Berlin-Kreuzberg: Kanaken, alte KämpferInnen, Schwimmbadverbote
Mitten in der deutschen Hauptstadt treffen freiwillige und unfreiwillige AussenseiterInnen aufeinander. Diese Mischung schuf ein buntes Quartier. Und immer wieder Spannungen.
Bis Ende April 1987 stand hier ein Supermarkt. Dann explodierte am 1. Mai das ganze Viertel. Der Supermarkt am Görlitzer Bahnhof wurde zuerst geplündert, dann von RentnerInnen, Arbeitslosen und jugendlichen MigrantInnen angezündet. Jahrelang klaffte inmitten von Kreuzberg eine Lücke – Mahnmal eines an sich irre gewordenen Bezirks. Nun steht an derselben Stelle eine Moschee, ein unspektakuläres islamisches Gotteshaus mit nicht allzu hohen Minaretten, das ohne das andernorts übliche deutsch-christliche Untergangsgetöse errichtet wurde.
Vor zwanzig Jahren also waren in Berlin-Kreuzberg bereits Spannungen sichtbar geworden, Ergebnis eines sozialen Ausschlusses, der heute – in Zeiten des globalisierten Kriegs gegen den Terror – überwiegend religiös oder kulturell verhandelt wird. Damals waren die Parameter noch andere. Berlin war eine Frontstadt im Kalten Krieg. Die Grenzsoldaten der DDR konnten von ihren Wachtürmen aus beobachten, wie sich die westdeutsche Polizei am 1. Mai 1987 aus Kreuzberg zurückzog.
Die «Unpolitischen», wie die Jugendlichen (vor allem Kinder der türkischen ArbeitsimmigrantInnen) von der traditionellen Linken herablassend genannt wurden, hatten an jenem Tag ihr Coming-out. Über dem Quartier, das an drei Seiten an die innerdeutsche Grenze reichte, hingen Rauchwolken. Der Aufruhr löste im Kleinen eine erste überfällige Integrationsdebatte aus. Danach flossen Gelder zur Sanierung in das marode Viertel, SozialarbeiterInnen wurden geschickt. Doch als 1989/90 die Mauer wankte und fiel, verlagerte sich der Schwerpunkt staatlicher Fürsorge schnell weiter nach Osten. Und so versandete der Kreuzberger Anstoss für eine Diskussion um die Deutschen und ihre Ausländerpolitik.
Die ersten VerliererInnen der deutschen Einheit waren häufig die noch nicht restlos assimilierten ArbeitsmigrantInnen in beiden deutschen Staaten. In Ostberlin gingen in den neunziger Jahren fast alle 200000 Industriearbeitsplätze der früheren DDR verloren. Im Westteil der Stadt sackte die auf Subventionen beruhende Ökonomie in sich zusammen. Die städtische Arbeitslosigkeit hat sich mittlerweile bei zwanzig Prozent eingependelt, bei ArbeiterInnen ohne deutsche Staatsangehörigkeit liegt sie um die vierzig Prozent. Von den 3,3 Millionen BerlinerInnen leben weit über eine halbe Million von öffentlichen Zuwendungen. Die Stadt ist arm, Quartiere wie Kreuzberg sind sehr arm. Die Öffnung gegen Osten haben viele ältere KreuzbergerInnen daher in eher unangenehmer Erinnerung. Vormals ruhige Strassen verwandelten sich über Nacht in verstopfte Hauptverkehrsadern. Mittlerweile hat sich die Aufregung auf beiden Seiten gelegt, viele arrangierten sich mit der veränderten Situation.
Ein Deutsch-Türke in Kreuzberg
Orhan S., Mitte dreissig, mag als ein typischer Bewohner Kreuzbergs gelten. Er spricht berlinerisch mit leicht türkischem Akzent. Sein halbes Leben verbrachte er auf den Strassen in seinem Quartier oder berlinerisch: Kiez. Für ihn bedeutet Kreuzberg Berlin und Deutschland zugleich. Wie beurteilt er rückblickend den Fall der Mauer und die heutige Lage? Orhan zuckt mit den Schultern. In den Ostteil der Stadt fahre er kaum, sagt er, und aufs Land raus sowieso nicht. «Du weisst schon, ist nicht mein Ding.» Viele ältere Ostdeutsche setzen ebenfalls nur ungern einen Fuss auf Westterritorium. Alte Gewohnheiten wiegen schwer.
Für Orhan und andere «Menschen mit Migrationshintergrund» kommt hinzu, dass für sie die Lage in den ehemaligen DDR-Gebieten schwer einschätzbar ist. Westberlin war nach 1945 eine Insel und ist es zum Teil immer noch. KreuzbergerInnen fühlen sich von den umliegenden Provinzen wenig angezogen. Dort herrscht zum Teil eine Stimmung wie einst in den Südstaaten der USA, wo der Ku-Klux-Klan sein Unwesen trieb. Die faschistische NPD ist im ländlichen Osten stark verbreitet. Im Bundesland Sachsen sind die Nazis mittlerweile stärker als die SPD.
Man sieht es Orhan nicht an, und er jammert auch nicht: Aber er, der Kreuzberger, hat nicht nur leichte Tage hinter sich. In den siebziger Jahren ist er als kleiner Junge mit seinen Eltern aus der ländlichen Türkei ins städtische Berlin gezogen, in eine damals geteilte Metropole, der die Menschen und die Arbeitskräfte ausgingen. Seither lebte er nahezu ununterbrochen im selben Quartier.
Orhan fühlt sich integriert und meint, die aufgeregten Debatten um Islam und Integration gingen hier an vielen vorbei. Er behauptet, mit den Deutschen keine Probleme zu haben.
Darf man das glauben? Stehen nicht gerade die deutschen TürkInnen seit Jahr und Tag unter der Beobachtung ihrer deutsch-deutschen NachbarInnen? Orhan fühlt sich davon nicht betroffen. Er blättere nicht im Koran und habe andere Sorgen, sagt er: das Geld, die Miete und so weiter. Ausserdem sei er gar kein richtiger Türke, sondern ein Zaza. Und die Zazas würden als Minderheit in der Türkei ähnlich wie die KurdInnen oder die AlevitInnen benachteiligt und unterdrückt.
Rund ein Drittel der etwa 140000 KreuzbergerInnen haben derzeit einen Migrationshintergrund, viele davon einen türkischen. Und viele der hier in zweiter oder dritter Generation Lebenden haben irgendwann das Bedürfnis, sich mit der Heimat ihrer Eltern auseinanderzusetzen. Einige spielen Supermuslim in Deutschland, tragen Bart oder Kopftuch. Andere versuchen die Remigration. Als junger Erwachsener war Orhan für einige Zeit nach Istanbul gegangen – und kam schon nach wenigen Monaten zurück. «Vor deinen Problemen kannst du nicht davonlaufen», sagt er. Der Zaza aus Kreuzberg kam mit den Verhältnissen in Istanbul nicht zurecht. Wer von den jungen Deutsch-TürkInnen nicht gerade sehr gut ausgebildet ist oder über einflussreiche Beziehungen verfügt, erlebt am Bosporus meist Ernüchterndes.
Schule und Klassenrassismus
Orhan ist dank des rot-grünen Einbürgerungsgesetzes vor einigen Jahren deutscher Staatsbürger geworden. Als er in den siebziger Jahren nach Berlin kam, konnte er kein Wort Deutsch. Seine Eltern hatten keine nennenswerte Schulbildung. «Was willst du da erwarten? Dass du auf Anhieb Abitur machst?», fragt er. «Ich hab gar nicht kapiert, was Schule ist.»
Anderseits hat die deutsche Bildungspolitik nicht kapieren wollen, wer ihre neuen SchülerInnen waren. Für die Orhans fühlte man sich – aus einer Mischung aus Rassismus und Klassenverachtung – nicht zuständig, auch wenn sich einzelne PädagogInnen gerade im linksalternativen Kreuzberg grosse Mühe gaben.
Orhans beruflich-schulische Karriere war entsprechend: Als Jugendlicher brach er die Hauptschule ab und verbrachte die Zeit mit seiner Kreuzberger Gang. Ein Viertel der Kinder aus den ländlich-proletarischen Zuwanderermilieus schafft bis heute in Berlin nicht einmal den untersten Schulabschluss. Und wer die Hauptschule besteht, findet in der überwiegenden Mehrzahl danach keine Lehrstelle. Dennoch hat Orhan – im Unterschied zu vielen anderen – für sich einen Weg gefunden. Ein linksalternatives Jugendzentrum war sein Rettungsring. Heute jobbt er in der offenen Jugendarbeit und hat daneben ein paar kleinere bezahlte Tätigkeiten. Am liebsten wäre er Schauspieler. In kleineren Produktionen hat er schon mitgewirkt.
Coiffeur Selim neben dem Bioladen
Neben den vielen MigrantInnen aus der Türkei sind es vor allem die ab den siebziger Jahren aus Westdeutschland zugezogenen Linken, die grünen und autonomen UtopistInnen, die das Kreuzberger Biotop nachhaltig prägen. Die Vermischungen aus traditioneller türkischer und linker westlicher Kultur ist deutlich sicht- und spürbar. Das unterscheidet diesen «Problembezirk» sehr von anderen «schwierigen» Quartieren der Stadt. Kreuzberg ist materiell betrachtet bettelarm, kulturell aber keineswegs.
Eines der Zentren von Kreuzberg ist die Oranienstrasse mit ihren vielen kleinen Läden und Fachgeschäften. Seite an Seite residieren hier Geschäfte wie Blumen Dilek, Coiffeur Selim und ein altes Szenezentrum wie das SO 36; der gediegene Bioladen neben Wett- und Money-Transfer-Buden. In den achtziger Jahren waren Punks und HausbesetzerInnen in Kreuzberg Herkunftsdeutsche. Heute sind die traditionellen Bindungen und Orientierungen in Auflösung begriffen. Der Trend lässt sich in ganz Berlin bei eher traditionellen Werten erkennen: Ein Viertel aller Eheschliessungen hat einen binationalen Hintergrund.
Kinder aus dem proletarisch-ländlichen Ausland waren bis in die späten neunziger Jahre von höherer Bildung und Teilhabe am öffentlichen Kulturleben ausgeschlossen. Heute werden unter ihnen höher qualifizierte händeringend gesucht. 1998 lag der Anteil von AbiturientInnen aus Zuwandererfamilien in Berlin bei nur einem Prozent, mittlerweile sind es über zehn Prozent. Die Furcht vor «französischen Zuständen» (Aufruhr!) und «islamistischen Parallelwelten» (Terror!!) beschleunigt so einiges. Verstärkt will der Senat Lehrer und Polizistinnen mit muslimischem Hintergrund ausbilden und einstellen. Ausdruck eines gewandelten Verständnisses war auch der Erfolg von Fatih Akin mit seinem Film «Gegen die Wand». Viele seiner DarstellerInnen sind Selfmade-KünstlerInnen aus Kreuzberg. Ausserhalb des Ausländergenres bekommen sie allerdings immer noch kaum einen Auftrag.
Rap aus Kreuzberg 36
Offener war da schon immer der Zugang zur weniger national und elitär agierenden Popkultur. Sie hat in Kreuzberg eine ihrer Hochburgen. Bands wie K.I.Z. machen unter Musikinteressierten über Berlin hinaus Schlagzeilen. Die multinationalen Rapper aus Kreuzberg gaben im August am U-Bahnhof Schlesisches Tor ein Konzert, illegal. Eine Hundertschaft der Polizei war im Einsatz, um laut Presseberichten 500 Jugendliche zu zerstreuen. Auch wenn die Rapszene allgemein unter einem dümmlich-männlichen Dominanzgehabe leidet, durchlüftet ihr Bezug auf Black Music und Antifa die Hirne doch ungleich stärker als jene von Gleichaltrigen in den monokulturellen Randgebieten.
Ein K.I.Z.-Hit wie «Was willst du machen?!» erklärt vieles von dem, worum es schlaueren Kreuzberger Jugendlichen heute geht. Auf das Intro folgt gleich die spöttische Einfriedung des Kreuzberg-Getto-Klischees:
«Acht Uhr am Kotti / Ich ficke dein Leben / Ich komm mit den Cousins / Die dich erst schlagen dann reden / Ey yo – Kennst du den und den / Nein / Dann bist du ein Opfer / Ich bin zehn Prozent Gehirn / und neunzig Boxer / Also gib mir dein: Handyyyy / Nutte es ist: Ghettoooo / Die Hosen in meinen Socken / Im Solarium gebacken / der BMW ist gemietet.»
K.I.Z. sind «echt», sprechen so wie ihr Kiezpublikum. Damit bieten ihre ständigen Perspektivenwechsel den Jugendlichen überhaupt annehmbare Angebote zur Selbstdekonstruktion: Stilmittel ist – wie im «richtigen» Leben – vor allem Drastik und Selbstüberhöhung:
«Pittbullterrier ohne Maulkorb und Leine / Königskette am Hals / Im Portemonnaie deine Scheine / Er hat keinen Schulabschluss / Na und! / In seinem Problembezirk / Benimmt er sich wie Gott / Wenn er durch den Block marschiert / Sein Vorbild ist: Tupaaaaac / Seine starken Arme / Bringen jeden Deutscheeeeeeen / In die Notaufnahme / Ich kenne ihn schon lange / Durch seine Eltern habeeee / Ich jeden Tag Schawarma / Und eine Knoblauchfahneeeeeeeeee.»
Der Schlussrefrain bietet eine im Vergleich zum Liedanfang hundertprozentige Nationalverdrehung:
«Du Opfer, wen willst du boxen / Überall sind Kartoffeln / Jedes Jahr auf Mallorca / Von der Sonne verbrannt und besoffen / Wir fressen Schwein, fahren Golf / Saufen Bier, wir sind Prolls / Wir boxen dich jetzt zu Couscous / Stefan – Marcus – Gregor – und Rolf.»
Renitente Araber im Prinzenbad
Das Prinzenbad ist das Schwimmbad für die 140 000 KreuzbergerInnen und Tausende aus den benachbarten Vierteln. Dort schien die Situation diesen Sommer todernst: «Die Araber versuchen hier die Oberhand zu gewinnen», sagte der leitende Bademeister im August der Berliner Lokalpresse. Es werde «immer schwieriger, die Ordnung aufrechtzuerhalten», die Jugendlichen würden «immer renitenter». 83 Hausverbote hatte die Badeleitung bis Mitte August verhängt. Davon «81 an Jugendliche mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund». Das klingt eindeutig und liegt dennoch nur im Gesamtberliner Trend. Mit Unterschieden: Deutsch-deutsche Jugendliche, die «Scheisse bauen», schaffen es nicht so leicht in die Schlagzeilen. Und in vielen grösseren Berliner Sommerbädern patrouillieren private Sicherheitsdienste und Hundestreifen.
Die speziellen Probleme des Kreuzberger Prinzenbads erklären langjährige deutsch-deutsche NutzerInnen so: Die drastischen Preiserhöhungen der vergangenen Jahre haben viele der alteingesessenen SchwimmerInnen - ohne Sozialpass und aus dem alternativen Milieu - vertrieben. Nach dem Verschwinden von Schwulen und Alternativen gerieten die Jugendlichen und die Bademeister frontal aneinander. Ein Sprung von der Poolseite hier, eine kleine Arschbombe da, spucken, Müll schmeissen - beide Lager schaukeln sich gerne hoch. Wer das 84. Hausverbot bekommen wird, ist bei einem Augenschein schnell auszumachen: Ein pubertierender kraushaariger Junge - umringt von kleineren, Arabisch sprechenden - provoziert einen jungen deutschen Bademeister permanent. Der ist sichtlich überfordert. «Ist das peinlich!», meint eine jüngere Kreuzbergerin, wobei sie - politisch korrekt - den wütenden blonden Bademeister meint.
Lieber eine andere Schule
Die Probleme mit Übergriffen, Diebstählen und Gewalt sind keinesfalls erfunden, wenn auch medial etwas hochgespielt. Im vorigen Jahr gab es zum Beispiel einen mittleren Aufstand im Kreuzberger Wrangelkiez. Die strittige Frage war dabei nicht, ob deutsch-türkische Jugendliche einem jüngeren deutsch-deutschen den MP3-Player geraubt hatten. Umstritten zwischen KiezbewohnerInnen und der Polizei war lediglich, ob der Einsatz der Ordnungsmacht verhältnismässig war. Die Migrantenkinder wurden nach Meinung vieler deutsch-türkischer AugenzeugInnen wie Schwerverbrecher vorgeführt. Daran entzündete sich schliesslich ein allgemeines Gerangel.
Und es ist auch kein Geheimnis, dass sich bessergestellte Eltern aller Nationalitäten mittlerweile genau überlegen, an welcher Ecke sie sich in Kreuzberg niederlassen. Auch altgediente KämpferInnen gegen Rassismus und Unterdrückung melden sich über Wohnungen von FreundInnen in Gegenden an, wo ihre Kinder dortige Schulen besuchen können, die einen geringeren Anteil an Kindern aus migrantischen Unterschichten aufweisen.
Trotz allem gilt die türkische Gemeinschaft von Kreuzberg als relativ gut integriert. Die deutschen TürkInnen verfügen über gefestigte Strukturen, Selbstvertrauen und eine ansehnliche Wirtschaftskraft. Wesentlich schwieriger haben es da andere Gruppen - wie zum Beispiel Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Libanon. Von ihnen leben ein paar Tausend in Berlin. Viele kommen aus eher einfachen Verhältnissen und durften als «geduldete Flüchtlinge» jahrelang nicht arbeiten und mussten mit ihren Familien von Almosen leben. Kein Wunder, dass hier von Integration oft keine Rede sein kann. Kreuzberger Türken wie Orhan erzählen, dass sie die härtesten Auseinandersetzungen mit arabischen Gruppen hatten, die in den Kreuzberger Kiez einzudringen und Schutzgelder zu erpressen versuchten.
«Bierbaum 2» trifft «Al Safa»
Ali Z. kam in den siebziger Jahren aus dem Libanon nach Deutschland - in einer Zeit also, in der PalästinenserInnen hier noch nicht so schlecht angesehen waren wie heute. Er hat gute Jahre erlebt und schwärmt von den Tagen des wilden und anarchischen Westberlins. Auch er hat seit seiner Ankunft durchgehend in Kreuzberg gewohnt. In den achtziger Jahren arbeitete er für eine Kreuzberger Fabrik und heiratete eine Palästinenserin. In der Wirtschaftskrise nach dem Fall der Mauer verlor er seinen Job. Heute betreibt der mehrfache Vater ein Entrümpelungsgeschäft im südlich angrenzenden Neukölln. In seiner spärlichen Freizeit malt er. Der Mann hat Humor: Auf sein Ladenschild hat er rechts eine Deutschlandfahne gepinselt, links eine Darstellung von zwei Stieren, die sich die Schädel einrammen.
Ihm kommt kein schlechtes Wort über das Leben in Deutschland und «im Berliner Getto» über die Lippen. Man könnte meinen, alles sei in bester Ordnung. Ist es aber nicht: Einer seiner Söhne sitzt gerade im Gefängnis, aber darüber möchte er nicht sprechen. Das Misstrauen gegenüber der deutschen Politik ist gross. Zu gross, um sich von einem Unbekannten in die Karten gucken zu lassen.
Eine der interessantesten Entwicklungen im MigrantInnen-Berlin zeichnet sich derzeit einen Kilometer südlich von Kreuzberg 36 ab. In der Sonnenallee, gleich hinter dem Hermannplatz, beginnt ein sich rasch ausbreitender arabischer Kosmos. Die Eckkneipe Bierbaum 2 trifft hier auf «Orientalische Spezialitäten Al Safa» (ein halbes Grillhähnchen: 1 Euro 50). Ein anderer Laden mit überwiegend arabischer Beschriftung wirbt für Flüge in den Libanon (dreissig Euro einfach), und bei Euro-Shop 2002 werden Kleidungsstücke auf Arabisch angepriesen, ab dreissig Cent das Stück. Noch ist das arabische Flair in der Sonnenstrasse sehr mit Armut verbunden. Doch die arabischen ZuwandererInnen in Berlin stemmen sich gegen die Verödung urbaner Zonen, deren alteingesessene EinzelhändlerInnen vor den umliegenden grossen Kaufhausfilialen fast vollständig kapitulierten. Noch fehlt es den arabischen Gewerbetreibenden augenscheinlich an Kapital und besserer Ware. Doch alle Städte leben von den ständigen Neuerungen. Viele, die jetzt noch misstrauisch auf die Sonnenallee äugen, schwärmen vielleicht schon bald von den arabischen Pionieren in Neukölln. Und so mancher Kreuzberger flüchtet schon jetzt vor langsam ansteigenden Mieten Richtung Süden.
Kreuzberg SO 36
Besonders Kreuzberg Süd-Ost (kurz: SO 36) war im alten Westberlin von einer extremen Randlage geprägt. Ganz Westberlin war nach 1945 von der «feindlichen und sozialistischen» DDR umgeben. das innerstädtische Arbeiterquartier SO 36 grenzte gleich an drei Seiten an die «Arbeiter- und Bauernrepublik». Die Folge des Mauerbaus von 1961 war die Stadtflucht, insbesondere aus Quartieren wie Kreuzberg. Zurück blieben weitgehend marode Häuser und eine für ihre Trinksucht legendäre deutsche Bevölkerung. Frischer Wind kam nach Kreuzberg erst mit den ab den sechziger Jahren für die Westberliner Industrie angeworbenen türkischen GastarbeiterInnen. In den «besseren» Gegenden (West-)Berlins konnten sie kaum Mietverträge abschliessen.
Auch bei linken KonsumkritikerInnen aus Westdeutschland wurde das vernachlässigte Territorium populär. Von Schöneberg über den Bezirk Kreuzberg 61 frass sich die HausbesetzerInnenbewegung durch die leer stehenden Gebäudekomplexe, bis sie schliesslich in den Bezirk Kreuzberg 36 drang. In den achtziger Jahren waren zeitweise um die 200 Häuser besetzt. Im Durchschnitt hat die Kreuzberger Bevölkerung ein geringes Einkommen; viele gelten als sehr arm. Ihren kulturellen Reichtum erfassen die Sozialstatistiken nicht.
Andreas Fanizadeh lebt seit 1993 in Berlin. Er arbeitete ab 2000 für die WOZ. 2007 war er Ko-Autor des Theaterstücks «Der kleine Muck ganz unten» und organisierte mit Eva-Christina Meier die Ausstellung «Chile International». www.kunstraumkreuzberg.de
Die Banlieue-Serie
Dies ist der sechste Teil unserer Serie über die Banlieues, die Slums, die Villas Miserias und Innercity-Bezirke der Welt. Bisher erschienen Reportagen aus Marseille (WOZ-Nr. 16/07), Bombay (18/07), Buenos Aires (24/07), Istanbul (26/07), Nairobi (36/07). Der nächste Beitrag erscheint in der WOZ-Ausgabe vom 25. Oktober 2007. Er beschreibt die Quartiere der chinesischen WanderarbeiterInnen in Peking.