Hungerkrise: Am Tropf des Weltmarkts

Nr. 28 –

Mit dem Ukrainekrieg nimmt der Hunger in Ostafrika dramatisch zu. Um die eigene Nahrungsmittelproduktion zu steigern, gehen Bäuer:innen nun neue Wege.

Emunia Emariau und ihr Sohn Lopeto bei einer mobilen Klinik in der kenianischen Region Turkana
«Alle unsere Ziegen sind tot, und wir haben nichts zu essen»: Emunia Emariau und ihr Sohn Lopeto bei einer mobilen Klinik in der kenianischen Region Turkana.

Unter einem grossen Baum herrscht Hochbetrieb, Helfer:innen haben eine mobile Klinik errichtet. Im Schatten der ausladenden Krone werden hier im Westen der kenianischen Region Turkana Kleinkinder gewogen und gemessen. Eine Frau legt dem kleinen Lopeto Ebenyo das Massband um den Oberarm, an dem sich der Ernährungszustand ablesen lässt. Es zeigt rot an, das Kind ist schwer unterernährt. «Das liegt an der Dürre», sagt seine Mutter Emunia Emariau besorgt – wenn auch nicht überrascht. «Alle unsere Ziegen sind tot. Wir haben keine Milch und nichts zu essen.»

Im Norden Kenias wie in weiten Teilen Somalias und Äthiopiens herrscht die schlimmste Trockenheit seit vierzig Jahren. Gemäss Uno haben derzeit mindestens achtzehn Millionen Menschen am Horn von Afrika zu wenig zu essen. Bis September könnte die Zahl auf zwanzig Millionen steigen.

Gründe für diese katastrophale Lage gibt es viele. Mit der Klimaerhitzung nehmen extreme Wetterereignisse wie schwere Dürren, Starkregen und Überschwemmungen zu. Die kalten Regenfluten nach langer Trockenheit sind für die vom Hunger geschwächten Tiere ebenfalls tödlich. Hinzu kommen die geringe Produktivität auf den bewirtschafteten Böden, ein rasches Bevölkerungswachstum sowie bewaffnete Konflikte. Auch haben sich die Menschen noch nicht von den schweren wirtschaftlichen Krisen der vergangenen Jahre erholt: von einer Heuschreckenplage biblischen Ausmasses sowie den Folgen der Coronapandemie. Und nun kommt noch der russische Einmarsch in die Ukraine hinzu.

Die Länder südlich der Sahara importieren laut Uno rund 44 Prozent ihres Weizens aus Russland und der Ukraine – im Fall von Somalia sind es über 90 Prozent. Seit dem Krieg klettern die Importpreise auf dem Kontinent in die Höhe. Der Preis für Weizen ist laut der afrikanischen Entwicklungsbank um 60 Prozent gestiegen – zu einer Zeit, in der wegen der eigenen Produktionsausfälle besonders viele Importe nötig wären. Aufgrund der Armut in der Region hätten viele Menschen bereits zuvor einen Grossteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgegeben, sagt Matin Qaim, Professor für Agrarökonomie und Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung (ZEF) an der Universität Bonn. «Wenn die Preise nun nach oben gehen, können sie sich noch weniger leisten.»

Der Weg in die Abhängigkeit

Christian Borgemeister, der geschäftsführende Direktor des ZEF, weist auf das starke Bevölkerungswachstum in Afrika hin. Seit Beginn der 1950er Jahre hat sich die Bevölkerungszahl des Kontinents auf heute rund 1,3 Milliarden Menschen verfünffacht. «Die Steigerung der Produktionsmengen hat damit nicht Schritt gehalten», sagt er. Dabei gebe es eine Reihe von Ländern, die deutlich mehr produzieren könnten, ergänzt sein Kollege Qaim. «Die Landwirtschaft wurde über Jahrzehnte sträflich vernachlässigt.» Die afrikanischen Länder hätten entsprechend dem Entwicklungsmodell aus den fünfziger Jahren auf die Industrie gesetzt. «Die Landwirtschaft wurde dagegen nicht gefördert.» Ein Fehler, wie sich nun herausstellt.

Weltweit seien die Erträge von wichtigen Kulturpflanzen wie Mais, Weizen oder Reis laut Borgemeister kräftig gestiegen, ausser in Afrika. Hier wurden Ertragssteigerungen fast nur dadurch erzielt, dass mehr Flächen unter den Pflug genommen wurden. «Und zwar zulasten von Wäldern und Savannenland – also auf Kosten der Artenvielfalt.» Dadurch verändere sich das lokale Klima zusätzlich, sagt Borgemeister – ein Teufelskreis. «Wir sehen hier eine Kombination aus hausgemachtem, lokalem Klimawandel und globalen Klimaveränderungen, die in dieser Region zu einer deutlichen Zunahme von Dürren geführt hat.»

Lucy Muigai steht in ihrem Garten wo sie unter anderem Mais, Gemüse und Bananen anbaut
«Die biologische Landwirtschaft macht mehr Arbeit als die konventionelle, aber dafür sind die Erträge ja auch besser»: Lucy Muigai baut unter anderem Mais, Gemüse und Bananen an.

Hinzu kommt, dass nicht alle Kulturpflanzen, die in Afrika angebaut werden, an das trockene – und noch trockener werdende – Klima und an die kargen Böden angepasst sind. Hirse oder Cassava würden besser gedeihen als Mais oder Weizen. Die afrikanischen Konsument:innen in den Städten hätten sich jedoch mehr und mehr von den hergebrachten Ernährungsgewohnheiten abgewandt, bedauert der kenianische Agrarökonom Timothy Njagi von der Egerton University – «ohne darüber nachzudenken, dass wir uns auf diese Weise von Importen abhängig machen».

Inzwischen wollen allerdings immer mehr Menschen auf dem afrikanischen Kontinent wieder unabhängiger von Importen werden. Lucy Muigai etwa isst schon seit vielen Jahren vor allem das, was sie selbst anbaut: Mais, Gemüse, Bananen, Koriander und andere Gewürze – ausserdem pflanzt sie Tee an, den sie verkauft. Die 63-Jährige lebt in Murang’a, im zentralen Hochland von Kenia. Dass sie ihr Feld seit einigen Jahren biologisch bearbeitet, liegt vor allem an ihrem Entsetzen darüber, wie bedenkenlos ihre Nachbar:innen Pestizide aller Art in rauen Mengen einsetzen. «Die vergiften sich doch alle selbst – und auch ihre Kund:innen in den Städten», sagt Muigai. Sie fegt sorgfältig den Dung zusammen, den ihre drei Milchziegen in ihrem geräumigen hölzernen Stall hinterlassen haben. «Den Dung mische ich mit anderen organischen Abfällen und mache Kompost.»

Hunger ist unregierbar

Muigai geht voraus auf ihr Feld, das sie mit einer Hecke eingegrenzt und mit einem Tor samt Schloss gesichert hat. Die Maispflanzen stehen hoch und sehen genau wie ihre Gemüsepflanzen kräftig aus. «Nachdem ich auf biologische Landwirtschaft umgestellt habe, ist der Ertrag meiner Felder deutlich gestiegen», sagt die überzeugte Biobäuerin. Zwar habe das eine Weile gedauert, aber nach ein paar Jahren habe sich die Sorge um den Boden und dessen Fruchtbarkeit ausgezahlt.

Lucy Muigai nimmt an einem Projekt des Schweizer Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL) teil, das sich mit der Frage beschäftigt, wie die Fruchtbarkeit ausgelaugter Böden wieder verbessert werden kann. Geforscht wird auch in Bolivien und Indien – in Kenia arbeitet das FiBL unter anderem mit dem kenianischen Insektenforschungsinstitut Icipe zusammen. In einer Langzeitstudie, die biologisch und konventionell bestellte Maisfelder verglich, habe sich der biologische Anbau als ertragreicher erwiesen, sagt Edward Karanja, der die Projekte in Kenia leitet. Ein Ergebnis, das die Erfahrung von Lucy Muigai bestätigt.

Solche Forschungsergebnisse finden auch bei afrikanischen Regierungen immer mehr Aufmerksamkeit. Die politischen Entscheidungsträger:innen hätten gemerkt, dass die Lage auch für sie politisch unkontrollierbar werde, sagt Agrarökonom Njagi. «Wenn Menschen wirklich hungrig sind, kannst du sie nicht mehr regieren.» Der Internationale Währungsfonds (IWF) warnte bereits Ende April, dass die drohende Nahrungsmittelkrise in Afrika südlich der Sahara soziale Unruhen auslösen könnte.

Hinzu komme, dass die afrikanischen Regierungen schon vor dem Ukrainekrieg einen grossen Teil ihres Budgets für Getreideimporte ausgegeben hätten, ergänzt ZEF-Direktor Borgemeister. Inzwischen liessen die stark gestiegenen Preise die Staatsausgaben aus dem Ruder laufen. Insbesondere Finanzminister:innen plädieren derzeit für Reformen in der Landwirtschaft.

Weniger Verschwendung

Womöglich wird die Knappheit von Weizen und anderem Getreide auf dem Weltmarkt auch zu neuen politischen Allianzen führen. «Russland ist der weltweit grösste Weizenexporteur», unterstreicht Agrarökonom Qaim. «Und es verfügt auch über etwa zehn Prozent der weltweiten Ackerflächen.» Dies setze der russische Präsident Wladimir Putin derzeit strategisch ein. Nach einem kurzen Exportstopp im März verkauft Russland laut Qaim inzwischen wieder über achtzig Prozent der Vorkriegsmenge. «Es exportiert aber nur an befreundete Länder oder an solche, die gefügig sind – beziehungsweise gefügig gemacht werden sollen.» Es bestehe die Gefahr, dass die Welt dadurch aufgeteilt werde in einerseits unabhängige und andererseits abhängige, russlandfreundliche Staaten, die auf Weizenimporte angewiesen seien.

Trotz Klimakatastrophen und Kriegen sind die Expert:innen jedoch überzeugt, dass eine gerechte globale Ernährung möglich ist. «Das bedarf einer grösseren Nachhaltigkeit im Konsum», sagt Agrarökonom Matin Qaim. Das bedeute vor allem, dass die Verschwendung und die Nutzung von Getreide als Futtermittel reduziert werden müssten. «Wir müssen weg vom hohen Fleischkonsum, den wir vor allem in den reichen Ländern beobachten.» Zudem müsse dort, wo es günstige landwirtschaftliche Bedingungen gebe, die nachhaltige und umweltfreundliche Produktion gefördert werden.

Die EU fördere zwar schon länger landwirtschaftliche Projekte in Afrika, interessiere sich dabei aber kaum für die Bedürfnisse vor Ort, sagt Agrarökonom Njagi. So setze sie sich zum Beispiel für die Intensivierung der Milchwirtschaft ein. «Aber in den meisten Regionen Afrikas kann Vieh wegen der Trockenheit nur in extensiver Weidewirtschaft gehalten werden.» Wichtig für eine global gerechte Ernährung sei nicht zuletzt mehr Wissenstransfer, meint der kenianische Wissenschaftler. Njagi schlägt dafür mehr Kooperation zwischen afrikanischen und deutschen Universitäten vor. «Unsere Wissenschaftler könnten auf der Grundlage dessen, was Europa bereits entwickelt hat, lokale Lösungen finden, die an die hiesigen Verhältnisse angepasst sind – ohne dass wir einfach nur kopieren und übertragen, was anderswo angewendet wird.»

Wissen weitergeben

Lucy Muigai hat sich daran gemacht, Unkraut zwischen ihren Spinatpflanzen zu jäten. «Die biologische Landwirtschaft macht mehr Arbeit als die konventionelle», sagt sie, «aber dafür sind die Erträge ja auch besser.» Es ist Ende Juni, die Sonne brennt ihr ins Gesicht. «Das ist der Klimawandel», sagt sie. «Bei uns hier im Hochland ist es im Juni und Juli sonst immer neblig und kalt.» Die krassen Wetterwechsel machen ihr Sorgen, ihr Tee hat zuletzt unter zu viel Regen gelitten. Wie im Norden des Landes könnte aber schon bald auch hier im zentralen Hochland eine aussergewöhnliche Trockenheit folgen, unter der ihre Ernte zusätzlich leiden würde.

Sie zeigt auf den mickrigen Mais, der im Feld ihrer Nachbarn steht. «Neulich sind sie zu mir gekommen und haben mich gebeten, ihnen zu erklären, worauf es bei der biologischen Landwirtschaft ankommt.» Die Klimakrise geht nicht an ihr vorüber, aber sie hat einen Weg gefunden, wie sie mit den Folgen klarkommen kann. Dieses Wissen, sagt Muigai, gebe sie gerne weiter.