Frankreich: Schüsse in der Banlieue
Rechtsradikale Splittergruppen gehen eine ungewöhnliche Allianz ein. Sie verbünden sich mit schwarzen Rassistinnen und Antisemiten, die nach Afrika zurückkehren wollen, wenn sie vom Staat für Sklaverei und Kolonialismus finanziell entschädigt werden.
Maskierte Männer durchqueren im Auto eine Hochhaussiedlung in Saint-Michel-sur-Orge, rund zwanzig Kilometer südlich von Paris, und schiessen mit einer Kalaschnikow aus dem fahrenden Wagen. Mindestens 35 Schuss der Munition mit Kaliber neun Millimeter feuern sie auf die EinwohnerInnen der Sozialbausiedlung ab. «Nur durch einen glücklichen Zufall», sagt die Staatsanwaltschaft später, gibt es keine Opfer. Im Fahrzeug sitzen Neonazis.
Grosses Waffenlager
Diese Szene trug sich nicht in einem Film zu, sondern ereignete sich Ende Mai tatsächlich. Die Fahndung der Polizei ist erfolgreich. Schon bald nach der Tat stösst sie bei ihren Ermittlungen auf ein Waffenlager im Hangar eines Industriegebiets: Kalaschnikows, eine grosse Menge Munition und chemische Substanzen - nach Angaben der Staatsanwaltschaft «eines der bedeutendsten Waffenarsenale, die jemals in diesem Departement entdeckt worden sind».
Inzwischen sind drei junge Männer im Alter zwischen 20 und 24 Jahren festgenommen worden. Der jüngste von ihnen ist ein Schüler in Saint-Michel-sur-Orge. Er soll gestanden haben, bei der Fahrt mit dabei gewesen zu sein. Er habe sich mit seinen MitschülerInnen gestritten und wollte sich rächen. Gegen ihn und einen weiteren Tatverdächtigen ist ein Strafverfahren wegen Mordversuchs, Bildung eines bewaffneten Haufens und illegalen Waffenbesitzes eingeleitet worden.
Ob der dritte Festgenommenen, Camille F., auch im Auto sass, ist noch unklar. Er soll nach Angaben der Polizei jedoch versucht haben, Spuren der Tat zu beseitigen. Alle drei haben bekannt, Mitglieder einer bis dahin unbekannten Neonazigruppe namens Nomad-88 zu sein, wobei die Zahlenkombination, wie bei Neonazis üblich, für «Heil Hitler» steht (H ist der achte Buchstabe im Alphabet). Nomad-88 orientiert sich ideologisch am US-amerikanischen Ku-Klux-Klan und der britischen Neonaziorganisation Combat 18.
Rassisten aller Länder ...
Nomad-88 soll aus rund dreissig Mitgliedern bestehen und weitgehend identisch mit Nomad-Sécurité sein, einem überwiegend aus Skinheads bestehenden Ordnungsdienst. Camille F. gilt als ihr Anführer. Nomad-Sécurité ist bis anhin vor allem bei Aktionen einer etwas breiter angelegten Nazigruppe unter dem Namen La Droite Socialiste (Sozialistische Rechte) in Erscheinung getreten.
AnhängerInnen der Droite Socialiste haben am 1. Mai beim Aufmarsch des Front National (FN) in Paris teilgenommen. Am 8. Mai organisierte La Droite Socialiste eine kleine Kundgebung gegen die französische Militärpräsenz in Afrika, da dort angeblich nicht die wahren französischen Interessen vertreten werden. Mitorganisator der Kundgebung war die Bewegung der Verdammten des Imperialismus (MDI). Bei dieser Gruppe handelt es sich um die früheren AnhängerInnen der 2006 verbotenen Tribu K, einer Bewegung schwarzer Rassisten und Antisemitinnen. Diese treten für «Rassentrennung» ein und halten sich in Abgrenzung zu den Semitinnen für sogenannte Kemiten - Abkömmlinge eines alten Herrenvolks.
Der Anführer des MDI, Kémi Séba, mit bürgerlichem Namen Stello Capochichi, rechtfertigt seine Strategie, mit weissen RassistInnen und Neonazis Bündnisse einzugehen, folgendermassen: «Die Wut, die seit zwanzig Jahren in den Banlieues kocht, ist durch zionistische Laboratorien wie SOS Racisme und Co. kanalisiert und auf den idealen Sündenbock in Gestalt der nationalen Rechten umgeleitet worden.» Antirassismusgruppen sollen also jüdisch unterwandert sein und nur danach trachten, den Hass der MigrantInnen gegen die Rechten zu schüren.
Krise beim Front National
Capochichi fordert für die AfrikanerInnen in Frankreich Entschädigungszahlungen für Sklaverei und Kolonialismus vom Staat und bietet dafür im Gegenzug «die Rückkehr» der Schwarzen nach Afrika und somit eine «rassische Entmischung» an.
Israelhass und Antisemitismus sind die ideologische Verbindung für die Allianz von Neonazis wie La Droite Socialiste mit der MDI. Die Gegnerschaft zum Staat Israel spielt in den grossen Parteien der französischen extremen Rechten dagegen keine allzu grosse Rolle. Teilweise sogar ganz im Gegenteil: Schliesslich beziehen sich viele alte Rechtsextreme positiv auf Frankreichs Kolonialkriege. Und damals war das Land mit Israel verbündet.
Die Entstehung von Splittergruppen wie Nomad-88 und anderen obskuren Vereinigungen hängt eng mit der derzeitigen Krise etablierter rechtsextremer Parteien wie des FN zusammen. Der Front National hat für junge Rechtsradikale an Anziehungskraft verloren. Er ist kraft- und orientierungslos geworden, nachdem der konservative Block unter Führung von Nicolas Sarkozy der Partei bei den Wahlen im Frühjahr 2007 rund einen Drittel seiner Wähler abgeworben hat und ein weiterer Drittel nicht mehr zur Urne ging. Die Krise des FN wird zusätzlich durch ein akutes Führungsproblem verschärft. Noch immer ist nämlich nicht klar, wer NachfolgerIn des Parteipräsidenten Jean-Marie Le Pen wird. Dieser hält sich für unersetzbar und wird diese Woche achtzig Jahre alt.