Deutschland: Genosse Sparstrumpf

Nr. 36 –

Wirtschaftssenator Harald Wolf, Spitzenkandidat der Linkspartei.PDS, ist zuversichtlich, die Wahl in Berlin zu gewinnen, trotz unpopulärer Sparpolitik.

WOZ: Herr Wirtschaftssenator, wie hoch ist die derzeitige Verschuldung des Bundeslandes Berlin?

Harald Wolf: Sie liegt bei etwas über sechzig Milliarden Euro.

Wie soll das Land aus eigener Kraft diese Schulden bewältigen können?

In unserer fünfjährigen Regierungszeit zielten wir darauf, laufende Einnahmen und Ausgaben zur Deckung zu bringen. Zur Tilgung der Altschulden müssen wir aber Bund und andere Länder mit in die Verantwortung nehmen. Wir klagen zurzeit vor dem Bundesverfassungsgericht auf eine Entschuldungshilfe. Berlin kann die Altschulden nicht alleine abtragen, die Zinslast ist zu hoch.

Wie hoch ist sie?

Sie liegt derzeit bei etwas über 2,5 Milliarden Euro, bei einem Gesamtvolumen des Berliner Haushalts von ungefähr 20 Milliarden Euro jährlich.

Wie konnte es zu der schwierigen Haushaltslage kommen?

Westberlin wurde zu Zeiten der deutschen Teilung hoch subventioniert. Die Stadt galt im Kalten Krieg als «Schaufenster des Westens». Der letzte Westberliner Haushalt bestand noch zur Hälfte aus Zuweisungen der Bundesregierung. Diese Subventionen wurden nach der Vereinigung in den neunziger Jahren sehr rasch abgebaut. Berlin hatte aber nicht die Wirtschaftskraft, dies zu kompensieren. Durch die rasche Wirtschafts- und Währungsunion ist im Osten der Stadt eine Vielzahl von Unternehmen konkurrenzunfähig geworden. Faktisch ist damals fast die gesamte Industrie Ostberlins zusammengebrochen. Und im Westteil machte sich der Wegfall der Berlinzulagen sehr schmerzhaft bemerkbar. Dank der grosszügigen Subventionen hatten sich in Westberlin viele Unternehmen mit «verlängerten Werkbänken» niedergelassen, die über keine Wertschöpfungstiefe verfügten.

Verlängerte Werkbänke?

Nach Westberlin wurden Produkte eingeführt, verpackt, mit einem Etikett versehen und wieder zurück nach Westdeutschland geschickt. Der einzige Grund dafür war die Abschöpfung der Subvention. Mit deren Wegfall war auch das nicht mehr sinnvoll. Das hat in den neunziger Jahren zu einer schwierigen Situation geführt. Die grosse Koalition von SPD und CDU setzte damals auf die rasche Umwandlung Berlins in eine europäische Dienstleistungsmetropole.

Dies erwies sich als unrealistisch?

Ja, genauso wie die Berliner Olympiabewerbung oder die Inszenierung anderer Megaprojekte. Da wurden enorme Summen verpulvert. Gleichzeitig hat das vereinigte Berlin durch die Zusammenführung zweier Stadtverwaltungen einen völlig überdimensionierten öffentlichen Dienst gehabt. An dieses Problem traute sich die grosse Koalition in den Neunzigerjahren nicht heran. Stattdessen lebte die alte Subventionsmentalität fort. Dies konnte man deutlich am öffentlich geförderten Wohnungsbau der Neunzigerjahre sehen. Die staatlichen Subventionen kamen den Immobilienfonds und Unternehmen zugute, während gleichzeitig die Mietpreise für die Bedürftigen stiegen. Die Preise für städtische Sozialwohnungen sind heute oft höher als die der frei finanzierten Wohnungen. Diese Politik führte in die Schuldenfalle, aus der wir nun einen Ausweg suchen.

Linkspartei und SPD setzen seit 2001 auf einen relativ rigorosen Sparkurs. Würde sich eine wirtschaftliche Gesundung nicht viel eher mit einem starken öffentlichen Investitionsprogramm einstellen?

Also Keynesianismus in einer Stadt funktioniert genauso wenig wie Sozialismus in nur einem Land. Mehr Wachstum und Beschäftigung durch öffentliche Investitionsprogramme würde eine koordinierte Strategie von Bund und Ländern erfordern. Doch im Bund regieren andere, und sie taten das Falsche. Aufgrund der Steuersenkungspolitik der früheren rot-grünen Bundesregierung hat Berlin eine Milliarde Euro an Steuereinnahmen jährlich verloren.

Fast 300000 BerlinerInnen sind offiziell arbeitslos gemeldet, 500000 gelten als arm. Wäre hier nach fünf Jahren rot-roter Koalition nicht eine Trendwende zu erwarten gewesen?

Wir erlebten zuletzt die längste ökonomische Stagnationsphase der Bundesrepublik nach 1945. Unter der rot-grünen Bundesregierung standen wir am Rande einer Deflation. In einer solchen Situation kann sich Berlin nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpfe ziehen.

Wo sehen Sie mittelfristig die ökonomischen Perspektiven Berlins?

Die Ausweitung von Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor konnte nicht die 200000 im Ostteil der Stadt verloren gegangenen Stellen in der Industrie ersetzen. Neunzig Prozent der heutigen industriellen Arbeitsplätze im Ostteil sind erst nach der Vereinigung entstanden. Auch im Westteil der Stadt resultieren sechzig Prozent der heutigen Industriearbeitsplätze aus Neugründungen. Das verdeutlicht, wie dramatisch der Strukturwandel in Berlin ausfällt. Positiv ist aber, dass die Neugründungen in aller Regel hochinnovative Unternehmen sind. An vielen sind Menschen beteiligt, die früher in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der DDR-Kombinate tätig waren. Die Produktivität in der Berliner Industrie liegt mittlerweile über dem Bundesdurchschnitt. Berlin ist im innovativen Bereich, speziell im Bereich von Hochschule und Forschung, ein wichtiger Standort.

Aber im Hochschulbereich sparen Sie auch.

Aber es gibt keine Reduktion bei der Forschung. Die Berliner Universitäten sind deutschland- und europaweit in einer Spitzenposition. Aber die Doppelt- und Dreifachstrukturen aufgrund der historischen Entwicklung müssen auf Dauer nicht sein.

Im Zuge der Diskussion um die Sicherheit in deutschen Zügen regte der Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefenbach (SPD) an, Arbeitslose für Patrouillen zu rekrutieren. So könnten Attentate verhindert und Erwerbslose einer sinnvollen Betätigung zugeführt werden. Eine originelle Idee?

Eine absurde Diskussion. Die Arbeit im Sicherheitsbereich ist eine qualifizierte Tätigkeit, für die man nicht schnell Arbeitslose in prekären Beschäftigungsverhältnissen heranziehen kann. Statt Leute in immer neue kurzfristige Beschäftigungen zu jagen, wäre es sinnvoller, einen Sektor gemeinnütziger öffentlicher Arbeit mit regulären Beschäftigungsverhältnissen zu schaffen, wo nach Tarif bezahlt wird und dauerhaft Qualifikation aufgebaut werden kann.

In welchen Bereichen sehen Sie da Potenzial, ohne dass bestehende Arbeitsplätze konkurrenziert würden?

Dort, wo keine kaufkräftige private Nachfrage besteht, bei gemeinnützigen, öffentlichen Tätigkeiten. Wir arbeiten an einigen Modellprojekten: Kinderbetreuung zu aussergewöhnlichen Zeiten, um auf die immer sich weiter ausdehnende Flexibilisierung der Arbeitszeiten zu reagieren. Oder: Menschen mit migrantischem Hintergrund bekommen eine Schulung als Dolmetscher, um zum Beispiel Ärzten in Krankenhäusern zur Verfügung zu stehen.

Die Berliner Linkspartei.PDS wird mit Ihnen und Heidi Knake-Werner von zwei gestandenen Westlinken angeführt. Das ausgerechnet in der früheren Hauptstadt der DDR und der heutigen Hochburg der Linkspartei.PDS ...

Daran sieht man, dass wir zumindest in Berlin mittlerweile eine gesamtdeutsche Partei sind. Hier hat die PDS aufgehört, eine Ostpartei zu sein.

Aus der Bundespartei, namentlich von Oskar Lafontaine, wurden schon mal Befürchtungen geäussert, Ihre realpolitisch-pragmatische Berliner Regierungslinie könnte das ideologische Profil der Linkspartei.PDS verwässern. Insbesondere die Privatisierungspolitik im Zusammenhang mit den städtischen Wohnbaugesellschaften wurde bemängelt.

Eine Wohnungsbaugesellschaft in Berlin befindet sich am Rande der Insolvenz. Und es gibt eine Diskussion darüber, ob man die durch den Verkauf von Teilen des Wohnungsbestands sanieren kann. Wir wollen keine Wohnungsbaugesellschaft «privatisieren», wir wollen aber, dass sie vernünftig wirtschaften. Darüber sind wir uns mit Oskar Lafontaine auch völlig einig.

Warum fahren öffentlich geführte Unternehmen so oft ein Minus ein?

Die Probleme liegen häufig beim Management. In der Vergangenheit wurden in Berlin altgediente Parteifreunde auf die Posten gehoben. Bei der Wohnungsbaugesellschaft Mitte kamen noch weitere Probleme hinzu. Sie wurde mit Dingen beauftragt, für die sie nicht da ist. Sie machte Stadtentwicklungsprojekte, war verantwortlich für den Neubau der Passagen am Alexanderplatz. Dabei machte sie kräftig Minus. Mit diesen Missständen haben wir aufzuräumen begonnen. Es gibt kein Naturgesetz, nachdem öffentliche Unternehmen schlechter als private geführt werden müssten.

Die Vereinigung von Berliner PDS und der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) zur Linkspartei scheiterte. Die Berliner WASG bezeichnet ihre Politik schlicht für neoliberal ...

Die Berliner WASG wirft uns vor, dass wir überhaupt in der Regierung sind. Viele der Protagonisten kenne ich seit dreissig Jahren und weiss, warum ich seit langem nicht mehr mit ihnen zusammenarbeite. Das ist eine kleine politische Sekte, die durch die Diskussion, ob sie mit oder gegen uns kandidiert, öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr. Die Bundes-WASG unterstützt uns aber, und ein Teil des Berliner Landesverbandes ist in die Linkspartei gewechselt. Nach den Prognosen liegt die Berliner WASG bei einem Prozent der Stimmen.

Aber ist die Kritik nicht teilweise nachvollziehbar? So kritisierte die Linkspartei.PDS im Bund aus der Opposition heraus vehement die rot-grüne Arbeitsmarktreform, auf Länderebene hilft sie bei der Umsetzung.

Bundesgesetze gelten auch für Berlin. Auch ein Edmund Stoiber muss sich in Bayern an das Bundesgesetz für gleichgeschlechtliche Partnerschaften halten. Und wir können in Berlin nicht einfach unsere Finanzämter anweisen, beim Spitzensteuersatz mehr zu kassieren. Aber: Unsere Spielräume nutzen wir. In Berlin konnten wir zum Beispiel die wegen der neuen Sozialgesetzgebung drohenden Zwangsumzüge in kleinere Wohnungen zumeist verhindern.

Und wie sieht es in der Integrationspolitik aus? In Berlin liegt die Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund bei vierzig Prozent, das ist doppelt so hoch wie bei den gleichaltrigen deutschen Deutschen.

Die Migrationsbevölkerung stammt zum grössten Teil aus Westberlin und wurde dort früher für die subventionsgetriebene Industrie angeworben. Das waren einfache Tätigkeiten, etwa am Fliessband. Mit dem Abbau der Subventionen sind auch die Arbeitsmöglichkeiten verschwunden. Deswegen haben wir hier eine sehr hohe Arbeitslosigkeit in der migrantischen Bevölkerung insgesamt. Das setzt sich in der jüngeren Generation fort. Insbesondere Jugendlichen mit sprachlichen Problemen, ohne Ausbildungsplatz oder Schulabschluss wollen wir helfen. Wir machen ihnen neue Angebote, damit sie eine berufliche Praxis kennenlernen und einen Berufswunsch entwickeln können.

23 Prozent aller Kinder mit migrantischem Hintergrund schaffen nicht einmal den Hauptschulabschluss.

Das Problem liegt vor allem am mangelhaften vorschulischen Spracherwerb. Nehmen sie mal die Rütlischule, die im Frühjahr durch die Presse ging. Viele der Problemschüler dort stammen aus staatenlosen arabischen Flüchtlingsfamilien. Und Flüchtlinge kriegen in der Bundesrepublik keine Arbeitserlaubnis und bleiben so mitsamt ihren Kindern desintegriert. Berlin ist ein Melting Pot. Wir müssen vor allem bei der vorschulischen Kinderbetreuung ansetzen und dort das Bildungsangebot verbessern, damit alle mit guten Deutschkenntnissen eingeschult werden. Nach skandinavischem Vorbild wollen wir die Gemeinschaftsschule, um die soziale Kompetenz und Chancengleichheit zu stärken.

Ihre Partei befürwortete den Bau einer Moschee im östlichen Stadtteil Heinersdorf. Lokale Initiativen liefen dagegen Sturm. Rechnen Sie jetzt mit einem Wahlerfolg rechtsextremistischer Parteien in einzelnen Bezirken?

Das ist möglich. Die Stimmung ist vor Ort teilweise sehr polarisiert. Wir können aber in solchen Fragen nicht wahlopportunistisch nachgeben. In Berlin existiert Religionsfreiheit.

Umfragen sehen die Berliner CDU weit abgeschlagen bei zwanzig Prozent. Die offene Frage scheint vor allem: Wird die SPD mit Ihnen oder den Grünen weiterregieren?

Vorsicht. Die Umfragen sagen auch, dass sich viele WählerInnen noch nicht festgelegt haben. Aber ich denke doch, dass wir vor den Grünen einlaufen werden und Rot-Rot fortsetzen können.

Was kann linke Realpolitik?

Mit der deutschen Einheit geriet Berlin in eine heikle Situation. Im Ostteil der Stadt gingen Hunderttausende Arbeitsplätze verloren. Und die Wirtschaft

im Westen beruhte auf Subventionen, die nun abgebaut wurden. Die Stadt verschuldete sich immer mehr. Seit 2001 wird das Bundesland Berlin von einer linken Koalition zwischen der sozialdemokratischen SPD und der PDS regiert. Die PDS ist aus der ehemaligen DDR-Staatspartei SED hervorgegangen. Seit ihrem Zusammengehen mit der im Westen entstandenen Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) nennt sie sich Linkspartei.PDS. Ihr Spitzenkandidat bei den am 17. September stattfindenden Senatswahlen ist Harald Wolf. Erste Pflicht beim Regieren soll die Haushaltskonsolidierung sein - allerdings unter Vermeidung sozialer Härtenfür die Schwachen. Dieser realpolitisch-pragmatische Kurs ist innerhalb der Linken umstritten. Der trotzkistisch dominierte Flügel der Berliner WASG kandidiert nun gegen die Linkspartei.


Harald Wolf wurde 1956 in Hanau, Hessen, geboren. Er ist diplomierter Politologe. Seit August 2002 amtet er als Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen in der rot-roten Koalition aus Linkspartei.PDS und SPD in Berlin. Zuvor war er in den Achtzigerjahren führend bei der Westberliner Alternativen Liste, die er 1990 verliess. Ab 1991 fungierte er als Abgeordneter auf der offenen Liste der PDS in Berlin, von 1995 bis 2002 als Vorsitzender der PDS-Fraktion.