zum Finanzplatz Schweiz auch schon mal «rund 15 Prozent» sein, und Privatbankier Konrad Hummler redet an derselben Stelle gar von «15 bis 20 Prozent».
Trotzdem ist nicht zu bestreiten, dass der Bankensektor der Schweizer Volkswirtschaft überproportional viel Geld einträgt. Und zwar durch eine Vielzahl von Dienstleistungen, durch immer raffiniertere Anlagemöglichkeiten, vor allem für ausländische und reiche Kunden. Zu Zeiten von Adam Smith, dem angeblichen Ahnherrn des heutigen Wirtschaftssystems, war es noch unvorstellbar, dass Banken längerfristig Mehrwert schaffen könnten. Zwar mögen ein paar der neuen Instrumente des Casinokapitalismus bestimmte Funktionen erfüllen, wie Absicherung bei extremer Unsicherheit und bessere Zuteilung von Geld; aber in einer «rationalen» Volkswirtschaft sind die meisten Produkte – Derivate et cetera – überflüssig. Nichtsdestotrotz bezweifelt kaum jemand ihre Wünschbarkeit und Notwendigkeit.
Fetische allenthalben
Alle grundlegenden wirtschaftlichen Instrumente beruhen zu einem gewissen Grad auf einer kulturellen Übereinkunft, ja, einem Moment des Glaubens. Dass ich mir mit einem Stück bedruckten Papiers handfeste Dinge kaufen kann, ist nur möglich, weil sowohl ich wie auch der Verkäufer der Ware wissen – oder daran glauben –, dass sich dieses Stück Papier gegenüber einer dritten Person wiederum gegen Waren eintauschen lässt.
Mit dem im 18. Jahrhundert aufgekommenen und mit der Industrialisierung explodierten Kredit – Schuldscheinen in grösserem Ausmass – erhält Geld nebst seiner Eigenschaft als Tauschmittel eine zusätzliche Funktion: Als Einzelfall betrachtet, ist Kredit ein Vorschuss. Zugleich ergibt sich mit ihm die Möglichkeit, neues Geld zu schaffen. Eine Bank kann das bei ihr eingezahlte Geld an eine andere Bank verleihen, die damit ihrerseits im Pyramidenprinzip wieder Kredite finanziert. In der ökonomischen Theorie wird das als Geldschöpfungsmultiplikator bezeichnet, und es gibt eine schöne Formel und eine Grafik dazu. Dieser Schöpfungsakt aus dem Nichts wird schmerzhaft sichtbar in einer Krise: wenn plötzlich alle BankkundInnen ihr Geld zurückwollen, und es ist nicht genügend da, weil die Kredite nur ein versprochener Vorschuss waren.
Der Ökonom John Kenneth Galbraith hat dazu gemeint: «Der Prozess, durch den Banken Geld erzeugen, ist so einfach, dass der Verstand davon zurückgestossen wird und es gar nicht akzeptieren will.» Dass ein grundlegendes Mittel unserer Wirtschaft wie der Kredit auf so verblüffende, dubiose und riskante Weise funktionieren soll, ist eine Zumutung, verletzt sozusagen unsere Dignität; also verdrängen wir die Tatsache und retten uns in einen Glauben an die wertproduzierende Macht des Geldes.
Die jüdisch-christliche Tradition hat den «Götzen Mammon» kontinuierlich als Konkurrenz von Religion begriffen und kritisiert. Umgekehrt ist die Wirtschaft immer wieder mit der Religion verglichen worden. Der Schriftsteller Urs Widmer beispielsweise hat in einem schönen Essay «Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück» geschrieben, im Umgang mit Geld fielen wir alle in «alte magische Muster» zurück, als «Mitglieder einer weltumspannenden Religion».
Karl Marx sagte es ähnlich: «Der öffentliche Kredit wird zum Credo des Kapitals.» Zur Erklärung des Prozesses hat er den Begriff «Fetischcharakter» von Ware, Geld und Kapital verwendet. Damit spielt er zwar auch auf ein «Zauberwerk» an, das uns etwas vorgaukelt: Was Resultat menschlicher Handlungen ist, wird als übermächtiges Naturgesetz erfahren, das die Menschen beherrscht. Geld erscheint als Wert an sich, wo es doch nur ein Mittel ist, die materiellen Tätigkeiten der Menschen auszutauschen.
Doch der Begriff vom Fetischcharakter meint mehr als eine Bewusstseinstäuschung. Der Fetischcharakter ist nicht nur eingebildet, eingeredet, sondern «real»: So funktioniert die Wirtschaft. Wir bewegen uns alltäglich darin und werden alltäglich davon geprägt. Dass wir Kapitalzinsen zahlen, ist real und insofern «wahr»; nicht, weil Kapital tatsächlich Zins produziert, sondern weil die wirtschaftliche und soziale Verfassung unserer Gesellschaft dem Kapitalbesitzer einen Zins zuerkennt. Marx nennt das zinstragende Kapital «dies mystische Ding, Mutter aller verrückten Formen». Wenn er von einer «Religion des Alltagslebens» spricht, in der man sich einrichtet, so anerkennt er zugleich die Macht dieser Religion.
Als grundsätzliche Analyse scheint mir das weiterhin zutreffend. Wir alle wissen «eigentlich», dass das Geld, das wir auf die Bank bringen, nicht arbeitet. Und dennoch glauben wir daran, dass wir Anrecht auf mehr Geld auf unserem Bankkonto und unserem Kapital haben. Denn solche alltäglichen Denk- und Handlungsformen werden durch ideologische Zuarbeitungen verfestigt. So hat die Macht dieser «Alltagsreligion» in den letzten zwanzig Jahren unvergleichlich zugenommen, durch die Individualisierung, die alle Menschen stärker auf den Markt wirft, durch den Siegeszug des Neoliberalismus, der Gewinnstreben zum einzigen Prinzip erklärt hat.
Widersprüche, Widersprüche
Doch diese Entwicklung ist nicht ohne Widersprüche. Jedes Jahr gibt die Schweizerische Bankiervereinigung eine Umfrage in Auftrag und verkündet dann, wie angesehen das Bankgewerbe sei. 2006 hatten 59 Prozent eine positive bis sehr positive Meinung davon, nur 15 Prozent eine negative. Die Banken werden als wichtigster Wirtschaftsfaktor der Schweiz eingeschätzt, vor Pharma und Chemie, Maschinenindustrie und Tourismus. Wenn man freilich das Kleingedruckte in der Umfrage liest, kommen Überraschungen zum Vorschein: Eine Mehrheit findet, die Banken täten zu wenig gegen Geldwäscherei und Diktatorengelder, eine klare Mehrheit meint, die Banken kümmerten sich ungenügend um Schweizer KundInnen und um Schweizer KMU, und eine erdrückende Mehrheit glaubt, die Banken scherten sich einen Dreck um junge, innovative Unternehmen und seien zu wenig transparent. Wobei die Resultate für die Grossbanken noch vernichtender als für die Lokal- und Kantonalbanken ausfallen. Mit andern Worten: In vielen Bereichen wird der lausige Service der Schweizer Banken kritisiert, und trotzdem wird ihnen ein gutes Gesamtimage zugesprochen. Man müsste für dieses Paradox ein wenig Ideologie- und Diskursanalyse betreiben. Die Macht des faktischen Arguments, da die Banken wichtig seien, könnten sie nicht gar so schlecht sein, setzt sich über die konkreten Erfahrungen hinweg, und all die Kampagnen für einen Finanzpatriotismus zeigen ebenfalls Wirkung.
Der Sonderfall Schweiz
Im neuen «Spiegel-Extra Schweiz» loben die Schweizer Wirtschaftsführer die Schweizer Tugenden: keine Einmischung der Politik in die Wirtschaft, hohe Arbeitsmoral, schwache Gewerkschaften, flexible Steuergesetze. Konrad Hummler bricht diese Tugenden auf den Bankenplatz herunter und liefert in der NZZ eine mittelständische Version des Finanzpatriotismus. Er begründet den Erfolg des Finanzplatzes damit, dass hierzulande, praktisch einmalig auf der Welt, keinerlei «Konfiskationsabsichten» gegenüber dem «produzierenden Mittelstand» bestünden. Worauf die Geschichtsphilosophie mit ihm durchbrennt: «Die Menschheitsgeschichte lehrt, dass der produzierende Mittelstand eigentlich zu jeder Zeit von Konfiskationen bedroht war. [...] Das 20. Jahrhundert brachte mit Kriegen, Hyperinflation, Holocaust und Währungseinschnitten von konfiskatorischer Wirkung einmal mehr vor allem den produktiven Mittelstand in höchste Bedrängnis.»
Natürlich weiss der gute Doktor Hummler, dass der Schweizer Finanzplatz weniger vom deutschen Zahnarzt als vom postsowjetischen Oligarchen profitiert. Er weiss vermutlich auch, dass der Schweizer Bankensektor nicht deshalb so profitabel ist, weil er rational so viel zur Volkswirtschaft beiträgt, sondern weil ihm im gegenwärtigen ökonomisch-politisch-kulturellen Gefüge so viel Geld für seine Tätigkeit zugestanden wird. Es entspricht keinem ökonomischen Gesetz, dass Investmentbanker bei einer Fusion abzocken, sondern einer politisch-kulturellen Konstellation, die entsprechende Stundenansätze und Kommissionen und Boni zulässt.
Denkalternativen
Die Börse, lange Zeit anrüchig oder esoterisch, ist ein sichtbarer Ausdruck davon. Uns als KundInnen sollen sich neue Perspektiven für unser bescheidenes Vermögen auftun. «SF Börse» versichert jeden Tag zweieinhalb Minuten lang, dass man von all diesen Börsenoperationen mit etwas Glück und Schläue durchaus profitieren kann. «Cash daily» will sich vom gesteigerten Interesse ein tägliches Stück abschneiden. Die Credit Suisse informiert mich in einem Werbebrief, dass ich auf ihrer Website einen neuen praktischen Finanzrechner vorfinde, der meinen theoretischen Vermögenszuwachs auf fünfzig Jahre hinaus berechnet.
Ob das Börsenroulette für alle Gesellschaftsmitglieder zur alltäglichen Erfahrung wird, ist offen. Aber in der Wirtschaft kommt man nicht mehr daran vorbei. Entsprechend hat etwa die bedächtige Zürcher Kantonalbank dem Druck der Branche nachgegeben und sich nicht nur in den Geschäftspraktiken und Gewinnerwartungen angeglichen, sondern teilweise auch eine Verhaltenskultur übernommen, in der Geld gleich Macht gleich Sex ist. Allerdings ist die Realität auch deshalb so mächtig, weil kaum mehr eine Alternative in Sicht ist.
Wir brauchen zumindest Denkalternativen, von der anscheinend rettungslos diskreditierten Planung über Regulierungen bis zu zinslosen Wirtschaftsformen im Kleinen. Für die Einübung neuer Denk- und Handlungsformen mag vieles recht sein, die Abzockerinitiative ebenso wie die Diskussion um den verantwortungsvolleren Einsatz von Geldern durch Pensionskassen: alles, um den Fetischcharakter durchschaubar zu machen. Danach kann es vielleicht an die Veränderung der Wirtschaft gehen.