Prekarität: Verlierer ohne Klassenfeind
Begriffe wie «Arbeiterklasse» und «Proletariat» werden selbst von Linken kaum mehr verwendet. Lieber reden alle vom «Prekariat». Was trägt der Begriff zum Verständnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge bei?
Sozialpolitische Begriffe sind Thermometer des gesellschaftlichen Klimas. Nichts illustriert das schöner und anschaulicher als das im Laufe der geschichtlichen Entwicklung erfolgte stille Verschwinden des Begriffs «Proletariat» und dessen Ersetzung in unseren Tagen durch den modernistischen Begriff «Prekariat».
Mein Lateinwörterbuch belehrt mich, dass schon das alte Rom den Begriff «proletarius» kannte, mit dem ein «Bürger der untersten Klasse» gekennzeichnet worden sei. Man hat diesen Begriff ableiten wollen von «proles», was mit «Sprössling, Kind, Nachkomme» übersetzt wird, und mein Leipziger «Vollständiges politisches Taschenwörterbuch» aus dem Jahre 1849 (sic!) deutet diese angebliche Verwandtschaft folgendermassen: «Proletarier hiess in Rom die letzte und ärmste Volksklasse, die dem Staate nur mit ihren Kindern (proles) zahlen konnte. Heutzutage versteht man unter Proletariat den Stand der besitzlosen Arbeiter, die Gesamtheit der Besitzlosen.» Darauf folgt dann noch eine geradezu marxsche Interpretation: «Der Arbeiterstand ist einer der ehrenwertesten der menschlichen Gesellschaft, denn, obgleich arm und von Tag zu Tag um sein Brod arbeitend, ist doch er es, der die Wunderwelten der Industrie wie die einfachsten Bedürfnisse des täglichen Verkehrs schafft (...) Die Maschinenarbeit bildet, durch das in ihr ruhende Gesetz der Güterverteilung, einen Stand oder eine Klasse von Menschen, der es bei der jetzigen Stellung unmöglich wird, durch eigene Anstrengung in eine höhere oder bessere Klasse überzugehen. Unmöglich kann der Arbeiter mit einem Loose zufrieden sein, das ihn zu ewiger sclavischer Abhängigkeit zwingt.»
Abschied vom Heilsplan
Wichtig ist in dieser Interpretation, dass das Proletariat als fixe gesellschaftliche Klasse gedeutet wird. Bei Marx erhielt diese Klasse dann eine philosophische, ja heilsgeschichtliche Weihe. Von der Philosophie Hegels beeinflusst, sah er im Proletariat eine «Klasse an sich», deren heilsgeschichtliche Bestimmung es war, sich in eine «Klasse für sich» zu verwandeln, also in eine Klasse, die ein soziales und politisches Selbstbewusstsein und eine revolutionäre Dynamik entwickeln und mit einer Revolution die bestehende Klassengesellschaft in eine freiheitliche klassenlose verwandeln würde, in ein «Reich der Freiheit», in dem die Devise galt: «Jedem nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten.» Im wortgewaltigen Philosophen Marx brach dabei der Messianismus seiner Rabbinerahnen durch - noch zu seiner Schulzeit war einer seiner Onkel Rabbiner in Trier. Er sprach von einem «Auferstehungstag», und in der zusammen mit seinem Freunde Friedrich Engels verfassten umfangreichen polemischen Schrift «Die heilige Familie» (1845) erhielt das Proletariat die Würde einer heilsgeschichtlichen Kategorie: «Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es (...) geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist (...) unwiderruflich vorgezeichnet.» (Marx-Engels-Werke, Band 2, Seite 38).
Die Geschichte hat Marx bekanntlich nicht den Gefallen erwiesen, sich gemäss seiner ihm unbewusst religiös inspirierten Geschichtsdeutung zu verhalten. Definiert man mit Marx den Begriff «Klasse» als die Gesamtheit der Lohnabhängigen, die vom Eigentum an den Produktionsmitteln ausgeschlossen sind, und die Gesamtheit derer, die über diese verfügen, so könnte man zwar heute noch immer von Klassen sprechen, aber diese hätten ihre Eindeutigkeit verloren.
Der Begriff «Klasse» greift nicht mehr, mit ihm ist die heutige differenzierte soziale Schichtung nicht mehr gültig zu erfassen. Die Schichten sind an ihren Rändern verzahnt. Selbst der im 19. Jahrhundert geprägte Begriff «Unterschicht», der sich heute wieder eingebürgert hat, umfasst recht heterogene Gruppen, von Langzeitarbeitslosen bis zu alleinstehenden Frauen, die sich mit einer schlecht bezahlten Arbeit - so sie eine haben - über Wasser halten müssen. Dass die Stellung im Produktions- und Dienstleistungsbereich nicht mehr der allein ausschlaggebende Faktor zur Bestimmung des sozialen Status ist, beweist aber vor allem ein neuer Begriff, der in den Medien und der sozialpolitischen und sozialökonomischen Diskussion herumgeistert: der Begriff «Prekariat». Der Griff zum Wörterbuch drängt sich auch hier auf. Im Lateinischen bedeutet «precarius»: «1.) erbeten, erbettelt, aus Gnade, bittweise erlangt. 2. auf Widerruf gewährt, unsicher, unbeständig.» Dass in der gegenwärtigen Diskussion die zweite Bedeutung des Begriffs gemeint ist, erhellt dessen heutige Interpretation. Das französische «précaire» meint «heikel, unsicher, unwiderruflich», das italienische «precario» bedeutet «bedenklich, heikel», das englische «precarious» steht für «unsicher». Schliesslich der Duden: «misslich, schwierig, bedenklich, unsicher, problematisch, widerruflich».
Während der Begriff «Proletariat» eine einheitliche, durch ihre Abhängigkeit von den Produktionsmitteleigentümern gekennzeichnete Klasse meinte und ein Proletarier keine Aussicht hatte, sich je aus dieser Abhängigkeit befreien zu können, reflektiert der Begriff «Prekariat» eine nicht mehr ausschliesslich klassen- oder schichtbedingte soziale Position: Diese kann sich für fast alle als prekär erweisen.
Der Arbeitsplatz als solcher, gleich ob in der Fabrik oder im Büro, ist prekär, unsicher geworden. Bereits ist auch zur Kennzeichnung der sozialen Position der grössten VerliererInnen in dieser Entwicklung ein neuer Begriff kreiert worden: Man nennt diese ein «abgehängtes Prekariat». Von ihm gilt, was ein Dante in seiner «Göttlichen Komödie» auf das Tor zur Hölle schrieb: «Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate» - lasst alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr hier eintretet.
Nichts ist naturgegeben
«Prekarität» meint also auf dem Arbeitsmarkt: unsichere Arbeitsbedingungen. Das Bewusstsein, solchen prekären Bedingungen ohne erfolgversprechende Widerstandsmöglichkeiten ausgeliefert zu sein, erzeugt eine flottierende Existenzangst. Der Job auf Lebenszeit hat sich in eine Fata Morgana verwandelt. In unserer statussüchtigen Gesellschaft spielt aber auch das statusbedingte persönliche Prestige eine Rolle. Es ist nicht «nur» die Unsicherheit der materiellen Existenzgrundlage, die diese diffuse Angst provoziert, es ist ebenso die stets drohende Möglichkeit eines Verlustes des sozialen Status und Prestiges, damit auch eines Stücks Identität. Die derzeit günstige konjunkturelle Entwicklung mag dem Prekariat für den Augenblick zwar etwas von seiner Bedrohlichkeit nehmen, doch Konjunkturen haben keinen Ewigkeitscharakter, und noch auf jede ist eine Krisenperiode gefolgt. Die permanente revolutionäre Entwicklung von Wissenschaft und Technik führt zu einem wachsenden Bedarf an hochspezialisierten Fachkräften - und damit zu einem entsprechend geringeren Bedarf an Unspezialisierten. Dies erhöht die Prekarität der Arbeitssituation der sogenannten Unterschicht zusätzlich. Eine hochtechnisierte kapitalistische Gesellschaft kommt um die Einführung eines staatlich garantierten Grundeinkommens wohl nicht mehr herum. Auf die «unsichtbare Hand» des Neoliberalismus ist da kein Verlass.
Wir dürfen uns in der in mancherlei Hinsicht privilegierten Schweiz den Blick über die Grenzen nicht verbauen. Laut einer Studie der deutschen sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung waren 2006 sieben Millionen Deutsche - 25 Prozent aller Wahlberechtigten in Ostdeutschland, 4 Prozent aller erwachsenen Westdeutschen - zum «abgehängten Prekariat» zu zählen. Die Wochenzeitung «Die Zeit» stellte vor einem Jahr fest, dass 2006 fünf bis sechs Millionen Deutsche «im Stand sozialer Hilflosigkeit» verharrten: «Ihre wirtschaftlichen Aussichten sind gleich null.» Der «Spiegel» wiederum meint: «Einfache Arbeit ist nichts mehr wert, weil irgendwo auf der Welt immer noch billiger produziert werden kann.» Gewinne, Aktienkurse und Managergehälter explodierten und wir lebten in einer «partiell rechtsfreien Wildwestökonomie» («Spiegel», Nr. 14, 2007).
Prekarität für alle
In unserer «Risikogesellschaft», der Ulrich Beck - der Erfinder dieses Begriffs - so unermüdlich den Spiegel vorhält, bleibt das Prekariat wohl die uns vom globalisierten kapitalistischen System aufgezwungene Arbeits- und Existenzsituation. Und wenn nun jemand einwenden sollte, das menschliche Leben als solches sei doch eine unabänderlich höchst prekäre Angelegenheit, was man als «condition humaine» philosophisch auf den Begriff gebracht habe, so ist dem wohl zuzustimmen. Jedoch geht es nicht an, mit dem Hinweis auf die unabänderliche «condition humaine» dem abänderlichen Bestehenden - das ja nicht ein Naturprodukt, sondern Menschenwerk ist - ebenfalls eine naturgegebene Unabänderlichkeit zuzusprechen, wie das von ideologischen Verteidigern des Neoliberalismus gerne geschieht. Das ist pure Ideologie. Vielmehr wäre das Prekariat als legitimes Kind der bestehenden Wirtschaftsstruktur und als etwas durchaus Abänderliches zu erkennen, das nach einer menschenwürdigeren, demokratisierten und sozialen Wirtschaftsstruktur ruft.
Arnold Künzli ist Philosoph und Schriftsteller und lebt in Bremgarten bei Bern.