Finanzkapital : Gezinkte Wetten
Mathematische Modelle sollen Gewissheit geben, dass die Finanzmärkte seriös sind. Doch in erster Linie sind sie nur Marketinginstrumente.
Derivate waren im Spiel, als die Zürcher Kantonalbank Oerlikon-Bührle und Sulzer an Finanzinvestoren verschacherte: Die ZKB verkaufte Verträge, mit denen die Käufer das Recht erhielten, die Aktien der betreffenden Unternehmen zu einem bestimmten Preis kaufen zu können. Diese Verträge werden Derivate genannt, sie bilden heute die Grundlage für alle grossen Finanztransaktionen von Unternehmen und AnlegerInnen.
Derivate und die Finanzmärkte, an denen sie gehandelt werden, gelten als wertneutral. Oft ist die Rede von «Wetten», die im Zusammenhang mit Derivaten geschlossen würden. Etwa bei einem Termingeschäft, bei dem die eine Partei mit einem Anstieg eines bestimmten Wertes rechnet, während die Gegenpartei auf die gegenteilige Entwicklung spekuliert. Mit dem Begriff «Wette» ist aber die Idee verbunden, dass alle gleiche Voraussetzungen haben, um an dem grossen Gewinnspiel teilzunehmen. Das ist nicht die Realität. Denn einerseits werden die Spielregeln von den grossen MarktteilnehmerInnen gemacht, anderseits besteht ein Informationsgefälle, und es gibt Marktmanipulationen. Es handelt sich also gewissermassen um gezinkte Wetten.
Wenn Derivate aber den Ruf gezinkter Wetten hätten, wäre es nicht möglich, sie massenhaft einzusetzen. Man musste sie berechenbar machen. Die Berechenbarkeit wurde durch einen Kunstgriff möglich. Denn nur wenn von der Annahme ausgegangen wird, dass sowohl KäuferIn als auch VerkäuferIn zum Zeitpunkt des Abschlusses über die genau gleichen Informationen verfügen, können dafür Rechenmodelle entwickelt werden. Nur so lässt sich der Preis von Derivaten berechnen.
Der «unpolitische» Blick
Wie gesagt, die Realität entspricht nicht diesen Vorstellungen. Und die mathematischen Modelle sind deshalb nur Marketinginstrumente, die zur Verschleierung von Ungleichheiten und sozialen Zusammenhängen dienen. Hätten nämlich alle die gleichen Chancen, wäre es beispielsweise dem Anlagechef der Rieter-Pensionskasse, Jürg Maurer, nicht möglich gewesen, sein Vermögen innerhalb von vier Jahren von einer knappen halben Million auf 69 Millionen Franken mehr als zu verhundertfachen. Die Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen dieser Vermehrung dürfte in Grössenordnungen von eins zu einer Million liegen. Und Maurer war nicht der Einzige, der sich so bereicherte. Studien zum Zusammenbruch des legendären Hedgefonds Long Term Capital Management (LTCM) betonen etwa, dass dem sozialen Faktor innerhalb der spekulierenden Community eine zentrale Funktion zukomme. Dieser Faktor sei für den Zusammenbruch des LTCM im Jahre 1998 von grösserer Bedeutung gewesen als die «reale Ökonomie» oder Ereignisse ausserhalb des Spekulationsmarktes.
Durch die wissenschaftliche Herangehensweise hat sich auch das Verhalten der AkteurInnen geändert. Die Derivate und das dahinterstehende Denksystem erlauben einen sogenannt «unpolitischen» Blick auf die Realität. Gerade dieser «unpolitische» Blick entstand allerdings in einem hochpolitischen Umfeld: Als nach dem Zweiten Weltkrieg der US-Senator Joseph McCarthy eine grosse Hexenjagd gegen alles inszenierte, was «links» war, begann sich eine Generation von aufstiegswilligen Akademikern auf «objektive», «unideologische» Wissenschaft zu konzentrieren. Mathematische Modelle, die als wertneutral galten und denen daher keine «linke» Ideologie vorgeworfen werden konnte, lieferten die Basis - auch in der Ökonomie. Praktisch alle grundlegenden Modelle der Finanzmärkte sind in dieser Zeit entstanden. Noch heute beherrschen sie den akademischen Diskurs.
Ende der Neunziger, unter US-Präsident Bill Clinton, schafften die Derivate den Durchbruch. Robert Rubin, der damalige Finanzminister und frühere Wechselkursspekulant, stand auch politisch für diese neue Entwicklung. Während seine Vorgänger noch viel von Diplomatie hielten und den persönlichen Kontakt zu den AmtsinhaberInnen in anderen Ländern pflegten, richtete er die Wirtschaftspolitik nach den Grundsätzen und Verhaltensweisen an den Märkten aus. Sein wichtigstes Instrument war das Telefon, so war er es von seiner früheren Tätigkeit her gewohnt. In der Zeit Rubins wuchs der Einfluss der Finanzhäuser auf die Regierung. Als um 1997 im damals plötzlich von einer Rezession geplagten Südkorea die Privatbanken in Schwierigkeiten gerieten, stammte der Plan zum Umgang mit dieser Krise vom Bankhaus J. P. Morgan.
Mit Präsident George Bush begann sich das Blatt zu wenden. Jetzt gewannen vermehrt realwirtschaftlich orientierte Unternehmen wie Haliburton und Carlyle an Gewicht, die der Familie Bush nahestanden. Haliburton etwa organisierte den Wiederaufbau der irakischen Erdölindustrie, belieferte die US-Army mit überteurem Benzin und ist unterdessen von Korruptionsklagen überhäuft. Die Carlyle-Gruppe wiederum ist ein global tätiges, milliardenschweres Private-Equity-Unternehmen. In den obersten Führungsgremien sitzen vor allem hohe Expolitiker wie der frühere britische Premierminister John Major oder George Bush senior. Carlyle ist ein weltweit führendes Unternehmen für die Privatisierung von Staatsaufgaben. Es verscherbelt von US-Spitälern bis zu italienischen Museen und Villen alles, was sich im Besitz der öffentlichen Hand befindet. Ausserdem hat sich Carlyle auch auf Engagements in Rüstungsfirmen spezialisiert.
Beide Unternehmen verkörpern auf realwirtschaftlicher Ebene eine Ideologie, die der frühere Vizehandelsminister der USA, Jeffrey Garten so beschrieb: «Es ist eine Tatsache, dass die globalen Finanzmärkte das zentrale Verbindungsglied zwischen öffentlichen und privaten Institutionen, ihren Mechanismen und Interessen darstellen.» Garten ist mit seiner Aussage allerdings nicht ganz korrekt. Denn letztlich hat die Privatwirtschaft die Regierung übernommen, wie gerade Haliburton und Carlyle zeigen. Zentral aber waren für solche Unternehmen wiederum die Derivate: Erst durch sie wurde es möglich, das Risiko von Bankkrediten, die im Zusammenhang mit Unternehmensübernahmen gewährt wurden, an Dritte weiterzuveräussern. Carlyle konnte so die Übernahme von Unternehmen finanzieren, ohne sich selbst mit dem Risiko eines Kreditausfalls belasten zu müssen. Die Risiken übernahmen wiederum - gegen Entschädigung natürlich - Pensionskassen, Versicherungsgesellschaften, aber auch Hedgefonds. Vorwiegend dank dieses Kreditgeschäfts erzielten die Banken in letzter Zeit epochale Gewinne.
Die drohende Börsenkrise verlangt nun eine Umorientierung von Carlyle und Haliburton. Nach Zeitungsberichten scheint etwa Carlyle Schwierigkeiten bei der Finanzierung einzelner Privatisierungen zu haben. Wenn die Zinsen ansteigen, wird die Refinanzierung teurer. So ist für erfolgreiche Privatisierungen eine grosszügige Versorgung der Finanzmärkte mit Liquidität notwendig. Denn bloss in einer reichlich mit Liquidität versorgten Volkswirtschaft besteht eine genügende Nachfrage nach privatisierten staatlichen Gütern.
Aufgepumpte Geldkreisläufe
Diese Liquidität wurde in der Vergangenheit immer bereitgestellt: Seit Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts haben die Finanzmärkte einen bisher nie da gewesenen Mittelzufluss erlebt. Diese Geldschöpfung basierte auf laxen Vorschriften durch die Behörden, die es den in den Finanzmärkten tätigen Unternehmen weitgehend überliessen, wie weit sie die Finanzmittel durch Kontrakte ausdehnten. Die Behörden erlaubten es den Finanzunternehmen gewissermassen, mit Hilfe von Kreditderivaten eigenes Geld zu drucken. Die tiefen Zinssätze unterstützten das. Dazu einige Zahlen: In den Jahren 1986 bis 1999 vermehrte sich beispielsweise das Buchvolumen sämtlicher Kapitalanlagen um das 28-Fache. In der Zeit von 1982 bis 2000 nahm der Dow-Jones-Index um rund das Achtfache zu, während sich die Unternehmensgewinne verdoppelten. Im April dieses Jahres rätselte das «Wall Street Journal» darüber, wie etwa der Anstieg des Dow-Jones-Indexes um achtzehn Prozent seit Anfang 2006 erklärt werden soll, wenn doch gleichzeitig das Bruttosozialprodukt bloss um zwei Prozent gestiegen ist. Dank des Produktionsbooms in Niedriglohnländern und der Schwäche der Gewerkschaften schlug sich die Ausdehnung nicht in höheren Preisen für Güter nieder. Die Ausdehnung der Geldmenge gekoppelt mit geringer Inflation war ein ideales Spekulantenspielfeld.
Bei einer ständig enorm wachsenden Geldmenge gehören aber grundsätzlich alle TeilnehmerInnen zu den GewinnerInnen von Finanzspekulationen. Denn im Normalfall werden ja nie bloss einzelne Kontrakte auf den Verlauf einer Aktie oder eines anderen Wertobjektes abgeschlossen, sondern immer gleichzeitig vielfältige Absicherungsstrategien realisiert. Investiert etwa ein Hedgefonds nach der Strategie Long-Short, kauft er bestimmte Titel, von denen er sich einen Anstieg verspricht, während er andere, bei denen er mit Verlusten rechnet, verkauft. Steigt aber dank ständig zunehmenden Geldzuflusses das Niveau des Marktes, wie es in den letzten Jahrzehnten der Fall war, kann der Hedgefonds bei erfolgreicher Spekulation seine Position markant verbessern. Bei einer schlechten Auswahl der Aktien verbessert er zwar seine relative Position im Finanzmarkt nicht, aber der allgemeine Trend beschert ihm trotzdem einen guten Profit, da er vom Trend gewissermassen mitgerissen wird. Denn der Hedgefonds gewinnt allemal, da er dank der allgemeinen Geldschöpfung im Finanzsektor seine Position zur Realwirtschaft verbessert.
Mag sein, dass es im Gefolge der sich anbahnenden allgemeinen Börsenkrise vorerst zu einer Abflachung der wirtschaftlichen Entwicklung kommt. Aber an der Struktur wird sich wenig ändern. Denn angesichts des starken Engagements von spekulativen Unternehmen in der Realwirtschaft wird es zunehmend schwieriger, den Geldhahn zuzudrehen und die Spekulation zu bremsen. So werden die Finanzmärkte durch die Zentralbanken so lange mit Liquidität versorgt, bis sich die grossen Unternehmen auf die neue Situation eingestellt haben. Die Spekulation mag dabei für kurze Zeit etwas an Gewicht verlieren. Doch letztlich dürfte die sich anbahnende Krise wiederum die Konzentrationstendenzen verstärken, da nur die grossen InvestorInnen und (Finanz-)Unternehmen über genügend Mittel verfügen, um konkursbedrohte andere Unternehmen zu übernehmen. Diese Aussicht wird die Finanzmärkte wieder beflügeln.