Antidepressiva für alle?: Kuriose Wissenschaft

Nr. 32 –

Das würde sich lohnen, behauptet ein Harvard-Professor. Hinter seinem skurrilen Denkmodell stehen wirtschaftliche Interessen.

Bahnbrechende Erkenntnisse waren kürzlich einer renommierten ökonomischen Fachzeitschrift zu entnehmen: ForscherInnen haben berechnet, dass die flächendeckende Ausgabe von Bohrgeräten zur Erstellung von Tunneln quer durch die Erde gesamtökonomisch günstiger wäre als die derzeit praktizierte Vielfliegerei. Neben dem direkten Gewinn durch die Zeitersparnis und die deutlich geringeren Reisekosten auf die andere Seite der Welt schlügen dabei auch die massiven Einsparungen bei Kerosin und CO2-Emissionen positiv zu Buche. Dieses Ergebnis könne allerdings, gaben die Autor-Innen in der Abschlussbewertung ihrer Studie zu bedenken, grundsätzlich anders ausfallen, wenn man die Möglichkeit in Betracht ziehe, dass die Erde -dicker als zwei Kilometer oder womöglich gar keine Scheibe sei.

So unglaublich die Geschichte klingt, sie hat doch einen seriösen wissenschaftlichen Hintergrund. Es ging allerdings nicht um Tunnelbohrmaschinen, sondern um Medikamente. Die Fachzeitschrift «PharmacoEconomics» veröffentlichte in ihrer Juni-Ausgabe eine Studie zu «Kosten und Vorzügen direkter Verbraucherwerbung». Die Aufhebung des Werbeverbots für rezeptpflichtige Arzneien steht ganz oben auf der Wunschliste von Pharmaunternehmen; auch in der EU-Kommission gibt es Stimmen für die Zulassung direkter Arzneiwerbung. Bisher ist Werbung für rezeptpflichtige Medikamente nur in den USA und in Neuseeland erlaubt, was erwiesenermassen dazu geführt hat, dass beworbene Mittel deutlich öfter verschrieben werden.

Um der Kritik an Laienwerbung entgegenzuwirken, rechnet der Gesundheitswissenschaftler Adam Block aus Harvard vor, der durchschnittliche Gewinn an Lebensqualität für jeden mit Antidepressiva behandelten Patienten sei 63 Mal grösser als die anfallenden Therapiekosten. Die Berechnung erfolgt anhand sogenannter qualitätsadjustierter Lebensjahre (QALYs), einer recht willkürlichen Umrechnung von Krankheiten und Behinderungen in kalkulierbare Preisgrössen. In QALYs fliessen Lebenserwartung und -qualität ein, sie dienen zur Bezifferung der Kosteneffektivität medizinischer Massnahmen. Damit errechnet der Harvard-Professor den «Wohlfahrtsgewinn» einer flächendeckenden antidepressiven Behandlung der gesamten US-Bevölkerung auf fast hundert Millionen Franken. Obwohl nur einer von zwanzig Behandelten das Medikament wirklich brauche, sei der Gewinn aufseiten der tatsächlich an Depression erkrankten BürgerInnen überwältigend. Dieser Befund könne aber, so der Autor in der abschliessenden Diskussion, völlig anders ausfallen, würde man die unerwünschten Wirkungen von Antidepressiva berücksichtigen. Die hatte er nämlich in seiner Kalkulation unter den Tisch fallen lassen.

Dass Psychopharmaka keine Nebenwirkungen haben, die zusätzliche Kosten verursachen, ist ebenso realistisch wie die Annahme, dass die Erde eine dünne Scheibe ist. Nach bisherigem Wissensstand gehören Mittel gegen psychiatrische Störungen zu den tückischsten Medikamenten. Sie rufen eine Reihe direkter Begleiterscheinungen wie Blutdruckabfall, Kopfschmerzen, Verwirrtheit, Magen-Darm-Probleme und sexuelle Störungen hervor. Noch weitaus problematischer sind die häufigen Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln, deren Wirkung sie je nach Indikation verstärken oder abschwächen. Es gehört schon eine gewaltige Portion Weltfremdheit dazu, so grundlegende Einflussgrössen in einer aufwendigen Berechnung komplett zu ignorieren.

In der schlichten Modellwelt der Ökonomie werden externe Effekte indes viel zu selten und nur zufällig berücksichtigt. Von so nahe liegenden Folgen wie den ökonomischen und ökologischen Zusatzkosten der erhöhten Tablettenproduktion für ein 320-Millionen-Volk ist ebenso wenig die Rede wie von praktischen Überlegungen, ab welchem Alter sich denn die universelle Antidepressivatherapie rechnet, ob bereits Neugeborene die Mittel erhalten sollen oder ob man es am besten gleich dem Trinkwasser beimischt.

Seine Studie zeige, behauptet der Autor, dass die wirtschaftlichen Folgen von Laienwerbung für verschreibungspflichtige Medikamente keineswegs besorgniserregend seien. Viel nachdrücklicher belegt er aber, welchen Unsinn selbst jene renommierten US-Universitäten verzapfen können, auf die europäische BildungspolitikerInnen so gerne blicken und dabei verzückt von Elite oder Exzellenz schwafeln.

Hinter der realitätsfernen «Erkenntnis» stecken allerdings Methode und System. Sie liefert wissenschaftliche Rückendeckung für die Umerziehung des Menschen zum marktkompatiblen Wirtschaftssubjekt. Dieser «homo oeco-nomicus», der «neue Mensch» der marktbeseelten ModellbauerInnen, ist der Komplexität einer kugelförmigen Welt kaum gewachsen. Von der schnöden Realität lassen sich die DünnbrettbohrerInnen und MarktschreierInnen aus wirtschaftswissenschaftlichen Elfenbeintürmen ihr schönes Denkmodell nicht kaputtmachen.