Millenniumdörfer: Umfassender Anschub
In Afrika wird in zwölf Dörfern versucht, auf lokaler Ebene die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen zu erreichen. Zu Besuch in einem Millennium Village in Kenia.
Wer nach Sauri im Nordwesten von Kenia kommt, würde nicht annehmen, dass diese Region eine der ärmsten des Landes ist. Sie ist grün und scheint fruchtbar, erhält sie doch mehr Niederschläge als die meisten Regionen Ostafrikas. Lehmhütten stehen verstreut in der Landschaft. Ihre Wellblechdächer funkeln in der Sonne.
Auf den ersten Blick fällt gar nicht auf, wie dicht die Gegend besiedelt ist. Zwar besteht das Zentrum von Sauri nur aus einer Handvoll Bretterbuden und Marktständen, aber rundherum setzt sich das Dorf fort und ist längst mit den Nachbarorten verschmolzen. Zwischen die Hütten, in denen meist eine ganze Familie wohnt, drängen sich winzige Äcker – kaum zu glauben, dass sie die Bevölkerung ernähren können. Einige BäuerInnen sind bereits daran, die dunkle Erde ihrer Felder zu hacken. Wenn der Regen kommt, muss alles bereit sein zum Säen. Die Böden haben durch die Verwitterung einen Grossteil der Nährstoffe verloren, und die jahrelange Mais-Monokultur hat sie zusätzlich ausgelaugt. Ausserdem werden die Äcker durch Erbteilung von Generation zu Generation kleiner – in Kenia bringt jede Frau durchschnittlich 4,82 Kinder zur Welt.
Winzige Äcker
79 Prozent der EinwohnerInnen von Sauri leben von weniger als dem als Armutsgrenze geltenden US-Dollar pro Tag. Siebzehn Prozent der Kleinkinder bis fünf Jahre sind unterernährt. Dies war zumindest vor drei Jahren so – zum Zeitpunkt, als das Dorf als Standort für ein wissenschaftliches Experiment gewählt wurde. In Sauri sollten Methoden erprobt werden, mit denen die Millennium-Entwicklungsziele (MDG) der Vereinten Nationen erreicht werden können (vgl. «Millenniumziele - Millenniumdörfer» im Anschluss an diesen Text).
Taphrosa Mbai hat die Ernte ihres winzigen Ackers vor ihrem Haus zum Trocknen ausgebreitet. Die Maiskolben glänzen in der Sonne. «Nach dem Dreschen», meint sie, «werden das wohl noch knapp zwei Säcke sein – rund 150 Kilo.» Das bringe sie gerade bis zur nächsten Regenzeit durch. Taphrosa Mbai ist seit zwanzig Jahren verwitwet. Von ihren ehemals acht Kindern leben noch zwei Söhne. Die seien selber auch mausarm, sagt die Witwe, würden sie aber unterstützen, wenn ihre eigene Ernte nicht ausreiche. Doch seit sie vom Millennium-Village-Projekt gratis Hochertragssaatgut und Dünger bekommt, habe sich ihre Ernte mehr als verdoppelt, und sie sei nur noch selten auf die Hilfe ihrer Verwandten angewiesen.
Pflanzen mit Zusatznutzen
Neben Kunstdünger wird in Sauri auch der Anbau von Pflanzen zur Gründüngung propagiert. Die Bauern haben Samen von Pflanzen bekommen, die besonders gute Auswirkungen auf die Bodenbeschaffenheit haben. Diese Leguminosen binden Stickstoff aus der Luft, dieser wird über ihre Wurzeln und durch den Laubfall auch für andere Pflanzen als Nährstoff verfügbar. Ausserdem führen sie dem Boden Humus zu, was die Bodenorganismen fördert und die Fruchtbarkeit zusätzlich erhöht. Diese sogenannten Grünbrachen verbessern durch Beschattung den Wasserhaushalt des Bodens und behindern das Aufkommen von Unkräutern. Der einzige Nachteil: Für mindestens eine Saison muss auf einen Teil der Ernte verzichtet werden. Dies können sich viele Bauernfamilien nicht leisten, weil sie die ganze Ernte ihrer kleinen Äcker für ihren Lebensunterhalt benötigen. Dabei wird der Ertrag auf lange Sicht deutlich höher. Auch Taphrosa Mbai deutet auf ihren nicht viel mehr als zwanzig Mal zwanzig Meter grossen Acker: «Und was soll ich dann essen?»
Da die meisten Menschen hier von dem leben, was ihre Hände den Äckern abringen, und weil Entwicklung nur möglich ist, wenn die Unterernährung überwunden werden kann, gehört die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität zu den Prioritäten in den «Millennium Villages» (MV). Die Resultate sind verblüffend: Die Maisernte hat sich fast verdreifacht. Die DorfbewohnerInnen haben sich verpflichtet, einen Teil dieses Erntezuwachses für das Ernährungsprogramm in den Schulen abzugeben. Damit wird nun täglich eine warme Mahlzeit für alle SchülerInnen zubereitet. Seither sind die Kinder nicht nur besser genährt, sie haben auch ihre schulischen Leistungen deutlich verbessert.
Bekanntermassen birgt der Einsatz von synthetischen Hilfsmitteln in der Landwirtschaft auch Gefahren. Werden hier die Fehler der «Grünen Revolution» wiederholt? Patrick Mutuo, Leiter des MV-Projekts in Sauri, gesteht ein, dass bereits Düngerückstände im Quellwasser gefunden wurden. Wie er betont aber in unbedenklichen Mengen und nur kurz nach der Saat, wenn die BäuerInnen den Dünger einsetzten. Das Ziel sei nicht, die Landwirtschaft zu industrialisieren, sondern den BäuerInnen zu ermöglichen, dass sie sich von ihren Äckern ausreichend ernähren können. Ohne Kunstdünger sei das einfach nicht zu bewerkstelligen. Die Leguminosen können die Böden zwar mit Stickstoff versorgen, aber nicht mit den anderen lebenswichtigen Nährstoffen. Ein weiteres Problem ist das Hochertragssaatgut, dass immer wieder neu beschafft werden muss. Immerhin wird es in Kenia selber hergestellt.
Auch im Gesundheitsbereich wird grosszügig investiert. So wurden flächendeckend Moskitonetze abgegeben, was zusammen mit einer besseren Versorgung mit wirksamen Malariamedikamenten die Zahl der Malariafälle in kurzer Zeit mehr als halbierte. Kenia verfügt zwar über ein relativ dichtes Netz von Spitälern und Kliniken, und die medizinische Grundversorgung ist kostenlos. Aber meist sind die Spitäler in schlechtem Zustand, es fehlt an gut ausgebildetem Personal und an lebenswichtigen Medikamenten. Die vom Staat zur Verfügung gestellte Menge an Malariamitteln, die für ein halbes Jahr reichen sollte, ist oft schon nach wenigen Wochen aufgebraucht. In Sauri baute das Millennium-Village-Projekt eine eigene Klinik und stattet sie auch mit jenen Medikamenten aus, für welche die Regierung nicht aufkommt.
Das Dorf arbeitet mit
Der Arzt hat keine Zeit für ein Gespräch, denn vor der Klinik hat sich eine Schlange gebildet – vor allem Frauen mit Kindern warten auf eine Behandlung. Dafür nimmt sich Ros Ambejo Zeit: Sie ist eine der traditionellen Hebammen und hat die Ausbildung für Gesundheitshilfskräfte absolviert, in der sie unterrichtet wurde, Frauen in Familienplanung zu beraten, Impfungen zu geben und Krankheiten wie Tuberkulose und Aids früh genug zu erkennen, damit sie erfolgreich behandelt werden können. Dank der Ausbildung falle es ihr leichter, den Frauen zu helfen, und es komme zu weniger Komplikationen bei Geburten. Gleich neben der Klinik wird an einem Erweiterungsbau gearbeitet. Die BewohnerInnen des Dorfes helfen mit, das Millennium-Village-Projekt besorgt Materialien und Werkzeug.
«Die Mitarbeit der Gemeinde ist grossartig. Sie organisiert sich selbstständig für den Frondienst und leistet gute Arbeit», freut sich Patrick Mutuo. Wenn immer möglich sollen die BewohnerInnen einen möglichst grossen Teil des Projekts selber tragen. Da ihre finanziellen Mittel sehr beschränkt sind, leistet die Gemeinde ihren Beitrag meist in Form von Arbeit oder von lokal erhältlichen Materialien. Nach diesem Grundsatz funktionieren etliche Aktivitäten: Bei der Sanierung der Wasserquellen verrichteten die Mitglieder der Gemeinde die meiste Arbeit, beim Bau von neuen Häusern für Bedürftige beschaffte das MV-Projekt nur das Wellblech für das Dach; die Gemeinde baute den Rest des Hauses im traditionellen Stil und mit lokalen Materialien.
Die Landwirtschaftshilfe endet in diesem Jahr, nachdem Hybridmais und Dünger während zweier Jahre gratis abgegeben worden waren. Nun sollten die BäuerInnen fähig sein, das Saatgut vom Überschuss der letzten Jahre selber zu zahlen. Doch nicht alle können das. Vielen geht es wie der Witwe Taphrosa Mbai: Auch die höheren Erträge reichten nicht aus, um etwas auf die Seite zu legen. «Deshalb werden Bedürftige weiterhin unterstützt», sagt Patrick Mutuo. «Das ist ohnehin kein grosser Posten, da ihre Äcker so klein sind.»
Beispiel für den ganzen Distrikt
Unterdessen wird das MV-Projekt ausgeweitet. Bereits vor zwei Jahren wurden die umliegenden Dörfer einbezogen, nun will die kenianische Regierung die MV-Grundsätze im ganzen Distrikt anwenden. Patrick Mutuo freut sich: «Damit haben wir unser Ziel erreicht. Das Projekt wird zum Selbstläufer und der Staat nimmt seine Aufgabe, für die Entwicklung der armen Regionen zu sorgen, selber wahr.»
Wie nachhaltig die Erfolge des Millennium Village wirklich sind, wird sich jedoch erst in einigen Jahren zeigen – wenn keine Hilfsgelder mehr fliessen und sichtbar wird, wie viel vom Erreichten bleibt und wie sich die intensivierte Landwirtschaft auf die Umwelt auswirkt.
Siehe auch das Dossier Entwicklungspolitik.
Millenniumziele – Millenniumdörfer
An der 55. Uno-Generalversammlung im Jahr 2000 verabschiedeten die Mitgliedstaaten einen Katalog von Entwicklungszielen: die Millennium Development Goals (MDG), die bis zum Jahr 2015 erreicht werden sollen. Reiche wie arme Staaten verpflichteten sich dazu, alles daran zu setzen, Armut drastisch zu reduzieren, Gleichberechtigung zu fördern, Bildung sowie medizinische Versorgung zu verbessern und Grundsätze ökologischer Nachhaltigkeit zu befolgen. So soll die Zahl der Menschen, die mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen, halbiert werden.
Die Monterey-Konferenz befasste sich im Jahr 2002 damit, wie die Anstrengungen zur Erreichung der MDG finanziert werden sollen. Als Fernziel legten die unterzeichnenden Staaten fest, dass 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts der Geberländer in Entwicklungshilfe fliessen sollen. Die Vereinbarungen waren aber nicht verbindlich, und entsprechend wenig geschah seither.
Um die immer wieder geäusserten Zweifel an der Erreichbarkeit der MDG zu widerlegen und um konkrete Massnahmen zu entwickeln, hat die Uno die «Millennium Villages» (MV) initiiert. An zwölf ausgewählten Standorten in Afrika wurden Daten zu den verschiedenen Kriterien des MDG-Katalogs erhoben. Während fünf Jahren wird nun intensiv investiert, um in diesen Dörfern die Millenniumziele zu erreichen. Sie sind über den ganzen Kontinent verteilt, liegen alle in Regionen extremer Armut und jedes in einer anderen klimatischen und landwirtschaftlichen Zone. Das Projekt stützt sich vor allem auf die Theorie von Jeffrey Sachs, der es auch selber leitet. In seinem Buch «Das Ende der Armut» kritisiert er den Ansatz der meisten herkömmlichen Entwicklungsprojekte, weil diese nur punktuell die gravierendsten Probleme angehen. Zur nachhaltigen Überwindung der Armut reiche das aber nicht. Dazu seien grosse einmalige Investitionen gleichzeitig in allen Problembereichen nötig. Investiere das MV-Projekt während einiger Jahre gleichzeitig in Landwirtschaft, Gesundheit, Hygiene und Infrastruktur, würden die Gemeinden befähigt, mit den erzielten Überschüssen durch erhöhte Ernten und bessere Gesundheit weitere Investitionen zu tätigen und so ihre Lebensqualität aus eigener Kraft zu verbessern. Um dies zu erreichen, fliessen in fünf Jahren insgesamt 2,75 Millionen Dollar an Entwicklungsgeldern nach Sauri.