Intifada: Die verwirrte Nation
«Der erste Aufstand war das Gegenteil von einem Selbstmordattentat», schreibt der palästinensische Filmemacher und Autor Subhi al-Zobaidi über die Intifada, die sich zum zwanzigsten Mal jährt.
Wir PalästinenserInnen sind ein verwirrtes Volk. Das lässt uns viele Dinge anders wahrnehmen. Dies liegt daran, dass wir in einer unterjochenden Situation sind, durch die wir unsere Orientierung immer mehr verlieren. Wir leben in einem stetig kleiner werdenden Raum und sind ständig gezwungen, den verlorenen Raum mit etwas anderem zu ersetzen. Und was bleibt uns ausser unseren Erinnerungen, um diesen Verlust zu verarbeiten?
Explosionen
Wenn wir wichtige Ereignisse in der politischen Geschichte beschreiben, verwenden wir den Begriff «Explosion». Wir sagen zum Beispiel: «Als die palästinensische Revolution explodierte», «als die erste Intifada explodierte» oder «als die zweite Intifada explodierte». Darüber hinaus gibt es natürlich all die Explosionen, die wir in Israel auslösen wollten. Wir fantasierten von allerlei Explosionen – bis hin zu Selbstmordattentaten. Das ist die ultimative Explosion; sie bereitet einem selbst vor den anderen ein Ende. Eine Explosion, die nicht auf das Zurückerobern des verlorenen Raums abzielt, sondern auf dessen Vernichtung.
Von all den palästinensischen Explosionen sticht die erste Intifada durch ihre Grösse und Dauer als die bedeutendste und verständlichste hervor, weil sie das Gegenteil war von einem Selbstmordattentat – die Intifada wollte Raum zurückerobern, neu erfinden. Das ist ein wichtiges Merkmal. Die Intifada begann im Haus der PalästinenserInnen und ihrer Nachbarschaft. Es entstand das Gefühl, eine Gemeinschaft zu sein, eine Gemeinschaft, die über den Raum verfügen kann. Die Leute fingen damit an, ihre Hinterhöfe und leeres Gelände so zu planen, dass sie selbstversorgend und unabhängig sein könnten – wenigstens, was das Essen angeht.
Das Erziehungs- und Gesundheitssystem wurden neu geschaffen, sodass sie innerhalb des verfügbaren Raums funktionieren konnten. Das Wichtigste war, dass die lokale Dorfgemeinschaft die Verantwortung übernahm und die Dorfpolitik als natürlichen Teil einer grösseren Sache sah. Diese Dorfpolitik, diese kulturelle Politik des Widerstands hatte das Potenzial, sich zu einer Strategie zu entwickeln, wenn wir den Schwung aufrechterhalten hätten. Aber leider verloren wir diesen und kehrten bald zurück zu unseren Explosionen und Halluzinationen.
Der palästinensische Philosoph Edward Said betitelte seine Autobiografie «Am falschen Ort». Der palästinensische Autor Mahmud Darwisch schreibt: «Wir reisen wie alle anderen auch, aber wir kehren nirgendwohin zurück.» Darwischs jüngste Poesie unterscheidet sich von seiner älteren darin, dass Palästina als Zentrum des Zusammenhalts verschwindet – zugunsten von Verlust, Warten und Exil. Raum hört in seinen jüngeren Werken auf, festgelegt zu sein. Er wird zu etwas Improvisiertem, etwas, das völlig aus der unmittelbaren Erfahrung konstruiert wird. Er wird etwas Sinnliches, wie Darwisch in seinem Gedicht «Dicker Nebel auf der Brücke» beschreibt.
Ich sagte ihm, dass Raum
wie eine Geste zwischen uns verweht
Was ist Raum?
Wo immer unsere Sinne spontan sein können, antwortete er und seufzte
In Film und Kunst – allgemein in kulturellen Produktionen – erleben wir diesen Raumverlust immer wieder. Wir müssen uns fragen, wer wir sind in dieser Welt. Dies hat uns so verletzlich gemacht wie eine obdachlose Person – jemand, der in jede Richtung irrt, wo es ein Anzeichen von Schutz gibt. Die obdachlose Person folgt vielleicht ihren Instinkten und Halluzinationen, aber sie verfolgt keine Strategie und kann auch keine haben. In der Politik scheinen wir auf dieselbe Art zu funktionieren: impulsiv, halluzinierend und instinktiv – nicht aber strategisch. Das können wir nämlich nicht, nicht einmal, wenn wir wollten. So sind wir also impulsiv, explosiv und verzweifelt, und wir können in alle Richtungen gleichzeitig gehen, so verwirrt sind wir derzeit.
Nah an der Schizophrenie
Weil wir ein Raumproblem haben, haben wir auch ein Problem mit unseren Erinnerungen. Die Erinnerung ist eine Kraft, die es uns ermöglicht, der Welt um uns herum einen Sinn zu geben. Nur dank unserer Erinnerungen wissen wir, wo unser Zuhause ist, welchen Bus wir zur Arbeit nehmen müssen oder welche Strasse nach Hause führt. Die Erinnerung macht aus ein paar Leuten ein Wohnviertel und aus ein paar Wohnvierteln eine Gemeinde. Und die Erinnerung ist es auch, die eine Nation schafft. Es ist falsch, Erinnerungen für etwas Vergangenes zu halten, als Speicher oder als Lagerraum von Informationen. Denn die Erinnerung liegt immer an der Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Erinnerung lässt uns Sachen sinnvoll oder – wenn wir die Erinnerung verlieren – sinnlos erscheinen.
Das Problem mit unserer Erinnerung ist, dass sie selektiv sein kann, nichtlinear, trennend, subversiv, anhaltend, auflösend. Kein Wunder, beschrieb Edward Said 1986 die PalästinenserInnen als «aktiv, handelnd, stolz, zart, armselig, lustig, unzähmbar, ironisch, paranoid, defensiv, bestimmend, attraktiv, fesselnd». Das ist nah an der Schizophrenie. Jemand führt zwei oder mehrere sinnestäuschende Existenzen, ohne auf räumliche Logik und Umstände zu achten. Ich brauche keine Metapher, um das zu erklären, denn die aktuelle Situation im sogenannten Palästina ist aussagekräftig genug.
Eine bedrängte Hamas-Regierung in Gasa und eine dysfunktionale, staatenlose Regierung im Westjordanland: Beide beanspruchen, die richtige Regierung zu sein und das Richtige zu tun, um den verlorenen Raum Palästina wiederzuerlangen. Die Hamas glaubt, dass ganz Palästina Palästina sein muss. Und Mahmud Abbas von der Fatah glaubt, dass jedes Palästina ein Palästina sein kann. Die zwei Positionen sind nicht miteinander vereinbar. Das ist eine Situation der Explosionen und der Ausbrüche, nicht des Zusammenhalts und der Strategie. Weil wir nicht mehr die Kultur des politischen Widerstands der ersten Intifada pflegen, haben wir unsere Chance auf eine gemeinsame nationale Strategie verloren. Was wir jetzt erleben, ist nur die Fortsetzung einer Serie von Explosionen, die unser Schicksal und unsere Methoden bestimmt.
Es gibt keine Erinnerungen an die erste Intifada, die erhalten blieben. Alles ist verschwunden, und wenn man PalästinenserInnen danach fragt, dann erinnern sie sich so daran, wie man sich an einen toten Menschen erinnert. Viele Bilder der ersten Intifada existieren nur als Filmmaterial der Nachrichten oder als andere Archivalien. Aber was vollständig verloren gegangen ist, ist die Kultur, die sich zur Zeit der ersten Intifada entwickelt hat, ein nationaler Aufschrei, der nicht unbemerkt bleiben konnte. Das war es, was wir nicht aufrechterhalten konnten. Wir haben nichts aus der ersten Intifada gelernt. Und alles, was übrig bleibt, sind ein paar nostalgische Erinnerungen daran.
Gefahr eines Abkommens
Was kann die PalästinenserInnen heute in Zeiten der Desintegration, der Trennmauer und der inneren Kämpfe vereinen? Was kann Gasa mit dem Westjordanland verbinden? Die Fatah mit der Hamas? Was kann die fünf Millionen PalästinenserInnen in der Diaspora mit ihrem historischen Heimatland zusammenführen? Und wie können die verschiedenen Gettos im Westjordanland trotz israelischer Trennmauer miteinander verbunden sein? Ich glaube, es gibt nur eine Möglichkeit: Wir PalästinenserInnen brauchen eine gemeinsame nationale Strategie statt einer parteigebundenen Politik. Aber ist das möglich? Ich glaube, ja, und ich glaube, sie wird nicht von den derzeit dominanten Parteien kommen – genau wie die erste Intifada: Sie war nicht geplant, und niemand rechnete damit. Und als sie ausbrach, veränderte sie alles – auch die Parteien und ihre Politik. Ja, wir benötigen eine Intifada, die gegen die steife und opportunistische Parteipolitik gerichtet ist. Wir brauchen eine Intifada, die die Politik neu erfindet, als kulturelle Politik des Widerstands.
Weder Camp David noch Oslo noch Annapolis können den PalästinenserInnen jetzt aus ihrer Verzweiflung und ihrer selbstmörderischen Politik helfen. Jedes Abkommen, das unter den jetzigen Umständen geschlossen wird, wird unsere Desintegration und unsere Isolation noch verstärken. Und das wird uns noch mehr Gründe geben für unsere explosiven und selbstmörderischen Methoden.
«Krieg der Steine»
Am 8. Dezember 1987 fuhr ein israelischer Militärlastwagen in der Nähe des Grenzübergangs Erez in eine Menschenmenge und tötete vier PalästinenserInnen aus einem Flüchtlingslager im nördlichen Gasastreifen. Der Zwischenfall löste vor zwanzig Jahren Massendemonstrationen der palästinensischen Bevölkerung und die erste Intifada aus (Arabisch für «abschütteln, sich erheben»). Die PalästinenserInnen forderten mit Streiks und Demonstrationen das Ende der israelischen Besatzung. Israel hatte 1967 das Westjordanland und den Gasastreifen militärisch besetzt. Bilder von palästinensischen Jugendlichen, die mit Steinen und Stöcken den Panzern der israelischen Besatzermacht entgegentraten, gingen um die Welt. Der Volksaufstand der PalästinenserInnen wurde deshalb auch als «Krieg der Steine» bezeichnet. Bald kam es aber auch zu Angriffen mit Molotowcocktails, Handgranaten und Schusswaffen. Insgesamt kamen beim Aufstand etwas mehr als 1100 PalästinenserInnen und rund 160 Israelis ums Leben; er fand 1993 mit dem Abkommen von Oslo ein Ende. Das Abkommen zwischen der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO und Israel gewährte den PalästinenserInnen zwar keinen eigenen Staat, aber weitgehende Autonomie für das Westjordanland und den Gasastreifen.
Nach sieben mehr oder weniger gewaltfreien Jahren entlud sich der palästinensische Unmut erneut: Im September 2000 begann die zweite Intifada. Ausgelöst hat sie der provokative Besuch von Ariel Scharon auf dem Tempelberg, wo die Al-Aksa-Moschee steht. Dabei kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen protestierenden PalästinenserInnen und der israelischen Polizei. Während der Al-Aksa-Intifada griffen PalästinenserInnen auch zum Mittel der Selbstmordattentate.