Physik und Metaphysik: Wenn PhysikerInnen hoffen

Nr. 28 –

Der neue Teilchenbeschleuniger am Cern ist ein Forschungsinstrument der Superlative. Stösst die Physik mit ihm an die Grenzen dessen, was man wissen kann?


Im August soll der weltgrösste Teilchenbeschleuniger LHC am Kernforschungszentrum Cern bei Genf seinen Betrieb aufnehmen (vgl. «Ort der Superlative»). Teilchenbeschleuniger dienen dazu, Theorien über den Aufbau der Materie zu entwickeln beziehungsweise zu überprüfen.

Gemäss der Teilchenphysik ist die Materie aus elementaren «Teilchen» aufgebaut, und auch die Kräfte lassen sich als «Teilchen» beschreiben. Alle Elementarteilchen, die es laut Theorie gibt, konnten in Teilchenbeschleunigern tatsächlich nachgewiesen werden - mit Ausnahme eines einzigen, des sogenannten Higgs-Boson. PhysikerInnen hoffen, diese Lücke mithilfe des LHC schliessen zu können.

Doch es harren noch grössere Probleme einer Lösung als der Nachweis des Higgs-Boson. Die zeitgenössische Physik arbeitet nämlich mit zwei grossen Theoriegebäuden, die sich widersprechen: den Relativitäts- und den Quantentheorien. Erstere erklären Phänomene im ganz Grossen, Letztere Phänomene im ganz Kleinen. In Teilchenbeschleunigern nun werden sehr grosse Energien auf sehr engem Raum konzentriert, sodass die Welt des Grossen und die Welt des Kleinen zusammentreffen. Deshalb erhoffen sich die PhysikerInnen aus solchen Experimenten Hinweise darauf, wie sich die Widersprüche auflösen lassen könnten.

Knackpunkt dabei ist die Gravitation (Schwerkraft), die quantentheoretisch nicht erklärbar ist. Die Physik beobachtet vier Wechselwirkungen (Kräfte) zwischen Materieteilchen - die starke, die schwache, die elektromagnetische Wechselwirkung und die Gravitation. Viele PhysikerInnen hoffen, alle vier Kräfte als Ausdruck einer einzigen Urkraft verstehen zu können - das wäre die «Theorie für alles», die «Weltformel». Für die ersten drei Kräfte ist diese Vereinheitlichung gelungen.

Wird die Vereinheitlichung eines Tages ganz gelingen und auch die Gravitation mit einbeziehen? Der ambitionierteste Ansatz dazu heisst Superstringtheorie. Diese postuliert, dass die «Teilchen» ihrerseits aus «strings» aufgebaut seien - aus eindimensionalen, schwingenden Objekten. Damit diese Theorie mathematisch möglich ist, muss der Raum mindestens neun Dimensionen aufweisen.

Bisher ist nicht absehbar, dass die Superstringtheorie jemals experimentell überprüfbar sein wird. Verlässt die theoretische Physik damit den Boden der Wissenschaft und wird zur puren Spekulation?

Reiner Hedrich, Wissenschaftsphilosoph an der Technischen Universität Dortmund, befasst sich mit Theorien und Konzepten der zeitgenössischen Physik und hat die Debatte über die Wissenschaftlichkeit moderner physikalischer Konzepte untersucht.

Herr Hedrich, wenn man die Physiker fragt, was sie sich vom LHC erhoffen, so wird als Erstes die experimentelle Bestätigung des Higgs-Boson genannt. Ein milliardenteures Experiment, nur um ein Teilchen zu finden, dessen Existenz sowieso alle annehmen?

Reiner Hedrich: Man muss ja einen konkreten Zweck angeben können, wofür man das Geld ausgeben will. Das Higgs-Teilchen eignet sich dafür gut. Es ist interessant, weil damit die Quantenfeldtheorie (eine Weiterentwicklung der Quantenphysik, Anm. d. Red.) steht und fällt. Existiert es nicht, muss man eventuell eine ganz neue Theorie entwickeln. Aber es geht am LHC nicht nur um das Higgs-Boson. Es gibt im Bereich der Quantengravitation viele hoch spekulative Theorien, zu denen man sich vom LHC Hinweise erhofft. Beispielsweise die Superstringtheorie. Diese erfordert die «Supersymmetrie», das heisst, zu jedem bekannten Teilchen muss ein «supersymmetrischer» Partner existieren. Findet man keine solchen Partnerteilchen, würde das darauf hinweisen, dass die Superstringtheorie falsch ist. Vielleicht findet man mit dem LHC aber auch gar nichts, das die Physik weiterbringt.

Was bedeutet eigentlich «Teilchen»? Ist das etwas, das es tatsächlich gibt - oder ist das nur ein abstraktes Konzept, um die Welt mathematisch zu fassen?

Der Begriff ist sehr problematisch. «Higgs-Teilchen» ist nur ein Begriff für eine Ausprägung eines Feldes (Wirkungsbereich einer Kraft, Anm. d. Red.), des Higgs-Feldes. Mit dem Alltagsbegriff hat das nichts zu tun.

Sie sprachen von der Hoffnung, Hinweise auf die Superstringtheorie zu finden. Aber um «strings» experimentell nachzuweisen, bräuchte es einen Beschleuniger, grösser als unser Sonnensystem. Stösst die Physik mit dem LHC an die Grenze des Erforschbaren?

Man sucht nach Konsequenzen der Theorie, zu deren Nachweis es keine unmöglich grossen Beschleuniger bräuchte - beispielsweise die Supersymmetrie. Der Stringansatz hat aber das Problem - manche sehen das als Vorteil -, dass in etwa 10500 Varianten denkbar sind. Könnte man konkrete Vorhersagen der Theorie im Experiment prüfen, dann passte zu allen Daten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine Unzahl von Theorievarianten. Das brächte keinen Erkenntnisgewinn. Die Superstringtheorie kann heute aber gar keine numerischen Aussagen machen, die sich direkt überprüfen liessen. Die Stringtheoretiker arbeiten deshalb an einer Theorie, die das könnte. Diese sogenannte M-Theorie gibt es jedoch noch nicht.

Die M-Theorie ist erst die Idee einer Theorie?

Ich würde sagen: der Ansatz zu einer Idee zu einer Theorie.

Einige Physiker, etwa der Nobelpreisträger Robert Laughlin, meinen, eine Theorie, die nicht überprüft werden könne, sei keine Wissenschaft, sondern Spekulation.

Ich würde sagen: Die Superstringtheorie ist etwas, das zu Wissenschaft werden könnte, wenn sie weitere Erfolge haben sollte. Zurzeit ist sie das Vorstadium einer Theorie. Was die Stringtheoretiker tun, ist nicht unsinnig. Sie tun, was Theoretiker immer taten: Sie denken theoretische Konzepte fort. Die Ausgangslage ist die, dass die Quantenfeldtheorie und die Relativitätstheorie unverträglich sind. Die Gravitation konnte bisher quantentheoretisch nicht erklärt werden. Die Stärke der Stringtheorien ist, dass sie die Gravitation formal reproduzieren können. Nur gibt es noch nicht einmal eine Idee, wie diese Theorien experimentell geprüft werden könnten. Und es gibt Grund zur Annahme, dass das so bleibt.

Weshalb wird seit einem Vierteljahrhundert so viel Energie dafür aufgewendet, an etwas zu arbeiten, das sich sowieso nicht überprüfen lässt? Ist das nicht Haarspalterei?

Was wäre die Alternative? Man muss es versuchen. Das Problem der nicht vereinbaren Theorien ist seit den zwanziger Jahren bekannt. Mit den «strings» - einem Konzept, das eigentlich auf einem anderen Gebiet entwickelt wurde - konnte man das Problem zumindest formal lösen. Es gibt aber auch andere Ansätze, die ganz andere Wege gehen.

Die Idee, dass sich die beiden grossen Theorien vereinheitlichen lassen, dass es eine Theorie von allem gibt, oder auch die Idee der Supersymmetrie: Sind das nicht rein ästhetische Konzepte?

Es gibt zwei Typen der Vereinheitlichung. Der bescheidenere versucht lediglich, die Widersprüche auszuräumen. Das scheint mir vernünftig, denn es ist schwer vorstellbar, dass die Welt nach Gesetzen funktioniert, die sich widersprechen. Der andere Ansatz, den die Stringtheoretiker verfolgen, will eine einheitliche «Weltformel» finden, die alle grundlegenden Naturgesetze erklärt. Das ist letztlich eine metaphysische Idee mit ästhetischem Anklang. Aber die Physik ist seit Newton mit dieser Idee erstaunlich weit gekommen.

Bis in die frühe Neuzeit gab es die ästhetische Idee, alle Himmelskörper bewegten sich auf Kreisen. Je genauer die Beobachtungen wurden, desto kompliziertere - und hässlichere - theoretische Verrenkungen wurden nötig, um die Idee aufrechtzuerhalten. Bis Johannes Kepler 1609 kam und sagte: Es sind gar keine Kreise, es sind Ellipsen. Könnte es sein, dass wir wieder an einem solchen Punkt stehen?

Ich kann mir gut vorstellen, dass wir ganz andere Konzepte bräuchten. Möglicherweise sind wir in einer Sackgasse, vielleicht aber auch auf dem richtigen Weg. Vielleicht wird der LHC ganz unerwartete Indizien liefern, die uns die Richtung weisen.

Mir scheint, in der theoretischen Physik werde etwas getrickst. Nehmen wir das Beispiel der «dunklen» Materie, auf die man sich am LHC auch Hinweise erhofft: Man beobachtet eine gewisse Menge Materie im Universum, aber laut Theorie müsste es viel mehr davon geben. Also postuliert man einfach, dass neben der beobachteten Materie noch sehr viel andere unsichtbare, eben «dunkle» Materie bestehe.

Bei Ihrem Beispiel würde ich nicht von Trickserei sprechen. Die Gravitationstheorie, die angesichts der astrophysikalischen Beobachtungen folgert, dass es mehr Materie geben muss, ist gut erprobt: Mit ihr haben wir erfolgreich Raketen auf den Mond geschossen. Wenn man sie nicht aufgeben will, braucht man so etwas wie die dunkle Materie. Aber in anderen Fällen wird - in bester Absicht - schon manchmal getrickst.

Einige argumentieren, die Superstringtheorie müsse stimmen, weil es anders nicht sein könne.

Wenn diese Leute ehrlich wären, würden sie das Argument so formulieren: «Die Superstringtheorie muss stimmen, weil ich ihr zwanzig Jahre meines Berufslebens gewidmet habe ...»

Es gibt Befürchtungen, der LHC könnte Ereignisse auslösen, die die Erde zerstören werden. Das Cern argumentiert dagegen: Wir tun nichts, was in der Natur nicht auch geschieht. Ist das nicht eine unzulässige Gleichsetzung von Laborsituation und Realität?

Tatsächlich geschieht alles, was man am Cern tut, auch in der Natur, aber die Bedingungen sind teilweise andere. Die Leute am Cern unterscheiden sehr genau zwischen Labor und Natur, aber sie brauchen ein starkes Argument gegen die Befürchtungen. Es gibt andere gute Argumente, weshalb die Experimente nicht gefährlich sind, aber die sind viel komplizierter zu erläutern.

Der Cern-Physiker Rolf Landua schreibt in seinem Büchlein «Am Rand der Dimensionen»: «Vielleicht erleben wir gerade den Beginn der nächsten Stufe der Bewusstseinsentwicklung ... Ein quasi-neuronaler Verbund aus Tausenden miteinander kommunizierender Physiker löst ein extrem komplexes Problem, das ein einzelner Verstand nicht mehr überblicken kann. Wenn wir einen Sinn in unserer Existenz suchen, liegt er vielleicht darin, dass unser Universum durch uns zu einer Art Bewusstsein kommt und neue Wege sucht, über sich nachzudenken.» Ist das nun eine Verheissung, eine abgedrehte Science-Fiction-Fantasie oder einfach nur anmassend?

Die Physiker am Cern sind im Moment alle etwas aufgeregt, da fliessen die Hormone ... Ich will nicht ausschliessen, dass es ein kollektives Bewusstsein geben kann, aber am Cern würde ich das nicht suchen. Ich finde es sehr kurios, wenn Wissenschaftler solche Dinge öffentlich äussern.


Ort der Superlative

Der Large Hadron Collider (LHC) ist der grösste Teilchenbeschleuniger der Welt. In einem 27 Kilometer langen Ringtunnel nordwestlich von Genf werden Protonen (Wasserstoffatomkerne) mit Magneten annähernd auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. An vier Stellen des Rings befindet sich je ein Detektor eines Experiments. Hier prallen die beschleunigten Protonen frontal gegeneinander, wobei für Sekundenbruchteile Verhältnisse auftreten, wie sie mutmasslich unmittelbar nach dem Urknall herrschten. Dabei zerfallen die Atomkerne in kleinere «Teilchen», die unter normalen Verhältnissen nicht existieren und die mit den Detektoren nachgewiesen werden.

Das Cern mit dem LHC ist in vieler Hinsicht ein Ort der Superlative. Das grösste der vier LHC-Experimente, Atlas, dauert dreissig Jahre (zwanzig Jahre Vorbereitung, zehn Jahre Experiment); an ihm sind über 2000 WissenschaftlerInnen beteiligt. Die Magnete werden, um die grossen elektrischen Ströme zu ermöglichen, auf minus 271 Grad Celsius gekühlt - kälter als die Temperatur des Weltalls. Um die riesige anfallende Datenmenge der Detektoren zu bewältigen, wurde eine neue Computernetzwerktechnik, das Grid, entwickelt. Bereits das World Wide Web ist 1989 am Cern entstanden, um den Austausch sehr grosser Datenmengen zwischen Instituten auf der ganzen Welt zu ermöglichen. 1995 wurden am Cern Wasserstoffatome aus sogenannter Antimaterie hergestellt - nach menschlichem Ermessen die einzigen, die es im Universum je gab.