Cern intern: «Es muss da eine Art Knacks gegeben haben»
Denkt man an das Cern, jagen sich die Superlative – hin zum Kleinsten, zum Schnellsten, mitunter zum Gefährlichsten. Doch was spielt sich im Alltag hinter den Kulissen der wissenschaftlichen Gralssuche ab?
«Wir sind», sagt Rolf Landua, freundliche Augen in einem weichen Gesicht, «physikalisch gesehen zu 99,9 Prozent leerer Raum.» Das sind unendlich viele Neunen nach dem Komma. Weil ein Mensch und alles andere auf der Welt und auch die Welt selbst aus ein und denselben Bausteinen bestünden: aus unzähligen Atomen, die eine Hülle hätten aus negativ geladenen Teilchen: Elektronen. Eine Hülle, die im Wesentlichen nur leeren Raum einfasse.
Masse habe allein der Kern eines Atoms, und der sei winzig. «Wäre ein Atom so gross wie ein Sportstadion», sagt Landua, «würde der Kern einer Erbse in der Mitte des Rasens entsprechen» und seinerseits aus zweierlei Teilchen bestehen: Protonen und Neutronen. Doch selbst die seien noch immer nicht der Urstoff aller Dinge. Weil ein Proton gemacht sei aus drei sogenannten Quarks, aus Elementarteilchen. Kleiner gehe es nicht.
«Noch nicht», sagt Landua und lächelt, «aber wir arbeiten dran.» Der Physiker wippt in seinem Bürostuhl aus abgewetztem Kunstleder und nippt an einer Flasche Cola. Man sitzt in Büro R-030, einem schmalen Raum, erhellt von einer Neonröhre, als einzige Extravaganz ein grosser Bildschirm auf dem Schreibtisch, im Gebäude 33 der Europäischen Organisation für Kernforschung, Cern, dem weltgrössten Forschungszentrum für Teilchenphysik, gelegen am Rande der Kleinstadt Meyrin nahe Genf.
Wo man mit Formeln und Experimenten dem Wesen der Dinge nachspürt in ihren kleinsten Ausprägungen. Fern durchschnittlicher Vorstellungskraft. Um nichts weniger zu erfahren als das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Die Forschungsgegenstände am Cern haben die Ausmasse eines Senfkorns – jedoch verkleinert um denselben Faktor wie wenn man die Sonne auf ein Senfkorn reduzierte.
Grundlagenforschung. Eine, die niemand braucht, sagen manche. Rolf Landua stellt seine Cola auf den Schreibtisch, schaut aus dem Fenster – draussen leuchtet eine Esso-Tankstelle in den Januarnebel –, dreht seine Handflächen nach oben. «Die einzig legitime Rechtfertigung für unser Forschen hier ist die Neugier.»
«Mein schönster Moment»
Seit seiner Gründung im Jahre 1954 – der Neutralität wegen auf Schweizer Boden – ist das Cern ein Weltlabor der besten TeilchenphysikerInnen. Ein Mikrokosmos der Wissenschaft auf der ausdauernden Suche nach letzten Erkenntnissen. Auf sechs Quadratkilometern erstreckt sich das Gelände am Fusse des Juragebirges, umgeben von Weinbergen und Wiesen und eingefasst von einem hohen Zaun, über schweizerischen und französischen Boden, deklariert als exterritoriales Gebiet.
Zwanzig Staaten sind als Mitglieder dem Cern angeschlossen, das über ein jährliches Budget von 800 Millionen Euro verfügt, 3400 MitarbeiterInnen beschäftigt, auch Menschen mit handfesteren Arbeiten, Putzkräfte, Köche, Kassiererinnen. Dazu forschen mehr als 8000 Gastwissenschaftler und Stipendiatinnen aus 85 Nationen, die ein- und ausfliegen über den nur fünf Kilometer entfernten Genfer Flughafen Cointrin.
Äusserlich ist das Cern ein Gewirr aus 670 Gebäuden, verbunden über Strassen, die nach verstorbenen Grössen der Physik benannt sind: Route M. Curie, Route A. Einstein, Route M. Faraday. Es gibt vier Restaurants und drei Hotels, einen Hubschrauberlandeplatz für hohen Besuch, ein kleines Krankenhaus, eine Bank, einen Kindergarten, ein Reisebüro, eine Krankenversicherung und eine Post.
Von dieser aus hat Rolf Landua zu Beginn seiner Zeit am Cern, 1976, noch schmutzige Wäsche zu seiner Mutter nach Wiesbaden geschickt. Landua ist Fachmann für Antimaterie. Dem es, «mein schönster Moment am Cern», vor sieben Jahren gelang, als Leiter des «Athena-Experiments» mit einem Team von dreissig WissenschaftlerInnen ein Billiardstel Gramm Antimaterie herzustellen.
Materie vs. Antimaterie
Was genau Antimaterie ist? «Wenn sich, wie etwa beim Urknall geschehen, Energie in Masse verwandelt», sagt Landua, «entsteht mit jedem Teilchen gleichzeitig auch sein spiegelbildliches Teilchen mit entgegengesetzter elektrischer Ladung.» Leider sei die Antimaterie keine Freundin der Materie. «Materie und Antimaterie annihilieren sich gegenseitig.» Sie brächten einander um. Warum dann die Schlacht nicht dazu geführt hat, dass sie sich beim Urknall gegenseitig aufgehoben haben und nichts mehr übrig geblieben ist? «Das fragen wir uns auch. Es muss da eine Art Knacks gegeben haben. Einen Symmetriebruch.» Das könnte die Vorliebe der Natur für die Materie erklären. Und damit die Existenz unserer Welt.
Das Herzstück des Cern ist vor gut zwei Jahren, am 10. September 2008 um 10.28 Uhr, beobachtet von aller Welt in Betrieb genommen worden: der LHC, Large Hadron Collider, oder Teilchenbeschleuniger, der dem Cern, als willkommenes Nebenprodukt, einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde bescherte. Als grösstes und komplexestes Gerät, das die Menschheit je gebaut hat. Manche Reporter tauften sie «Gottesmaschine».
Das sei übertrieben, sagt Landua, «aber wir wollen uns damit», die rechte Handkante schneidet vor seinem Gesicht durch die Luft, «ganz nahe an den Urknall herandenken». Um so Schätzungen und Vermutungen darüber in Wissen zu verwandeln. Wozu? «Um zu wissen.» Über drei Milliarden Euro kostete das Wunderwerk menschlichen Schaffens. In einem 27 Kilometer langen Tunnel, der einen geschlossenen Ring bildet, 100 bis 150 Meter tief in der Erde unter dem Cern, verrichtet es seinen Dienst.
In der Mitte des Tunnels verlaufen zwei enge Röhren, sogenannte Strahlrohre. Durch sie werden Protonen geschossen: 300 Billionen davon durch die eine Röhre, links herum, 300 Billionen durch die andere, rechts herum. Die winzigen Teilchen, verantwortlich für den Grossteil des Atomkerns, werden beschleunigt auf 99,9999991 Prozent der Lichtgeschwindigkeit: 299 792 Kilometer pro Sekunde.
Wie ein Schwarm miniaturisierter Sardinen bilden sie dabei einen winzigen Strahl, dünner als ein menschliches Haar, der von gewaltigen Magneten – Spulen aus den hoch leitenden Metallen Niob und Titan – in den Röhren auf Kurs gehalten und durch ein elektrisches Wechselfeld beschleunigt wird.
Zur Kollision der Protonen, dem eigentlichen Experiment, kommt es dann an vier Stellen des Rings. Immer dort, wo sich der Tunnel zu Kavernen weitet, in denen sogenannte Detektoren stehen, 25 Meter hoch und 40 Meter lang, schwer wie der Eiffelturm jeder. Apparaturen, ausgestattet mit Millionen von Sensoren, verbunden über Zehntausende Kabel, die im Grunde funktionieren wie ein überdimensionaler Computertomograf.
Kurz bevor die Protonenstrahlen die Detektoren erreichen, werden sie von Magneten über Kreuz in die jeweils andere Röhre geleitet. In einem Winkel von nur 1,5 Grad. Fast frontal also. So kommt es zur Kollision. «Dadurch bekommen wir etwa 600 Millionen kollidierende Protonen in jeder Sekunde», sagt Landua mit weit geöffneten Augen.
Bei jedem Zusammenprall entstehe dabei zwar nur eine Kollisionsenergie, als ob zwei Mücken gegeneinanderflögen. Weil das aber auf solch winzigem Raum geschehe, entstünden Temperaturen, die um ein Vielfaches höher seien als im Inneren der Sonne. Es ist, sagt Landua, als ob man durch ein Schlüsselloch einer nur noch leicht abgeschwächten Version des Urknalls zuschaue.
Tropfende Rohre
Der Mensch, ohne die Technik, sei doch recht unvollkommen, sagt Landua. Die aber verlangt nicht nur viel Geld, sondern giert auch nach Strom. Das Cern benötigt davon genauso viel wie die benachbarte 185 000-Einwohner-Stadt Genf. Ein grenznahes französisches Atomkraftwerk produziert fast exklusiv zum Wohle der Teilchenphysik. «Umsonst ist der Tod», sagt Landua. Zumal Forschung an Grundlagen viele nützliche Nebenprodukte hervorgebracht habe.
Das wohl Bekannteste des Cern sei die Erfindung seines Kollegen Tim Berners-Lee gewesen, dessen Büro damals nur drei Zimmer weiter lag. Der 1990 an einem anderen grossen Cern-Projekt mitarbeitete und zur Vereinfachung der Kommunikation hierfür etwas erdachte, das er dann World Wide Web nannte. Sodass «www.cern.ch» zur ersten Internetadresse der Welt wurde. «Kaffee?»
Auf dem verschlungenen Weg zur grossen Kantine im Hauptgebäude läuft man über glänzenden, rissigen Kunststoffboden, rechts und links abblätternde Holztüren aus den sechziger Jahren, neben denen Schränke aus demselben Jahrzehnt stehen, Berge von Papier in jedem. Eine der Türen steht einen Spalt offen, und man sieht eine grüne Tafel, Kolonnen von Formeln darauf, ohne Richtung. Neben dem Schreibtisch liegt eine Matratze.
Es riecht modrig in den Gängen, und in einem Treppenhaus tropfen Heizungsrohre. «An der Oberfläche hat sich nichts geändert, seit ich hier bin», sagt Landua und lacht. «Wir können hier glaubhaft vermitteln, dass alles Geld nur in die Forschung fliesst.» Die Menschen, die einem entgegenkommen, grüssen freundlich und sind nachlässig gekleidet, dem Kern eher zugeneigt als der Hülle.
«Menu Proton» oder «Menu Neutron»?
Am frühen Nachmittag ist die Kantine halb besetzt, ein riesiger Raum, die Bestuhlung einfach wie auch die heutige Menüauswahl, die auf einer Tafel am Eingang steht: «Menu Neutron», Hacksteak, 8 Franken 40, «Menu Proton», Fisch des Tages, 9 Franken 90. Preiswert für hiesige Verhältnisse. Wobei das Cern auch nicht mit Spitzengehältern protzt. Seine fest angestellten ForscherInnen, die Weltelite ihres Fachs, verdienen zwischen 6000 und 10 000 Franken im Monat. Der «DG», der «Director General», 18 000.
Landua stellt seine Tasse auf die Untertasse, die fest auf dem Tisch steht. Wenn aber alles aus nicht mehr besteht als aus Atomen, die fast vollständig leerer Raum sind: Wie kommt es dann, dass die Dinge des Lebens kompakt sind, Halt haben? Dass die Tasse dort steht, wo sie steht? Und wie kommt es, dass man nicht durch Wände gehen kann?
Weil Elektronen, als Hülle um den Atomkern kreisend, versehen mit negativer elektrischer Ladung, sich gegenseitig abstiessen. Sich so nicht in die Quere kämen. Und das auch gar nicht wollten. «Elektronen sind im Grunde antisoziale Teilchen», sagt Landua. Deswegen würde kein Atom das andere durchdringen. Deswegen steht die Tasse auf dem Tisch. Deshalb, leider, im Fall eines Falles, tue auch eine Faust im Gesicht so weh.
Draussen senkt sich die Dämmerung über das Cern, der Tag neigt sich langsam seinem Ende zu. Ist tagtägliche Beschäftigung mit Zeitdimensionen nahe der Ewigkeit nicht beängstigend? «Nein», sagt Landua. «Nur relativierend.»
Eine schöne, vielleicht die schönste Erkenntnis der Physik sei, dass praktisch alle Teilchen, aus denen auch die Menschen bestehen, dieselben sind wie jene, die beim Urknall freigesetzt wurden. Alle also dasselbe Alter haben und schon so lange existieren wie das Universum. Es gebe zwar, habe Platon einmal gesagt, keine Grundstoffe, die nicht in Auflösung übergehen. Sodass die Tiere, Menschen, Pflanzen nur vergängliche Strukturen seien. Ihre Bestandteile jedoch, die Elementarteilchen, blieben ewig. «Das gibt einem doch ein gewisses Gefühl von Geborgenheit.»