«Der Streit um die Entwicklungshilfe»: Hilfe mit offenem Ausgang

Nr. 19 –

Mehrere Jahrzehnte Entwicklungszusammenarbeit haben eine Fülle von Lehren und Erkenntnissen gebracht. Ein neues Buch stellt sie vor und setzt der pauschalen Kritik
eine differenzierte Sicht entgegen. Ein Vorabdruck.

Anfänglich ging die Entwicklungszusammenarbeit von einer sehr dominanten Rolle des Helfers aus. Auf der einen Seite hatte das historische Gründe. Bis weit nach 1945 steuerten Kolonial­ministerien in London, Paris, Den Haag, Brüssel oder Washington direkt die Geschicke der kolonialisierten Länder in Afrika und Asien. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie alle entweder in der Aufstandsbekämpfung tätig (etwa in Indonesien, Vietnam, Malaysia, Philippinen, Kenia, Algerien) oder in der «Entwicklung» ihrer Kolonien in Hinblick auf eine spätere Unabhängigkeit. Die staatlichen Entwicklungsagenturen bei den Kolonialmächten gingen direkt aus der Kolonialbürokratie hervor. Die frühe Entwicklungszusammen­arbeit war deshalb nicht frei von Über­legenheits- und Allmachtsgefühlen sowie der Verachtung für die Völker Asiens und Afrikas. Länder wie die Schweiz, die mangels Machtmitteln und Gelegenheit am kolonialen Abenteuer vorbeikamen, gingen zwar ohne direkte «Erblast» an die Entwicklungszusammenarbeit ­heran. Sie waren jedoch von den Weltbildern geprägt, die das imperialistische Eu­ropa hervorgebracht hatte.

Auf der anderen Seite hatten die neuen Entwicklungshilfeagenturen von Anfang an eine technokratische Schlagseite. Die moderne Wissenschaft und die industriellen Technologien, als deren Besitzer und Hüter sich die Geber fühlten, galten als der Motor des Fortschritts schlechthin.

So prägten koloniale Überbleibsel und technokratische Schlagseite das Bild von der Entwicklungshilfe in den fünfziger und sechziger Jahren, als wir später Geborenen im Religionsunterricht unsere Zwanzigrappenstücke ins dankbar nickende Negerli steckten. Der Entwicklungshelfer war der Aktive, der gegen den Mangel anging. Die «Begüns­tigten» blieben eigentümlich passiv. Auch heute noch haben viele Bürger­Innen, deren Herz für die Armen in den Entwicklungsländern schlägt, ähnliche Vorstellungen. Es fehlt an Medikamenten? Bringen wir sie! Es hat kein Spital? Stellen wir eins auf! Die Kinder sitzen in der Schule auf dem nackten Boden? Beschaffen wir ihnen die Stühle!

Die Lektionen der Praxis

In der Praxis sah es jedoch anders aus. Es nützte wenig, dass Entwicklungsagenturen befestigte Strassen bauten, wenn es im «begünstigten» Staatswesen keine Institutionen für den Strassenunterhalt gab. Es hatte geringe volkswirtschaftliche Auswirkungen, wenn die Strassen durch Firmen der Geberländer gebaut wurden, statt einheimische Unternehmen in die Aufgabe einzuführen. Schwierig ist nicht die technische Aufgabe des Strassen- oder Brunnenbaus, schwierig ist der soziale Prozess der Nutzung solcher öffentlicher Infrastrukturen. Ohne diesen in Gang zu bringen, löst sich der «Fortschritt» in Nichts auf, sobald die Helfer weiterziehen.

Die erste Lektion, welche die staatlichen und privaten Entwicklungsorganisationen lernten, war deshalb, dass nicht sie von aussen «Entwicklung» bringen, sondern die Betroffenen selber «Entwicklung» voranbringen müssen. Die AkteurInnen der Entwicklungszusammenarbeit können sie dabei nur begleiten. «Entwicklung» ist nicht die Beseitigung des Mangels durch Dinge, die wir «bringen» – Fabriken, Bewässerungssysteme, Häfen, Schulen oder Elektrizitätswerke – und durch Wissen, das wir vermitteln. Es ist ein Prozess ­sozialer und politischer Auseinandersetzungen und wirtschaftlicher Lernprozesse in den armen Ländern selber. Und immer mit offenem Ausgang.

Die zweite Lektion bestand darin, in der Praxis die Grenzen des eigenen Wissens und Könnens deutlich zu erfahren. Auf der einen Seite «entdeckten» HelferInnen in den armen Ländern zuhauf einheimisches Wissen, das in soziale und wirtschaftliche Tätigkeiten einfliesst. So gab es in der ländlichen Entwicklung für viele Probleme bessere Lösungen, wenn man auf das lokale Wissen der Bäuerinnen und Bauern abstellte. Auf der andern Seite drängten die «Progressiven» in der Hilfsindus­trie seit den siebziger Jahren darauf, die Rolle des weissen Experten und allwissenden Helfers zurückzufahren und vermehrt ­einheimische Fachleute heranzuziehen. Nur so liess sich der Transfer von Know-how institu­tionell und personell verbessern. Heute beschäftigen die schweizerischen Hilfswerke und die staatliche Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) in den armen Ländern, in denen sie tätig sind, ausschliesslich oder zu einem guten Teil einheimische Fachleute.

Die dritte Lektion bestand darin, die Fülle von möglichen AkteurInnen der «Entwicklung» in den armen Ländern zur Kenntnis zu nehmen und die eigene Arbeit darauf abzustimmen. Die Entwicklungshilfe startete als Geschäft zwischen Regierungen – weshalb die Regierungen und staatlichen Institutionen der Entwicklungsländer längere Zeit als die HauptakteurInnen der «Entwicklung» galten. Es brauchte Zeit, bis die Entwicklungsorganisationen lokale Gemeinschaften, Bauern und Bäuerinnen, KleinunternehmerInnen oder soziale Bewegungen als eigenständige AkteurInnen neben dem Staat wahrzunehmen und zu integrieren begannen. Heute ist es üblich, Entwicklungsprogramme als Kooperation verschiedener AkteurInnen anzupacken.

Die Mächtigen und die Ärmsten

Die vierte Lektion bestand darin, zu erkennen, dass die Ärmsten in armen Ländern in der Regel arm bleiben, auch wenn das Land daran ist, langsam reicher zu werden. Seit den siebziger Jahren will sich deshalb die Entwicklungszusammenarbeit auf die Ärmsten konzentrieren. Das Vorhaben war immer schwierig und wurde längst nicht von allen AkteurInnen konsequent angepackt. Denn es verlangte, die Konflikt­linien in den Gesellschaften der Entwicklungsländer wahrzunehmen und zu erkennen, dass es Interessengruppen und Mächtige gibt, denen nichts daran liegt, den Ärmsten mehr Gewicht zu geben. Insbesondere musste die Illu­sion aufgegeben werden, dass die Regierungen die zentralen Akteure in der Armutsbekämpfung sind. Heute arbeiten schweizerische Hilfswerke und die Deza oft mit besonders benachteiligten Gruppen zusammen und versuchen, nicht nur ihre unmittelbaren Lebensumstände, sondern auch ihre Rechtsstellung zu verbessern und ihr politisches Gewicht zu verstärken.

Die fünfte Lektion bestand darin, zu begreifen, dass Frauen und Männer ungleiche Chancen und Rechte haben und dass dies negative Auswirkungen auf den Entwicklungsprozess hat. Unter dem Ansturm der Frauenbewegungen der Industrie- und der Entwicklungsländer lernten die Entwicklungshelfer­Innen nolens volens, dass es nicht einfach Arme gibt oder Kleinbauern oder Kastenlose, denen sie zu helfen wünschen. Sondern dass in aller Regel die Ärmsten weiblich sind, dass in der prekären kleinbäuerlichen Landwirtschaft die Frauen die Produktion garantieren oder dass kein Kastenloser so rechtlos ist, dass er nicht noch eine kastenlose Frau unter sich hat. Es gibt heute keine Entwicklungsorganisation mehr, die in ihren Programmen der Förderung der Frauen nicht einen zentralen Platz zuweist.

Die sechste Lektion ergab sich aus heftigen Kontroversen rund um die grossen humanitären Hilfsaktionen in Afrika. Die Interventionen bei den grossen Hungersnöten und kriegserzeugten Katastrophen in Äthiopien, im Süd­sudan oder im zusammenbrechenden somalischen Staat liefen Gefahr, eine der Krieg führenden Parteien zu stärken oder allen Konfliktparteien die Fortsetzung der bewaffneten Auseinandersetzungen zu erleichtern. Unter dem Titel «Do no harm» – schade nicht! – erarbeiteten Entwicklungsorganisationen Regeln und Instrumentarien, um die unerwünschten oder sogar kontraproduktiven Nebenfolgen ihrer Tätigkeit zu verringern oder ganz zu vermeiden.

Als siebte Lektion könnte man die Einsicht der AkteurInnen der Entwicklungszusammenarbeit in die mangelnde Kohärenz, das heisst in die Widersprüchlichkeit der Nord-Süd-Politik der Geberländer, bezeichnen. Deshalb engagieren sich vor allem die privaten Entwicklungsorganisationen auch für eine kohärentere Entwicklungspolitik ihrer Regierungen und mischen sich international bei den Institutionen ein, die für die Entwicklungsländer von Bedeutung sind. Deshalb haben übrigens 1971 schweizerische Hilfswerke Alliance Sud gegründet, um die Kohärenzfragen gemeinsam anzugehen.

Die Grundsätze

Aus all diesen Lektionen folgt eine Reihe von Grundsätzen der Entwicklungszusammenarbeit, die heute international und national in der Entwicklungsgemeinde mehr oder minder unbestritten sind:

•  Partizipation: Jedes Programm oder Projekt von Entwicklungsorganisatio­nen kommt nur dann zum Tragen, wenn die «begünstigten» Bevölkerungsgruppen und Behörden das Design, die ­Realisierung und die Verwaltung prägen und bestimmen.

•  Partnerschaft: Die AkteurInnen der Entwicklungszusammenarbeit sollen nicht allein und mit eigenen Strukturen arbeiten, sondern über lokale PartnerInnen. Die Hilfe ist nicht ein Verhältnis des einseitigen Gebens und Nehmens.

•  Nachhaltigkeit: Was Entwicklungsorganisationen mit ihren Partnern aufbauen, soll so konzipiert werden, dass die Programme auch nach der Beendigung der personellen und finanziellen Unterstützung weiterexistieren und sich fortentwickeln können.

•  Empowerment: Um gegen die Armut anzugehen, genügt es nicht, einfach bei den materiellen Lebensumständen anzusetzen. Viele Probleme der Ärmsten lassen sich nur bewältigen, wenn die Betroffenen sich organisieren, ihre Interessen artikulieren und in die politische Auseinandersetzung hineintragen können.

•  Geschlechtergerechtigkeit: Die Programme der Entwicklungszusammenarbeit dürfen nicht geschlechtsblind sein – es gibt in diesem Sinne nicht einfach «Menschen», sondern zwei Geschlechter mit sehr ungleichen Chancen und Rechten.

•  Do no harm: Entwicklungsorganisationen müssen ihre Programme so konzipieren, dass sie den vermeintlich «Begünstigten» nicht letztlich schaden.
So weit die hohen Prinzipien. In der Praxis sind sie nicht so einfach anzuwenden, wie sie sich lesen. Hier nur ein Beispiel.

Heisst Partizipation, dass die «Begünstigten» am Programm «partizipieren», das die Entwicklungsorganisation oder ihr lokaler Partner ausgearbeitet hat? Dass sie also konsultiert werden, dass ihre Anregungen ins Programm aufgenommen und dass sie an der Realisierung beteiligt werden? Oder sollen sich Entwicklungsprogramme, statt Partizipation einzufordern, vermehrt an Eigenanstrengungen der Betroffenen beteiligen? Sollen die Entwicklungsorganisationen also an dem partizipieren, was die «Begünstigten» zu unternehmen beabsichtigen? In der Praxis kommt beides vor. Seltener ist allerdings die Partizipation der Entwicklungsorganisationen an dem, was die Betroffenen selber unternehmen wollen, obwohl sich fast alle dafür aussprechen, dass es in diese Richtung gehen sollte.

Die AkteurInnen der Entwicklungszusammenarbeit haben in den letzten fünfzig Jahren viel gelernt, viel korrigiert und ihre Aktivitäten und Vorgehensweisen stark verändert. Treibende Kräfte dieses offenen, nicht abgeschlossenen Lernprozesses sind die «Partner», mit denen es die Entwicklungsorganisatio­nen zu tun haben, und die Mitarbeiterinnen der Entwicklungsorganisationen vor Ort. Dabei agieren «Partnerinnen» und Helfer nicht einfach als RepräsentantInnen der beiden Pole einer ungleichen Machtbeziehung von Geberinnen und Empfängern, sondern beeinflussen sich gegenseitig und bilden im besten Fall ein eigenes Milieu von «Entwickler­Innen» heraus.

Peter Niggli: Der Streit um die Entwicklungs­hilfe. Mehr tun – aber das Richtige!. Herausgegeben von Alliance Sud. Rotpunktverlag. Zürich 2008. 210 Seiten. 22 Franken

Das Buch

Im Mai 2008 erschien das Buch «Der Streit um die Entwicklungshilfe» von Peter Niggli. Der Autor stellt sich der pauschalen Kritik an der Entwicklungshilfe und zeigt auf, was eine sinn­volle Entwicklungszusammenarbeit tun kann. Niggli ist Geschäftsleiter der Alliance Sud, der entwicklungspolitischen Organisation verschiedener Schweizer Hilfswerke.